Unter den Büchern, die sich noch oder wieder in meinem Besitz befinden, weil sie den Weg zu mir zurückgefunden haben, gibt es ein Buch, dass sich in einem bedauerlichen Zustand befindet. Es ist völlig abgegriffen, wenn man es aufschlägt, fallen einem lose Blätter entgegen. Ich habe dieses Buch nur ein einziges Mal verliehen und diese Tatsache an keinem der Tage vergessen, an denen es sich nicht in meinem Besitz befand. Manchmal, wenn ich etwas schreiben oder recherchieren will und mich Ohnmacht oder Ratlosigkeit überkommt, gehe ich zum Bücherregal und hole „Die goldene Horde“ von Nanni Balestrini und Primo Moroni hervor und lese darin.
Vielleicht, nein sogar sicherlich, hätte ich mein erstes Buch „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ ohne Nanni Balestrini nie geschrieben. Nicht dass ich über die sprachliche Brillanz oder gar die politische und analytische Tiefe von Nanni verfügt hätte. Und doch wollte ich mit meinen bescheidenen Mitteln dafür sorgen, dass nicht in Vergessenheit gerät, wer wir einmal waren, wie viele wir waren und wie es sich damals angefühlt hatte, als wir nach den Sternen griffen. Nanni besaß die Fähigkeit, einen teilnehmen zu lassen an der Unmittelbarkeit der Kämpfe. Er erzählte u.a. in „Wir wollen alles“ von der umfassenden Revolte der Jugend im Italien der 70iger, die nicht länger bereit war, ihr Leben sinnlos an einem Fließband des industrialisierten Nordens zu fristen, er ließ uns teilhaben an der Revolte der Stadtindianer und Frauen, die sich auch und gerade gegen all die leninistischen Parteien und Organisationen der radikalen italienischen Linken richtete.
Später dann folgte die Erzählung „Die Unsichtbaren“, ein Versuch, die Härte der Niederlage der 77iger Bewegung in Worte zu fassen. Nach der Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, dem damaligen Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten durch die Roten Brigaden, brach eine unglaubliche Repressionswelle über die radikale Linke herein, die damals hunderttausende von Anhänger hatte. Über 20.000 Menschen wurden inhaftiert, Tausende mussten ins Ausland fliehen, unter ihnen Nanni Balestrini.
Viele der Inhaftierten schworen im Knast ab, einige wurden auch zu Verrätern. Unter den Gefangenen herrschte eine unglaubliche Härte, Einige, die Aussagen gemacht oder abgeschworen hatten, wurden im Knast von den eigenen Leuten umgebracht. Von all dem, aber auch dem Versuch im Knast Mensch zu sein, von Solidarität und Revolte erzählte Nanni Balestrini wie kein anderer. Auch von der Leere und der Einsamkeit, die auf die Jahre der Revolte folgten, die sich hinter Gittern noch umso so trostloser und grausamer anfühlten.
Nanni Balestrini hat später einmal in einem Interview gesagt, er verstehe sich nicht mehr als politischer Aktivist, sondern als Schriftsteller und Chronist. Er experimentierte mit Sprache wie kaum ein anderer, in seinem 1992 auf Deutsch erschienenen Buch „Der Verleger“ verzichtete er konsequent auf Satzzeichen, spielte mit den Erwartungen an Grammatik und Satzbau. Nun wird er keine Erzählungen und Gedichte mehr veröffentlichen, wird keine Interviews mehr geben, wird auf keinen Veranstaltungen mehr auftreten, nicht mehr bei Kaffee und Wein mit Genoss*innen diskutieren und berichten.
Er hat uns allein gelassen mit all unseren gescheiterten Träumen und Hoffnungen. Aber er wird uns immer daran erinnern, dass wir glücklich waren, in jenen Jahren, als wir jeden Tag revoltierten, als wir Supermärkte geplündert haben und ohne Eintritt zu zahlen ins Kino gegangen sind. Als wir nicht wehrlos unseren Todfeinden gegenüberstanden. Er wird immer ein Teil von uns bleiben, weil diese Leerstelle, die er hinterlässt, nicht und niemals gefüllt werden kann. Ciao Nanni.
Erstveröffentlichung am 21. Mai 2019 auf untergrund blättle