„Wir wollen alles“ – Zum Tod von Nanni Balestrini

Es gibt Angelegenheiten, die sind so unmittelbar, so unvermeidlich, dass sie schon irreal scheinen. Noch am Sonntagnachmittag sass ich im Kreuzberger Mehringhof am Rande der Linken Buchtage mit meinen Verlegern von Bahoe Books zusammen und wir haben über Nanni Balestrini gesprochen. Ich hatte ihn gemeinsam mit einem Genossen angeschrieben, ob er sich vorstellen könne, einen Beitrag zu der Geschichte des antagonistischen Widerstandes in Italien für unseren geplanten Sammelband zu schreiben. Er hatte zu meiner Überraschung geantwortet, dass er sich das gut vorstellen könne, es ihm aber zurzeit gesundheitlich nicht so gut gehe.
Ich wusste darum, dass er angeschlagen war, hatte nicht einmal damit gerechnet, dass er uns überhaupt antworten würde. Die vage Vorstellung, einen Beitrag von Nanni in unserem Buchprojekt veröffentlichen zu dürfen, trieb mir schon die Tränen in die Augen. Heute Vormittag, nur einige Stunden nach dem Gespräch im schattigen Innenhof in Kreuzberg, erreichte mich dann die Nachricht, dass Nanni gestorben ist.
Ich habe in meinem Leben nicht besonders viele Bücher besessen. Mir schien es immer unnötiger Ballast, die vielen Bücher, die ich gelesen habe, fein säuberlich aufgereiht in Regalen in meinen Wohnungen zu stapeln. Viele der Bücher, die ich mir dann doch gekauft habe, befinden sich nicht mehr in meinem Besitz. Ich habe sie irgendwann verliehen, ganz vergessen, dass ich sei einmal besessen habe. Bei dem einem oder anderen Buch fällt mir das Fehlen dann nach Jahren auf, weil ich mich an etwas erinnere und das Buch dann vergeblich in meinem Bücherregal suche. Im Allgemeinen ist es dann aber ganz in Ordnung, wenn ich es nicht finde, weil ich davon ausgehe, dass es jemanden anderes dienlich ist.
 

Unter den Büchern, die sich noch oder wieder in meinem Besitz befinden, weil sie den Weg zu mir zurückgefunden haben, gibt es ein Buch, dass sich in einem bedauerlichen Zustand befindet. Es ist völlig abgegriffen, wenn man es aufschlägt, fallen einem lose Blätter entgegen. Ich habe dieses Buch nur ein einziges Mal verliehen und diese Tatsache an keinem der Tage vergessen, an denen es sich nicht in meinem Besitz befand. Manchmal, wenn ich etwas schreiben oder recherchieren will und mich Ohnmacht oder Ratlosigkeit überkommt, gehe ich zum Bücherregal und hole „Die goldene Horde“ von Nanni Balestrini und Primo Moroni hervor und lese darin.

Vielleicht, nein sogar sicherlich, hätte ich mein erstes Buch „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ ohne Nanni Balestrini nie geschrieben. Nicht dass ich über die sprachliche Brillanz oder gar die politische und analytische Tiefe von Nanni verfügt hätte. Und doch wollte ich mit meinen bescheidenen Mitteln dafür sorgen, dass nicht in Vergessenheit gerät, wer wir einmal waren, wie viele wir waren und wie es sich damals angefühlt hatte, als wir nach den Sternen griffen. Nanni besaß die Fähigkeit, einen teilnehmen zu lassen an der Unmittelbarkeit der Kämpfe. Er erzählte u.a. in „Wir wollen alles“ von der umfassenden Revolte der Jugend im Italien der 70iger, die nicht länger bereit war, ihr Leben sinnlos an einem Fließband des industrialisierten Nordens zu fristen, er ließ uns teilhaben an der Revolte der Stadtindianer und Frauen, die sich auch und gerade gegen all die leninistischen Parteien und Organisationen der radikalen italienischen Linken richtete.

Später dann folgte die Erzählung „Die Unsichtbaren“, ein Versuch, die Härte der Niederlage der 77iger Bewegung in Worte zu fassen. Nach der Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, dem damaligen Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten durch die Roten Brigaden, brach eine unglaubliche Repressionswelle über die radikale Linke herein, die damals hunderttausende von Anhänger hatte. Über 20.000 Menschen wurden inhaftiert, Tausende mussten ins Ausland fliehen, unter ihnen Nanni Balestrini.

Viele der Inhaftierten schworen im Knast ab, einige wurden auch zu Verrätern. Unter den Gefangenen herrschte eine unglaubliche Härte, Einige, die Aussagen gemacht oder abgeschworen hatten, wurden im Knast von den eigenen Leuten umgebracht. Von all dem, aber auch dem Versuch im Knast Mensch zu sein, von Solidarität und Revolte erzählte Nanni Balestrini wie kein anderer. Auch von der Leere und der Einsamkeit, die auf die Jahre der Revolte folgten, die sich hinter Gittern noch umso so trostloser und grausamer anfühlten.

Nanni Balestrini hat später einmal in einem Interview gesagt, er verstehe sich nicht mehr als politischer Aktivist, sondern als Schriftsteller und Chronist. Er experimentierte mit Sprache wie kaum ein anderer, in seinem 1992 auf Deutsch erschienenen Buch „Der Verleger“ verzichtete er konsequent auf Satzzeichen, spielte mit den Erwartungen an Grammatik und Satzbau. Nun wird er keine Erzählungen und Gedichte mehr veröffentlichen, wird keine Interviews mehr geben, wird auf keinen Veranstaltungen mehr auftreten, nicht mehr bei Kaffee und Wein mit Genoss*innen diskutieren und berichten.

Er hat uns allein gelassen mit all unseren gescheiterten Träumen und Hoffnungen. Aber er wird uns immer daran erinnern, dass wir glücklich waren, in jenen Jahren, als wir jeden Tag revoltierten, als wir Supermärkte geplündert haben und ohne Eintritt zu zahlen ins Kino gegangen sind. Als wir nicht wehrlos unseren Todfeinden gegenüberstanden. Er wird immer ein Teil von uns bleiben, weil diese Leerstelle, die er hinterlässt, nicht und niemals gefüllt werden kann. Ciao Nanni.

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 21. Mai 2019 auf untergrund blättle

Another Lovesong

Christian Geissler hat es sich und seinen Lesern nie leicht gemacht. Davon kündet nicht zuletzt der Versuch, in seinem Roman kamalatta einen Bogen zu spannen von den Kämpfen der arbeitenden Klasse, von der Widerstandslinie gegen den Nationalsozialismus hin zum bewaffneten Aufbruch im postfaschistischen Deutschland.
Seine Haltung war dabei ebenso kompromisslos fordernd an sich selbst und an uns wie sein Ringen um eine Sprache, die der scheinbaren Anmaßung unseren Feinden bewaffnet gegenüber zu treten, gerecht wird.
kamalatta liest sich nicht leicht weg, darf sich nicht leicht weg lesen, weil es mehr war als eine biografische Fußnote aus sicherer Distanz. Der Stoff war eine Intervention, der Versuch eines alten Kommunisten eine Brücke zwischen den Widerstandsgenerationen zu schlagen.
Veröffentlicht Ende der 80er arbeitet sich das Buch entlang des von der RAF 1982 vorgelegten Grundsatzpapiers „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ an der Frage ab, wie all Jene, die es wirklich ernst mein(t)en mit ihren Versuchen dieses System aus den Angeln zu heben, zusammen kommen und ihre Kämpfe gemeinsam bestimmen können.
Aus heutiger Sicht mögen viele der damals vertretenden Sichtweisen und ideologischen Versatzstücke befremden oder sogar abstoßen. Seien dies die Anleihen im Fundus der Leninismus oder Maoismus, seien es die Fixierung auf die „US-Staatenkette“, die Ungenauigkeiten in der Differenzierung zwischen Antiimperialismus und Antiamerikanismus. Wie so vieles kann und muss genau Jenes aber im konkreten historischen Kontext und politischen Diskurs verstanden und beurteilt werden, um den Protagonist*innen jener antagonistischen Organisierungsansätze gerecht werden zu können.
Doch im Grunde genommen handelt kamalatta gar nicht davon. Christian Geissler nähert sich der Fragestellung des bewaffneten Antagonismus aus der Haltung heraus an, wie aus dem Bemühen, all Jenen beizustehen, die bedrängt und in Not sind, mehr als eine appellative Handlung folgen kann. Und trägt in sich, als Nebenstrang und Subtext aus dem Wissen der Lektüre der beiden zuvor erschienenen Werke ‚Das Brot mit der Feile‘ und ‚Wird Zeit das wir leben‘, die Erinnerung daran, dass jegliche ernst zunehmende Opposition zu den bestehenden Verhältnissen letztendlich sich gemein machen muss mit Jenen, die allzeit ausgebeutet und geknechtet, nach Wegen der Rebellion suchen.Die Gründer*innen der RAF wussten im Übrigen am Anfang genau darum. Einige, die zum ersten Kern der Stadtguerilla zählten, hatten zuvor im Märkischen Viertel, einem Neubauquartier in Berlin, gemeinsame Sache mit den dortigen Mieter*innen gemacht, die erste Hausbesetzung in Berlin fand dann auch folgerichtig genau dort statt , andere hatten sich der Arbeit mit Jugendlichen auf Trebe verschrieben.
Was Christian Geissler in Bezug auf kamalatta als einziges vorzuhalten wäre, ist das diese Intervention zu spät kam. Zwar hatte er seit den 70er wiederholt Gefangene aus dem bewaffneten Kampf besucht und mit ihnen die politische Diskussion gesucht und sich gegen die Haftbedingungen der Genoss*innen engagiert. Doch jenes kurze Zeitfenster, in dem es sowohl von Seiten der neuen sozialen Bewegungen wie z.B. der Hausbesetzerbewegung in Westberlin als auch von Seiten der RAF und den antiimperialistischen Gruppen einen offenen Prozess der Diskussion um die Möglichkeiten eines realen Zusammenkommens gegeben hatte, war Ende der 80iger schon lange Geschichte.

Doch genauso wie die RAF sich immer weiter von ihrem ursprünglichen Anspruch, bewaffnete Fraktion im Klassenkampf zu sein, entfernte, so sehr fiel auch die „soziale Frage“ in den Wurmfortsetzungen „der Bewegung“ hinten runter, verlor sie ihre Anziehungskraft für jugendliche, proletarische Rebell*innen, verkam sie zur identitären, selbstreferenziellen Szeneblase.

Wenn also dieser Tage der ‚Verbrecherverlag‘ eine Neuauflage von Christian Geisslers kamalatta veröffentlicht, mag dies eine Gelegenheit sein, die Fäden der ursprünglichen Diskussion wieder aufzunehmen. Gerade die aktuellen Entwicklungen, das Erstarken einer völkischen Rechten, die Bündnispartner bis hinein in den Staatsapparat aufzuweisen hat, die weitgehende Ohnmacht linksradikaler und antifaschistischer Akteure, setzt die Fragestellung nach der Organisierung von ‚Gegenmacht‘ notwendigerweise auf die Tagesordnung. Das diese nur in Zusammenhang mit „der sozialen Frage“ gedacht werden kann, will sie sich nicht in einer nicht ernstzunehmenden Postulierung erschöpfen, ergibt sich aus sich selbst heraus.

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 5. November 2018 auf untergrund blättle

Alèssi Dell’Umbria: Wut und Revolte

Wenn in diesen tristen politischen Zeiten die Frage die Runde macht, wo denn die Situation ein wenig weniger trist sein könnte, fällt der Blick unwillkürlich über den Rhein.

Dass die Situation für eine radikale Linke dort nicht ganz so desperat erscheinen mag, ist u.a. auch dem Umstand geschuldet, dass dort im Gegensatz zu hier die Figur des Intellektuellen, der dem antagonistischen Spektrum zuzurechnen ist, noch nicht gänzlich ausgestorben erscheint.
Zu ihnen gehört ohne Zweifel auch Aléssi Dell’Umbria, dessen Texte und Bücher bisher praktisch nicht auf Deutsch erschienen sind. Dem kleinen Verlag Edition Contra-Bass gebührt die Ehre, hier endlich Abhilfe geschaffen zu haben. Er veröffentlichte jüngst „Wut und Revolte“, eine überarbeitete Fassung eines Essays, das Aléssi Dell’Umbria unmittelbar nach den landesweiten Unruhen in den französischen Vorstädten im Herbst 2005 verfasste.Gleich zu Anfang seiner Ausführungen stellt Dell’Umbria sympathischerweise sowohl seinen Sprechort („Zu behaupten, die Intensität der erlebten Situation wiederzugeben, ohne sie direkt empfunden zu haben, wäre ein Betrug gewesen, wie ihn die ‚radikale‘ Literatur gewohnt ist“) als auch seine grundsätzliche Komplizenschaft („Doch der Schreibende weiss auch, dass er sie in anderen Zeiten und an anderen Orten empfand“) mit den rebellischen Jugendlichen klar.

Im Weiteren spannt Dell’Umbria den historischen Bogen von den Rockern, die sich im Mai 1968 aus den Vorstädten zu den revoltierenden Student*innen gesellten, zu den extralegalen Hinrichtungen durch den Repressionsapparat, die in 80igern begannen und deren Opfer ausnahmslos Bewohner*innen der Banlieues waren. Und die nur in einigen wenigen Fällen zu späteren Verurteilungen der beteiligten Polizisten, meist zu lächerlichen Bewährungsstrafen, führten. Vor allem aber zeigt er gegen alle gängigen Klischees den sozialen Gehalt der Revolte im Herbst 2005 auf, die sich nicht notwendigerweise emanzipatorisch gebärdete, sondern auch in allen Schattenseiten die Brutalität der Verhältnisse widerspiegelte.

Schon in der Bezeichnung des Ortes, den diese Revoltierenden bewohnen, der Banlieue, ist der Bann, die Verbannung aus den Innenstädten sprachlich eingeschrieben. Folglich blieb und bleibt den Jugendlichen gar kein anderer Ort der Revolte, der demonstrativen Aktion, da ihnen der Zugang in die Innenstädte weitgehend versperrt bleibt. (Nicht umsonst wurde in Paris während des Finales der Fussball WM 2018 der gesamten ÖPNV von den Vorstädten in die Innenstadt eingestellt. Trotzdem fanden sich noch genügend Jugendliche ein, die mitten auf den Champs-Élysées einen veritablen Riot veranstalteten.)

Da die Stärke der Revoltierenden im Allgemeinen nicht ausreichend war und ist, um sich in eine direkte Konfrontation mit dem hochgerüsteten Repressionsapparat zu begeben, beschränken sich ihre Aktionen meistens auf Hinterhalte, Zerstörungen von öffentlichen Institutionen (einschliesslich von Schulen und Kindergärten), sowie der Inbrandsetzung der Autos ihrer Nachbarn. Aber auch dieser Seite der Agonie dieser Revolte wohnt eine Entwicklung inne, die Dell’Umbria dankenswerterweise nachzeichnet.

Noch während der ersten Welle der Revolten der Vorstädte 1981, war es z.B. in Lyon Usus, sich in die Innenstädte zu begeben, um dort Luxusschlitten zu „erbeuten“, die dann feierlich auf „eigenem“ Terrain in Brand gesetzt wurden. Im eigenen Viertel wurden nur die Fahrzeuge Jener abgefackelt, die als Rassisten oder Denunzianten bekannt waren. Doch jene erste Generation, die vielleicht über „mehr“ (oder ein anderes) politisches Bewusstsein verfügte, wurde in den Folgejahren zwischen in die Viertel gepumpten Drogen und paternalistischen Übernahmeaktionen durch etablierte linke und humanistische Organisationen aufgerieben.

Vielleicht war auch jene Revolte von 2005 der Ausgangspunkt für eine Tendenz zum nihilistischen Aufstand der Prekären, die im Wissen um ihre eigentliche Situation keine Forderungen mehr stellen, über keine Visionen mehr verfügen jenseits der Leidenschaft sich als Subjekte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wieder sichtbar zu machen. Nicht umsonst bezogen sich z.B. Teile der jungen albanischen Community, die sich an den wochenlangen Unruhen 2008 in Griechenland nach dem Tod von Alexis Grigoropoulos beteiligten, positiv auf die Unruhen von 2005 in Frankreich.

Die Aktualität Dell’Umbrias „Wut und Revolte“ schien nicht zuletzt erst vor wenigen Tagen auf, als in Schweden in einer konzertierten Aktion öffentlichkeitswirksam zeitgleich in mehreren Grossstädten aberdutzende von Autos in Brand gesetzt wurden. Eine antagonistischen Linke, der Marxsches „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ ein ernstzunehmendes Anliegen bleiben soll, wird nicht umhinkommen, sich mit dem Wesensgehalt jener „Revolten der Vorstädte“ auseinanderzusetzen. Das Studium der empathischen Ausführungen von Alèssi Dell’Umbria wäre dabei hilfreich, den Protagonist*innen dieser Aktionen auf Augenhöhe zu begegnen.

Sebastian Lotzer

Alèssi Dell’Umbria: Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten, ca. 17.00 SFr  ISBN 978-3943446296

 

Sebastian Lotzer
Erstveröffentlichung am 11. September 2018

 

 

G20 Hamburg – Fragmentarische Anmerkungen zu Repression, Autonome und Atomisierung

Der Knast ist ein einsamer Ort. Aber auch ein Ort, an dem es möglich ist, neue Verbindungen einzugehen, dem Allzubekannten neue Erfahrungen hinzuzufügen. Verschwörungen aus der Taufe zu heben, sich existentiell ins Verhältnis zum Bestehenden zu setzen. Für manch einen, der anpolitisiert in jungen Jahren Bekanntschaft mit diesem Ort der Reglementierung machte, wohnte in der Folge diesem Ort kein existenzieller Schrecken mehr inne, griff der Abschreckungsgedanke des Systems künftig ins Leere.

In früheren Jahren war es für die jeweilige Generation der Bewegungszyklen ein selbstverständlich einkalkuliertes Risiko eine (im zumindestens überschaubaren zeitlichen Rahmen) gewisse Zeit der Inhaftierung einzukalkulieren. Fast Jeder und Jede hatte irgendwelche Verfahren zu laufen, die Gerichtssäle waren Orten der permanenten Agitation und Versammlung. Kaum ein Prozess, bei dem nicht der Saal (gegen handfesten Widerstand) durch im Gericht stationierten Bereitschaftsbullen geräumt wurde. Jede Stadt hatte ihre Knastgruppe, in den Großstädten gab es davon gleich mindestens ein halbes Dutzend.

Wenn nun dieser Tage in Hamburg des „Jahrestages“ der Aktionen gegen den G20 Gipfel mit diversen Aktionen und Veranstaltungen „gedacht“ wird (1), steht u.a. neben dem obligatorischen „Rave“ auch ein neudeutsch „Cornern“ genannte Herumhängen mit Bier/Mate an. Zum Ausklang dieser Tage wird es dann auch eine Knastkundgebung geben. Was das Zahlenverhältnis der jeweiligen Beteiligungen betrifft, so ist wohl mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass der Besuch der Knastkundgebung im Vergleich eher bescheiden ausfallen wird. An den bisherigen allmonatlichen Knastkundgebungen seit #noG20 nahmen im Allgemeinen ein paar Dutzend bis um die hundert Leute teil. Als zu einem internationalen Treffen Freund*innen, Familienangehörige und Gefährt*innen der inhaftierten Internationalisten aus halb Europa anreiste, gelang es einmalig um die dreihundert Leute vor die Knastmauern – bzw. Zäune zu mobilisieren.  „G20 Hamburg – Fragmentarische Anmerkungen zu Repression, Autonome und Atomisierung“ weiterlesen

Schanzenblues

Am Ende wurde aufgeräumt und geputzt. Wie immer in Deutschland. Die Bürger und Bürgerinnen kamen aus der Stadt und den noblen Vororten, beseitigten die Trümmer, kehrten die Gehwege. Die Ordnung war wiederhergestellt. Doch nicht nur den Bürgern und Bürgerinnen war ihre Ordnung verloren gegangen. Auch Teile des über Jahrzehnte gewachsenen außerparlamentarischen Netzwerkes in Hamburg echauffierten sich über die Geschehnisse im Schanzenviertel während des G20-Gipfels in Hamburg. Vorzeigefiguren und selbsternannte Sprecher der »Politszene« sonderten empörte und die »Krawallmacher« diffamierende Sprechblasen in die gierig hingestreckten Mikrophone der Massenmedien ab. In der Zuspitzung war sogar von »Ausländern, über die man keine Kontrolle habe« die Rede. Letztendlich blieb es einem Gastwirt aus der Schanze überlassen, dessen Eltern vor der Pinochet-Diktatur geflohen waren, das wilde Treiben des siebten Juli im Schanzenviertel in einen angemessenen soziologischen und politischen Kontext zu rücken. 

Alle Protagonisten und Protagonistinnen eint das Trauma des Kontrollverlustes. 

Der hochgerüstete Sicherheitsapparat, der den reibungslosen Ablauf der G20-Tagung inmitten der Millionenstadt garantieren sollte, hatte es trotz über 30.000 eingesetzten Bullen nicht geschafft, die Ordnung komplett aufrechtzuerhalten. Es fing schon mit der von vornherein geplanten Zerschlagung der autonomen »Welcome to Hell«-Demo an. Die einsatztaktische Vorgabe, den Frontblock vom Rest der Demo abzutrennen, konnte trotz eines für den Repressionsapparat günstigen Terrains nicht erfolgreich umgesetzt werden. Während Teile des Frontblockes dem massiven Angriff der Bullen passiv untergehakt Widerstand entgegensetzten, erklommen Hunderte einfach die Flutschutzmauer und wurden dabei von den über ihnen befindlichen Menschen unterstützt, die ihnen die Hände entgegen reichten bzw. die immer wieder anrennenden Bulleneinheiten mit Steinen, Flaschen und Pyrotechnik eindeckten. So beschränkten sich die Bullen schließlich darauf, aberdutzende Menschen einfach niederzuknüppeln, später ging die Hetzjagd mit Wasserwerfer-Unterstützung quer über den Fischmarkt weiter. Als sich im Anschluss an die Räumung des Fischmarkts um die 10.000 Menschen zu einer Spontandemo formierten, kam es am Rande dieses Aufzuges zu direkten Aktionen und Angriffen auf die Bullen. Auch im weiteren Stadtgebiet kam es zu militanten Aktionen. So wurde in Hamburg-Horn ein Bullenrevier angegriffen, das Wohnhaus des Innensenators bekam ungebetenen Besuch und das Amtsgericht Altona büßte Scheiben ein, um nur ein paar Beispiele zu nennen.  „Schanzenblues“ weiterlesen