Winter des Grauens

Keine letzte Runde, kein bierschaumfeuchter Männerkuss nach Mitternacht. Kein Blick in alte müde Augen, in denen hinter all den nicht geweinten Tränen noch immer so etwas wie Sehnsucht aufblitzt, das Bedürfnis nach etwas, was den Namen Leben verdient, vielleicht sogar noch einmal Liebe. Keine trunken geteilten Schwüre, dass da noch was kommen muss. Keine trotzige Anekdote, keine Zärtlichkeit, die sich so manches Mal in fast hilflosen, kindlichen Gesten ausdrückt. Nicht einmal ein Tresen an dem man sich festhalten kann. Nur die kalte, nackte Stadt, das verordnete Überleben, der Suizid als letzte Handlungsoption der Rebellion.

Wo das Leben scheinbar alles wert ist, verliert es jeden Wert. Jeder fällt für sich ins weiß, schon vor Jahrzehnten aufgeschrieben verleiht der Pandemie Ausnahmezustand der Knastgesellschaft Kontur und Ausdruck, die ganze Stadt ein Hochsicherheitstrakt, überall Gefährder und Gefährdete, die Übergänge sind undefiniert und fließend, jeder kann alles sein, die Massenneurose der Postmoderne gebärt im Panikmodus ihre Massenpsychose und wie in jedem psychotischen Zustand ist die paranoide Seele Argumenten und Relativierungen nicht mehr zugänglich. Alles dreht sich, Schwindel dominiert, es kommen die schlaflosen Nächte, die Abstumpfung, das Primat der sich selbst unterfütternen Statistik. Funktionalität muss gewahrt werden, Tunnelblick, Regression, jemand muss uns retten, wir geben alles dafür. Alles was wir waren oder meinten zu sein. So einfach geht das. „Winter des Grauens“ weiterlesen

Sternenstaub

Die Leute haben ihre Sterne, für jeden sind sie anders. Für manch Reisenden sind die Sterne Führer. Für andere sind sie nichts anderes als kleine Lichter. Und wieder andere, für die Gelehrten, sind sie Probleme. Für meinen Geschäftsmann waren sie Gold. Aber alle diese Sterne schweigen. Du aber, du wirst Sterne haben wie niemand anderes …

Der kleine Prinz – Antoine de Saint-Exupéry

Sich fügen, sich beherrschen, unkenntlich werden, nicht aus klandestiner Absicht, sondern in Verleugnung. Kein Lächeln. Nirgendwo. Wer aber hat all die Menschen gezählt, denen ein unverhofftes Lächeln die Kraft gegeben hat, diesen Tag, nur diesen einen Tag noch weiterzuleben, den Strick beiseite zu legen, die Schlaftabletten in der Toilette herunter zu spülen. Wer zählt die Kinder, die in den Dörfern Afrikas an banalsten Krankheiten sterben, während hier die Virenbeherrschungsmaschine mit Milliarden gefüttert die neurotische Angst zu bannen verspricht. Wer zählt die Toten, die, bevor sie sich zu den Toten gelegt haben, einsam und verlassen in den Betten der Pflegeheime darbten, keine Hand zu halten, kein zärtlicher Finger, der die Tränen aus den Augenwinkeln wischt, keine letzten Worte des Abschieds, keine Versöhnung mit den Altlasten, die ein jeder von uns mit sich selbst herum schleppt. Nicht einmal der Pfarrer fand den Weg. Da war nur diese Kälte, die fast immer zum Schluß da ist und niemand reichte eine zweite Decke, kein warmer Körper, der noch einmal mit all der Liebe zu der nur ein Herz fähig ist, Trost spendete. Nur der Übergang, dieser Ort wo die Farben verschwinden, alles zurücktritt, man nur noch Erinnerung ist. Allein ins weiß geworfen. Verbuddelt wie ein Hund, die Kapelle auf dem Friedhof zugesperrt, keine Klagelieder, keine Reden, keine Würde. Wo es nur noch um das nackte Überleben geht, verliert selbst der Tod seinen Sinn. „Sternenstaub“ weiterlesen