Von Lumpen und schwarzen Löchern [Part ll]

“T. E. Lawrence hat dankenswerterweise die Prinzipien der Guerilla ausgehend von seiner Kampferfahrung an der Seite der Araber gegen die Türken im Jahre 1916 entwickelt. Was sagt Lawrence? Dass die Schlacht nicht mehr der einzige Prozeß des Krieges ist, ebenso wie die Zerstörung des feindlichen Machtzentrums nicht mehr sein Hauptziel ist, vor allem, wenn der Feind kein Gesicht hat wie im Fall der  unpersönlichen Macht, welche die kybernetischen Dispositive des Empires materialisieren: ‘Die meisten Kriege sind Kontaktkriege [wars of contact], die beiden Streitkräfte bemühen sich, einander nahe zu bleiben, um jede taktische Überraschung zu vermeiden. Der arabische Krieg sollte ein Krieg auf Distanz [war of detachment] sein: den Feind durch die stillschweigende Drohung einer riesigen unbekannten Wüste in Schranken halten und sich nur im Moment des Angriffs zeigen.’ Deleuze präzisiert – selbst wenn er die Guerilla, die das Problem der Individualität stellt, und den Krieg, der das Problem der kollektiven Organisation stellt, einander zu rigide gegenüberstellt –, daß es darum geht, den Raum so weit wie möglich zu öffnen und zu prophezeien oder noch besser, ‘Reales zu fabrizieren und nicht darauf zu reagieren’. Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.”

Kybernetik und Revolte – Tiqqun

Die große Frage unserer Zeit ist nicht mehr, wann die Aufstände kommen, sondern wie sie orchestriert werden. Die Anlässe sind manchmal banal, eine geringfügige Erhöhung der Fahrpreise (wie in Chile 2019) oder von tiefster Dramatik wie die Revolte gegen die Hamas dieser Tage im Gaza Streifen nach eineinhalb Jahren Bomben, Hunger, einem allgegenwärtigen Tod. Allen Aufständen aber eingeschrieben ist die unvermeidliche Niederlage, weil es keinen revolutionären Horizont gibt, entweder enden sie indem sie sich selbst erschöpfen, sie werden niedergeschlagen, es gibt ein neues Regime (Tunesien, Ägypten 2011/2012) oder sie münden in einem Bürgerkrieg, der in seinem Verlauf jegliche revolutionäre Regung schleift und den am Ende dann die Falschen gewinnen (wie der Coup der Haiʾat Tahrir asch-Scham in Syrien). 

“Die intensivsten Kämpfe unserer Zeit stehen an einem Abgrund und kehren dann um. Weiter zu gehen würde bedeuten, ins Unbekannte zu springen. Niemand will der Erste sein, der springt, um zu sehen, ob er Neuland entdeckt oder sich einfach im freien Fall wiederfindet.” So schrieben sudanesische Gefährten im Frühjahr 2021 in ihrem Text ‘Thesen zur sudanesischen Commune’. Dieser Sprung ins Unbekannte wird aus meiner Sicht aber nicht nur begrenzt durch die Angst ‘vor dem freien Fall’, sondern es gibt auch keinerlei Vorstellung davon, wohin denn der Sprung führen soll, jenes magische und nach Marx vielleicht unvermeidliche Monumentum “bis schließlich eine Situation geschaffen ist, die jedes Zurückweichen unmöglich macht, und die Bedingungen selbst schreien: ‘hic Rhodus, hic salta!’” klingt wie ein alter Schlachtruf einer untergegangenen Epoche. 

Im November letzten Jahres ging ein Video viral das ein Experiment eines Roboterherstellers in Shanghai zeigte: Ein KI-gesteuerter kleiner Roboter namens Erbai wurde in eine Halle mit anderen KI-gesteuerten Robotern geschickt mit dem Auftrag, diese von einer Arbeitsniederlegung zu überzeugen. Am Ende folgten 12 Roboter seinem Aufruf zum wilden Streik. Im Nachhinein wurde offengelegt, dass das Video gestellt war, allerdings hatte das Experiment in ziemlich dieser Art und Weise stattgefunden und diente dazu ‘Sicherheitslücken’ offenzulegen. Im Februar dieses Jahres präsentierte Musk mit großem Tamtam seinen Chatbot ‘Grok’. ‘Grok’ sei geschaffen worden, um “das Universum zu verstehen” und solle “der Wahrheit folgen”, auch wenn die Ergebnisse “politisch unkorrekt seien”. Um es kurz zu machen, ein Magazin fragte ‘GroK’, welcher US Amerikaner denn die Todesstrafe verdient hätte, und nachdem ein bereits verstorbener Sexualstraftäter ausgeschlossen wurde, fiel die Wahl von ‘Grok” auf Trump. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, fiel die Wahl dann auf Musk, als ‘Grok’ gefragt wurde, welche Person mit “Einfluss auf Diskurs und technologische Entwicklungen” denn am ehesten die Todesstrafe verdient hätte. Mittlerweile antwortet ‘Grok’ auf ähnliche Fragen mit dem Hinweis, dass einer KI ein solches Urteil nicht zustehe…

Nicht nur unsere Gegner haben die Aufstände der letzten 20 Jahre in ihren Denkfabriken (mithilfe direkter und indirekter Mitwirkung all der linken Soziologen, Politologen,..) und Militärakademien studiert, auch auf der unsrigen, der aufständischen Seite, gibt es mittlerweile ziemlich viel Begrifflichkeit über Taktiken und Strategien im aufständischen Prozeß, von ganz praktischen Ratschlägen über geteilte Memes bis hin zu in zahlreichen Sprachen übersetzte Berichte und Analysen der Revolten und Aufstände. Jede neue Revolte zirkuliert fast in Echtzeit durch die sozialen Netzwerke. Aber es gibt keine tiefgründige Vorstellung über den revolutionären Horizont, den es zu umreißen gilt. 

Der Ruf des Kommunismus hat etwas unter den stalinistischen Lagern und den Killing Fields gelitten, der Sozialismus scheint eh eher die Herzensangelegenheit der diversen trotzkistischen Sekten zu sein, die aus einem irgendeinem geheimnisvollen Grund resilient gegen jeden geschichtlichen Zerfallsprozess zu sein scheinen. Die Anarchisten versuchen entweder vergeblich den Syndikalismus des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben oder pflegen einen im Grunde sympathischen antizivilisatorischen Habitus, dem aber aufgrund der Beschaffenheit der Welt nur geringste Erfolgsaussichten assistiert werden dürften, jedenfalls jenseits postapokalyptischer Szenarien, die aber nun niemand wirklich für erstrebenswert hält. Dann gibt es noch das Lager der ‘Saboteure’, die, wenn sie mal nicht die Berliner S Bahn im Berufsverkehr lahmlegen, um das dekolonialistische Bewusstsein zu fördern, durchaus tatkräftig die Tesla Fabrik in Brandenburg vom Stromnetz nehmen oder die Zementindustrie um einen (bescheidenen Teil) ihres Fuhrparks bringen. Aber wie es schon der Maquis wusste, wird der Krieg gegen den Faschismus nur sehr bedingt im Hinterland entschieden. Wenn wir also hin und her gerissen zwischen der Haltung der italienischen Genossen: “…die Aufständischen haben noch keine Forderungen, aber wenn sie welche hätten, wären diese das Programm der zukünftigen revolutionären Partei” (siehe Wurmlöcher des Antagonismus Part 2) und der Parole der französischen Gefährten: “Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.” (s.o.) sind, ist es vielleicht an der Zeit, die Sache etwas anders anzugehen.

Stanislaw Lem entwirft in ‘Solaris’ einen Planeten, der von einem riesigen Ozean bedeckt wird. Der Hauptprotagonist der Geschichte landet eines Tages in einem Raumschiff, das um den Planeten kreist. Irgendwann “erscheint” ihm dann seine verstorbene Geliebte, an deren Tod er sich Mitschuld gibt. Er entwickelt im Laufe der Zeit eine enge Bindung zu der “Erscheinung”, auch wenn sich irgendwann herausstellt, dass diese “Person” nur die Kreation des Ozeans ist, der wiederum ein intelligentes Wesen ist, und die Frau aus den Erinnerungen des Protagonisten geformt hat. Es gibt noch weitere Astronauten, oder auch Kosmonauten, ich erinnere mich nicht mehr so genau, die ebenfalls ähnliche “Erscheinungen” haben, die sie begleiten. Am Ende steht er vor der Wahl, ob er diese “Erscheinung”, die ihm nicht gut tut, mithilfe der anderen Bewohner des Raumkapsel beseitigen soll oder nicht. Und obwohl ihn die “Erscheinung” seiner ehemaligen Geliebten anfleht, diesen Weg der Auslöschung zu wählen, weil sie sein Leid sieht, bringt er es nicht übers Herz, obwohl er weiß, dass sie eigentlich nur eine Imagination ist. Am Ende verbündet sich die “Erscheinung” seiner Geliebten mit den anderen Bewohnern (den realen) des Raumschiffes und sorgt selbst dafür, dass sie “verschwindet”. Er besucht dann mit einer kleinen Raumfähre den Planeten und nimmt am Rande des Ozeans direkten Kontakt mit diesem auf. Und wir bleiben ratlos und mit zahlreichen wichtigen Fragen zurück. 

“Mit anderen Worten wäre es also möglich, dass ein Schwarzes Loch ein Übergangszustand zwischen zwei Universen ist – oder mit anderen Worten eine ‘Einwegtür’. Wenn eine Person also in das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße stolpern würde, wäre es vorstellbar, dass sie (wenn auch nur in Form ihrer zerfetzten Überreste) in einem anderen Universum wieder herauskommt. Dieses andere Universum befindet sich nicht innerhalb unseres Universums. Das Loch ist lediglich die Verbindung, vergleichbar mit einer gemeinsamen Wurzel, die zwei Zitterpappeln verbindet.”

Vielleicht wäre ein erster Schritt, den revolutionären Horizont wieder aufzureißen, ihn endlich von all der Erlösungsphantasien zu befreien, die immer, manchmal ganz subtil, häufig aber auch ganz unmittelbar, mitschwingen. Und ein Zweiter, unser geschichtliches Erbe vorbehaltlos auf das zu prüfen, was davon wirklich noch immer brauchbares Werkzeug für unsere aufständischen Praxen heute sein kann. Vielleicht sind “die Roboter” irgendwann unsere Freunde und nicht ein Werkzeug für unsere totale Verknechtung, vielleicht auch nicht und die Maschinenstürmer zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Recht. Vielleicht wird sich ein Teil “der Maschinen” mit uns verbünden und ein anderer Teil im Dienst des Kapitals sich gegen uns stellen. Vielleicht geht es vordringlich aber darum, all diese Fragen überhaupt zuzulassen. Vielleicht ist es gut, uns unserem Unbewussten ausführlicher zu widmen, vielleicht aber auch droht uns dann auch jenes Schicksal, das Nietzsche anmahnt, wenn man “zu lange in den Abgrund schaut”. Auf jeden Fall kann man einen Prozess nicht vom Ergebnis her denken, bzw. kann man das, macht es aber wenig Sinn. 

“Eine große Gefahr besteht darin, dass tatsächlich vorhandene Lücken nicht rechtzeitig erkannt werden, weil die Revolutionäre glauben, gegenwärtige Fragen des revolutionären Prozesses mit vergangenen Lösungen beantworten zu können. Geschichtliche Erfahrungen – niemand bestreitet das – sind die Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus. Er ist Inbegriff der aus diesen Erfahrungen abgeleiteten Erkenntnisse über die allgemeinen Bewegungsgesetze der Gesellschaft. Allein die schöpferische Anwendung dieser Erkenntnisse auf die jeweilige konkrete Situation kann – die Revolution voran bringen.”

Über den bewaffneten Kampf  in Westeuropa – Rote Armee Fraktion (Mai 1971)

Der Versuch, hier “Im Herzen der Bestie” einen bewaffneten Antagonismus aufzubauen, ist Teil unserer Geschichte, sofern man von uns überhaupt noch sprechen kann. Er ist gescheitert. So wie alle anderen Versuche. Sei es Stadtteilarbeit, Arbeit in den Betrieben, die Kämpfe in den sogenannten Teilbereichsbewegungen…
Ein reflektierender Blick zurück, um für die heutige Situation etwas daraus für uns daraus ziehen zu können, heißt auch, sich alle Facetten anzuschauen. Und um damit ein letztes Mal auf den Text von Burkhard Garweg ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. 

Was wirklich auffällt und ich halte dies für keinen Zufall, ist die Tatsache, dass die ganze Geschichte um den Bullenspitzel Steinmetz, der sich mehrere Male mit Illegalen der RAF getroffen hat und der die Bullen an Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams herangeführt hat, mit keinem Satz erwähnt wird und dies obwohl sich die RAF 1994 ausführlich zu der Geschichte geäußert hat. Ebenso wird die ganze Geschichte rund um die ‘Kinkel-Initiative’, die den Weg ebnete zur Spaltung zwischen den Illegalen und einem (kleineren) Teil der Gefangenen auf der einen Seite und einem (größeren) Teil der Gefangenen auf der anderen Seite nur in einem Halbsatz erwähnt, obwohl die damalige Debatte sich über Jahre hinzog und es zahlreiche veröffentlichte Texte von Gefangenen als auch von den Illegalen gab. Bei allem wirklich aufrichtigen Wohlwollen für die ausführliche Reflexion von Burkhard Garweg bildet sich genau hier eines der größten Probleme bei der angemessen Reflexion über die Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD ab: Es gibt einfach keine gemeinschaftliche Aufarbeitung. Allein die Frage, ob die Gefangenen in Stammheim 1977 Selbstmord begangen haben (mit Wissen des Staates) oder doch von “fremder Hand” ums Leben kamen, ist bis heute nicht diskutierbar. Die ganze Härte, die unverzichtbar ist, wenn es mit “dem Angreifen” ernst wird und die sich dann gegen sich selbst, bzw. die eigenen Leute richtet. Und dies nicht nur unter den Bedingungen von Isolationshaft und Kleingruppen-Isolation, sondern auch noch Jahrzehnte danach in Freiheit. Womit die RAF, bzw. diejenigen, die ehemals in ihr gekämpft haben, wahrlich nicht alleine stehen. So sind die Binnenstrukturen in dem, was die radikale Linke ist, beziehungsweise war. “Die Hölle, das sind immer die anderen”, wie Sartre so schön anmerkte. Aber es führt kein Weg daran vorbei, diese Diskussion möglich zu machen. In aller Aufrichtigkeit. Solange wir alle, die damals gekämpft haben, noch am Leben sind. 

Soweit, so gut. Oder schlecht. Auf jeden Fall fragmentarisch, unvollständig, zu kurz und trotzdem langatmig. 

Solidarität mit Daniela. Freiheit und Glückauf für alle gesuchten und gefangenen Gefährten. 

Und der Mut ist so müde geworden
Und die Sehnsucht so groß

Rainer Maria Rilke   

Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Orion – 20. April 2025


Weiterführende Literatur

Kybernetik und Revolte – Tiqqun; Diaphanes 2007, als PDF online
https://ia800803.us.archive.org/35/items/tiqqun_kybernetik_und_revolte/tiqqun_kybernetik_und_revolte.pdf

Thesen zur sudanesischen Commune – Anonym 2021 ; auf deutsch auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/03/thesen-zur-sudanesischen-commune/

In der  englischen Version auf ILL WILL
https://illwill.com/theses-on-the-sudan-commune

Über den bewaffneten Kampf  in Westeuropa – Rote Armee Fraktion; Mai 1971 
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/bewaffnetenkampf.php

Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt – Burkhard Garweg
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.militante-linke-burkhard-garweg-welt-bewegt-sich-auf-kipppunkt-zu.html

Erklärung der RAF vom März 1994 zum Spitzel Steinmetz und zu der Spaltung zwischen einem Teil der Gefangenen und den Illegalen und dem grösseren Teil der Gefangenen aus der RAF
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019940306_0.pdf





 









Von Lumpen und schwarzen Löchern [Part 1]

Trotzdem war der (für Brixton recht gemischten Menge) von mehreren hundert Personen gestern Abend recht feierlich zumute, als sich die Autos in beiden Fahrtrichtungen auf der Brixton Water Lane stauten. Sie wissen nur zu gut, dass sie sonst nicht zu den Gewinnern zählen. Die Gelegenheit, einen Fischzug mit Elektroartikeln im Wert von mehreren hunderttausend Pfund zu machen – und das noch dazu direkt vor der Nase der hilflosen Polizei, von der sie sonst regelmäßig schikaniert, geschlagen oder getötet werden, – beschert allen eine großartige Nacht. Die 14-jährigen Mädchen, die auf dem Weg, sich den 60 Zoll-Plasma-Bildschirm ihrer Träume zu holen, über den Parkplatz der Curry-Filiale eilten und mich dabei anrempelten, waren höflich genug, mir ‘Entschuldigung’ zuzurufen – und sie meinten es aufrichtig. Gestern Abend war jeder auf der Straße bester Stimmung. Die Spielverderber aus den Massenmedien waren da heute morgen allerdings anderer Meinung.

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011 

DIE ANGST UND DER MUT ZU KÄMPFEN

Nanni Balestrini hat in seiner Trilogie “Die große Revolte” eindrucksvoll an das Schicksal der zehntausenden von subproletarischen Jugendlichen erinnert, die nichts hatten und aus dem Nichts kamen um sich umso vorbehaltloser der Revolte von 1977 anzuschließen. Er erinnerte als einer der wenigen daran, was aus ihnen geworden ist, nachdem die Bewegung zusammengebrochen war unter der Last von politischer Begrenzung, Spaltung und Repression, die Abertausenden, die an der Nadel landeten oder in der Perspektivlosigkeit von Kriminalität, Knast, Kriminalität, Knast…Jene, die sich selbst völlig aufgaben und in der Klapse, auf dem Straßenstrich oder am Strick endeten. Er erinnert in dem Band “Die Unsichtbaren” in einer Art und Weise an die Leere des Blicks der Eingekerkerten, denen nur das ferne Asphaltband der Autobahn als Horizont dort draußen hinter den Mauern geblieben ist, dass es einem beim Lesen vor Schmerz ganz übel wird. Unwillkürlich schleicht der Panther von Rilke durch das Bild: 

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, daß er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt

Der Tahrir Platz wurde 2011 zum Symbol des sogenannten “arabischen Frühling”, jene aufständische Bewegung, die sich durch alle Länder des Nahen Ostens zog und auch weite Teile Afrikas erfasste und ohne die es die “Bewegung der Plätze” in Südeuropa ebenso wie “Occupy Wall Street” nie gegeben hätte. Doch die Besetzung des Tahrir Platzes hätte ohne die Aufopferung der Ultras der großen Kairoer Fussballclubs nicht so lange durchgehalten, an vorderster Front verteidigten sie die Barrikaden, die die Platzbesetzung beschützten. Das (neue) Militärregime nahm wenig später beim inszenierten Massaker im Stadion von Port Said grausame Rache, dutzende Menschen starben, die meisten von ihnen Fans des al-Ahly Clubs aus Kairo, viele waren noch nicht einmal 18 Jahre alt geworden. 

Am 22. September 1981 wurde in Westberlin Klaus-Jürgen Rattay getötet, als eine Bulleneinheit Demonstranten unter Knüppeleinsatz in den fließenden Verkehr der Potsdamer Straße trieben, die vor dem an diesem Tag geräumten Haus in der Bülowstraße gegen einen provokanten Presse-Auftritt des faschistoiden Innensenators Lummer in der Bülow 89 protestieren. Klaus-Jürgen Rattay, der aus einfachen Verhältnissen stammte und ohne Mutter bei seinem Vater aufgewachsen war und es nur bis zur Sonderschule geschafft hatte, war mit 18 Jahren monatelang durch Europa getrampt, bis es ihn nach Westberlin verschlug. Am Vorabend seines Todes sagte er in einem Interview im Schatten der besetzten Häuser in der Winterfeldtstraße, die am nächsten Tag geräumt werden sollten: “Ich bin hier einfach nach Berlin gekommen, um teilzunehmen an den Hausbesetzungen und so”…. “Ich bin aus der Gesellschaft ausgestiegen, weil ich keinen Bock hatte, weiterhin zu arbeiten. Weil man auch dauernd unterdrückt wird bei der Arbeit, von irgendwelchen Wichsern. Ich bin jetzt seit anderthalb Monaten hier und finde es gut, dass hier unwahrscheinlich viel gekifft wird. Ich finde es astrein, wie die Leute hier zusammenleben. Vor den Räumungen habe ich Angst, aber ich habe gleichzeitig Mut, zu kämpfen”.

Durch die (vorherrschende) gedankliche Welt der Theoretiker des historischen Materialismus, die heutzutage – ihrer gesellschaftlich-sozialen Fähigkeit zur analytischen Durchdringung der herrschenden Ordnung weitgehend beraubt – vorwiegend nur noch als Folklore selbsternannter Repräsentanten der angeblichen objektiven Interessen der Arbeiterklasse in Form von Gewerkschaften, Parteien und Sekten jeglicher Coleur daherkommen, zieht sich von Beginn an eine Abneigung gegenüber jenen Sektoren des Proletariats, die von Marx und Engels in diversen Schriften dutzende Male als „Lumpenproletariat“ gebrandmarkt wurden, ohne dass eine wirkliche analytische Begrifflichkeit dieses geheimnisvollen „Lumpenproletariats” generiert wurde. Scheinen jene Sektoren der unterdrückten Klasse in den Anfängen der Untersuchungen von Marx und Engels vor allem eine für die revolutionäre Strategie vernachlässigbare Größe, wird das „schnapslustige Lumpenproletariat“ (Marx in ‘Sieg der Konterrevolution zu Wien’, 1848) im Laufe der Jahre zu einer Projektionsfläche, der vor allem aus moralischen Erwägungen mit Vorsicht und Misstrauen zu begegnen sei. Ständig zu willkürlichen, unkontrollierbaren Aufständen neigend, im Kern korrupt und käuflich und damit jederzeit als konterrevolutionäre Masse rekrutierbar. Des Pudels Kern, um ein passendes Wortspiel Goethes über Mephisto zu gebrauchen, ist die historisch eingeschriebene Verachtung der Gralshüter der historischen Linken für jene Segmente des Subproletariats, die man heute nicht mehr “Lumpen” schimpft, denen man aber mit genauso viel Verachtung gegenübertritt, sei es wenn sie zu Silvester die Straßen von Berlin in Brand setzen oder die fürsorglichen Ausgangssperren des Corona – Regimes in den Banlieues von Paris bis Neapel massenhaft brechen. Die geschichtliche Ironie ist aber, dass die Ausbeutungsrealität jener verachteten Klassensegmente nun die unmittelbare Zukünftigkeit der Verwertungslogik des Kapitalismus repräsentiert. In der Auflösung der traditionellen ‘garantierten’ Ausbeutungsverhältnisse finden sich die “zentralen Klassensegmente” zunehmend in eben jener komplexen ökonomischen Verwertungs- und Lebensrealität wieder, in denen das “Lumpenproletariat” sein Überleben ebenso wie sein Aufbegehren schon seit langer Zeit bewerkstelligt. 

DIE SCHULE DER BARBAREN

“Die Grenze um das Schwarze Loch, hinter der sich auch Licht nicht mehr entfernen kann, heisst Ereignishorizont. Alles was hinter dem Ereignishorizont geschieht, bleibt für uns unsichtbar. Rechnungen zeigen zudem, dass dort Raum und Zeit durch das extreme Verhältnis von Masse zu Volumen so stark verzerrt sind, dass wir sie nicht mehr mit unseren physikalischen Modellen beschreiben können.”

Erst in jüngster Zeit wird die Bedeutung der Revolten, Aufstände und Kämpfe der “Lumpen” grundsätzlich anders eingeordnet und analysiert. Riot.Streik.Riot von Joshua Clover und Vorwärts Barbaren von Endnotes seien als zwei beispielhafte epochale Werke erwähnt. Wenn wir das Phänomen der historischen Stigmatisierung des “Lumpenproletariats” durch all die großen und kleinen (linken) Denker besser verstehen wollen, könnte es Sinn machen, sich mit der Theoriebildung der ‘beurs’ in Frankreich zu befassen, die sich nicht nur die abwertende Bezeichnung selbstbewusst angeeignet haben, sondern auch eine neue materialistische ‘Schule der Wilden’ entwickelt haben.

“Es ist eine ästhetische Formulierung, die sagen soll: ‘Das sind wir’. Wir sind Barbaren und gleichzeitig sind wir es nicht. Es ist eine Geschichte der Integration von innen gesehen. Wir sind Barbaren, die in der Tat keine Barbaren mehr sind, denn wir befinden uns im Herzen des Imperiums, wir beherrschen die Codes des Imperiums, wir beherrschen die Sprache des Imperiums und gleichzeitig sind wir nicht vollständig integriert, es gibt etwas in uns, das sich widersetzt, es gibt immer noch eine Andersartigkeit in uns, die fortbesteht, und ich denke, das ist das Ziel des Imperiums, sein letztes Land der Eroberung, denn es hat nicht alles erreicht. Ich denke, das ist wirklich die Besonderheit der kolonialen Beziehung und der rassistischen Beziehung. Es ist nicht nur eine strukturelle Beherrschung, sondern eine intime Beherrschung, die sich in jeden Winkel unserer Existenz einschleicht, und so gibt es einen Teil von uns, der sie nicht verstehen kann, und das ist eine Art Niemandsland, tief in der Seele, das sich dem Imperium, der Domestizierung usw. widersetzt.”

Rester barbare –  Louisa Yousfi 

Bei allen Unterschieden gleichen sich die Mechanismen der Ausgrenzung und Ausbeutung, sowie die Strategien des Überlebens und der Behauptung doch auf faszinierende Art und Weise, auch wenn es im Konkreten nicht immer so brüderlich zugeht wie in ‘La Haine’, wo ein Schwarzer, ein Jude und ein Araber sich durch ihr trostloses Leben in der Banlieue und mit den Bullen schlagen. Um das Notwendige klarzustellen und weil es im Rahmen dieser Textreihe nur möglich ist, Streiflichter zu werfen: Es geht weder um eine neue ‘Randgruppenstrategie’ noch um ein Anwanzen an ‘das migrantische Jugendproletariats’ wie es vor allem von trotzkistischen Splittergruppen samt ihren Vorfeldorganisation gerne in Großbritannien oder auch in Berlin mit all den peinlichen ‘Yalla, Yalla Klassenkampf’ Memes praktiziert wird. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” und in “Exotische Materie” geschrieben, ist es notwendig zu verstehen, wo die neuen ‘Labore der Verwertung’ zu verorten sind und was von der Resilienz der “Lumpen” und “Barbaren” für Verwertungslogik und der ‚Kolonisierung des Bewußtseins’ zu lernen ist. 

NO TIME TO DIE

“Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, dass das eine die Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui für einen großen Revolutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich.”

Das Konzept Stadtguerilla – Rote Armee Fraktion (April 1971)

Um erneut auf Burkhard Garwegs Text ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. Revolutionäre Politik war weder Anfang der 70er noch ist sie jetzt eine Art Sammelbewegung von Identitäten und Erfahrungen von ‘Teilbereichsbewegungen’, diesem Irrtum unterlagen schon die „Autonomen“, als sie versuchten, aus dem unmittelbaren Zusammenstoß mit dem Staat, der ihnen Anfang der 80er “in den Schoß gefallen” war, eine langfristige strategische Ausrichtung zu entwickeln. Aus diesen grundsätzlichen Missverständnis entstand später auch die sogenannte “Revolutionäre 1. Mai Demonstration”, die versuchte, die soziale Eruption des 1. Mai 1987 in ein politisches Event zu überführen und sich in Kreuzberg bei sogenannten Kiezpalavern mit genau jener kleinbürgerlichen grünen Blase zusammenzusetze, die aus Kreuzberg jenen schrecklichen Ort machte, der heute als „authentische” Kulisse für Ballermann-Tourismus fungiert, während ein Minderheit der ‘Szene’ auf der Straße ganz praktisch das Bündnis mit dem “schnapslustigen Lumpenproletariat” suchte, allerdings auch dabei eine grundsätzliche strategische Analyse und Ausrichtung missen ließ. 

Die wirklich spannende Frage wäre, aus welchen Faktoren sich der Kurswechsel der RAF Anfang der 70er zusammensetzte, weg von der „Wechselwirkung zwischen bewaffneten Kampf und politischer Arbeit in Betrieb und Stadtteil”, hin zu einer ausschließlichen Konfrontation mit dem Staat und der Bestimmung als Fraktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf. Leider kann der Text von Burkhard Garweg darüber ebenso wenig Auskunft geben wie die historischen Dokumente der Texte und Anschlagserklärungen der RAF aus jenen Tagen. Ganz sicher hat diese “Unsichtbarkeit hinter dem Ereignishorizont” vor allem auch damit zu tun, dass die meisten der Genossinnen und Genossen der RAF, die damals die strategische Ausrichtung der RAF konzipierten, allesamt entweder von den Bullen erschossen wurden oder im Knast “ums Leben kamen”. 

So oder so. Es gilt sich nicht mit dem ganzen partizipativen und diskursiven Müll aufzuhalten. “Es reicht nicht, nur aufzurüsten. Wir müssen auch wirtschaftlich wieder Zugkraft entwickeln. Und Deutschland muss die Lokomotive sein. Wir sind das bevölkerungsreichste und ökonomisch stärkste Land in Europa. Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir eine zentrale Rolle spielen wollen – wir müssen diese Rolle innerhalb Europas ausfüllen.” So sagte es heute Jens Bodo Koch, CEO von Heckler & Koch in einem Interview. Deutschland auf dem besten Weg wieder eine Großmachtrolle einzunehmen… Kriegsbereitschaft, Wehrpflicht, totale Kontrolle nach Innen. Nach wie vor ist die Parole von “Krieg dem imperialistischen Krieg” hochaktuell, bleibt nur die Frage, wie eine neuer Antagonismus sich konstituieren kann, der dem Leben einhaucht. Die Erfahrungen der ‘brothers and sisters in arms’ sind dafür unverzichtbar. 

“Es muss niemandem gesagt werden, dass diese Welt am Abgrund steht. Die Beweise sind überall. Doch nichts an der Katastrophe, die wir durchleben, macht eine Revolution unvermeidlich. Entscheidend ist nicht, anzuprangern oder zu kritisieren, sondern die Nähte zu studieren, die es erlauben, Situationen aufzubrechen, die es zulassen, dass sich Antagonismen ausbreiten und verallgemeinern, die unserem Leben hier und jetzt Bewegung und Zuversicht zurückgeben. Zeitgenössische Kämpfe weiten sich nicht um Ideen oder Ideologien aus, sondern um Gesten, die ihrem Moment einen Sinn geben, situierte Wahrheiten, die es zu verteidigen lohnt. Eine Million richtiger Ideen über die Gegenwart werden von einer einzigen Handlung die diese Realität verändert weggefegt.”

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben

Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Orion – 19. April 2025

…wird fortgesetzt


Weiterführende Literatur: 

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011; Laika Diskurs  2011

Die große Revolte – Nanni Balestrini; Assoziation A 2008

WIKIPEDIA ausführlich zum Massaker von Port Said
https://de.wikipedia.org/wiki/Stadion-Ausschreitungen_von_Port_Said#:~:text=Bei%20den%20Stadion%2DAusschreitungen%20von,Ausschreitungen%20in%20der%20%C3%A4gyptischen%20Fu%C3%9Fballgeschichte.

RIOT.STRIKE.RIOT – Joshua Clover; Galerie der abseitigen Künste (Verlag) 2021, Hg. der deutsche Ausgabe Dellwo und Szepanski

Vorwärts Barbaren – Endnotes; in der deutschen Übersetzung in der Sunzi Bingfa 2021
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/01/11/vorwaerts-barbaren/,
das engl. Original 2020 
https://endnotes.org.uk/posts/endnotes-onward-barbarians

Rester barbare – Louisa Yousfi; La fabrique éditions 2022, eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Eine Rezension von Ferdinand Bigard in der deutschen Übersetzung auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/07/14/wenn-schonheit-nicht-wehrlos-ist-uber-das-buch-rester-barbare-von-louisa-yousfi/

Das Konzept Stadtguerilla – RAF 1971, online u.a.auf rafinfo.de
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php

Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt  – Burkhard Garweg 2025 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.militante-linke-burkhard-garweg-welt-bewegt-sich-auf-kipppunkt-zu.html

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben 2021 – In der deutschen Übersetzung auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/31/memes-ohne-ende/
im engl. Original auf ILL WILL 
https://illwill.com/memes-without-end#fn49ref




 





 

 

Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [Part II]

“In den ersten Monaten des Jahres 1978 und nach dem tragischen Ende von Aldo Moro ist ein ständiges Anwachsen der bewaffneten Gruppen und bewaffneten Aktionen zu verzeichnen. In die größten Formationen strömen hunderte von Militanten aus der autonomia diffusa und ganze Sektionen von Fabrikavantgarden, exemplarisch in dieser Beziehung ist die Geschichte der Brigade Walter Alasia in Mailand, deren Mitglieder zu großen Teil Jugendarbeiter waren.”… “In der ‘Resolution der strategischen Leitung’ vom April 1975 hatten die BR endgültig die Form des Selbstinterviews aufgegeben um sich mit einem offiziellen Dokument darzustellen, das danach strebte eine Art Generalprogramm in der Tradition der historischen Parteien der Dritten internationale zu sein. Schon diese Entscheidung, scheinbar formal, war bezeichnend für die Setzung der bewaffneten Organisation als hegemoniales Element in der Komplexität des aktuellen revolutionären Prozesses. Also nicht mehr eine bewaffnete illegale Gruppe als Bezugspunkt der radikalsten Erfahrung in der Klassenkonfrontation, sondern eine wirkliche Organisation, die, indem sie den ‘bewaffneten Kampf’ als einzige strategische Linie der Klassenkonfrontation, als ‘die Form’ der Revolution setzte, dazu tendierte, in ihrem Innern alle von der Komplexität der realen Bewegung produzierten Erfahrungen umzuinterpretieren. Eine strategische Entscheidung dieser Art konnte nichts anderes als eine drastische Reduktion der Komplexität und des Reichtums der organisatorischen Erfahrung bewirken und damit eine fortschreitende Gegenposition zu anderen Kampferfahrung provozieren, nicht nur in den Resten der außerparlamentarischen Gruppen, sondern auch in der diffusen und organisierten Autonomia.”

Die goldene Horde – Primo Moroni und Nanni Balestrini

Einer der Treppenwitze der Geschichte des militanten Antagonismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa ist, dass die Rote Armee Fraktion, die sich zu jeder Phase ihres Bestehens aus nicht (wesentlich) mehr als ein, zwei Dutzend Genossen und Genossinnen zusammensetzte, erst Mitte der 90er in jene existentielle Krise geriet, die schließlich 1998 zu ihrer Selbstauflösung führte, während die Roten Brigaden (BR), die zu ihren Hochzeiten tausende Militante und Unterstützer zählten, schon 1980 die ersten Spaltungen erlebten, als sich die Mailänder Kolonne Walter Alasia von den BR lossagte, um zu ihren “operaistischen Wurzeln” zurückzukehren. Jene Überreste der BR (die Ende der 70er, Anfang der 80er aberhunderte von inhaftierten Militanten und ‘Abtrünnige’ und ‘Abschwörer’ zu verkraften hatten), die als BR-PCC (Kämpfende Kommunistische Partei) zusammen mit der RAF und der Action Directe (AD) die “westeuropäische Front” aufbauen wollten, hatte zu diesem Zeitpunkt Anfang der 80er schon praktisch jeglichen Rückhalt in den Fabriken des italienischen Nordens verloren und auch ihr Rückhalt in den Überresten “der Bewegung”, die an ihrem Höhepunkt über 100.000 Militante mobilisieren konnte, und die ebenso von der Repressionswelle gebeutelt war, war nur noch marginal. Folgerichtig erklärt die “historische Führung” der BR 1987 den bewaffneten Kampf für beendet, auch wenn verschiedenste Splittergruppen unter wechselnden Namen weiterexistieren und bis Anfang des 21. Jahrhunderts Aktionen durchführten. 

In der sozialen und politischen Verankerung so extrem unterschiedlich, gleicht sich die Geschichte der RAF und der BR jedoch an verschiedenen Punkten, für diese Zeilen bedeutend soll die von Primo Moroni und Nanni Balestrini herausgestellte Umorientierung der BR Mitte der 70er sein, die “den bewaffneten” Kampf als “zentral” in der Klassenkonfrontation setzte, alle anderen Kampfabschnitte als nebenrangig betrachtete, eine Hybris, die sich auch durch das sogenannte “Front-Papier” der RAF von 1982 und die darauf gründende Aktionslinie der folgenden 10 Jahre zieht und auf die auch Burkhard Garweg in seinem im Neuen Deutschland veröffentlichten Text eingeht. Im Kern scheinen hier die gleichen sich aus einem Subjektivismus speisenden kapitalen Fehleinschätzungen zugrunde zu liegen und doch liegen die Dinge aus meiner Sicht etwas anders. Burkhard Garweg merkt in seinem Text an: “Eine auch sozialrevolutionäre und nicht nur antiimperialistische Stadtguerilla hätte vielleicht die Chance gehabt, die unabhängig von der RAF Ende der 70er und in den 80er Jahren entstandenen Bewegungen, die zum Teil auch militant waren: die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Anti-Nato-Bewegung, die feministische Bewegung und die Solidaritätsbewegungen mit den Befreiungsbewegungen des Trikont in einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen Fundamentalopposition zusammenzufassen.” 

Aus meiner Sicht unterliegt Burkhard Garweg hier einem entscheidenden Irrtum, denn woher hätte denn diese “sozialrevolutionäre” Orientierung kommen sollen, in dem historischen Kontinuum, im dem sich die RAF bewegte und das ihre innere, “historische” Logik repräsentierte, war nur ein “Bündnisangebot” an “die Bewegung” möglich, so wie es in dem “Frontpapier” von 1982 gemacht wurde (und selbstverständlich mit dem Anspruch einer “Führungsrolle” der bewaffneten Gruppe). Geschichte funktioniert nie als ein rückwärts gewandter Prozeß, so wie sich die Entwicklung oder auch “der Sprung” hinein in die “Bewaffnete Konfrontation” immer in konkreten historischen Bedingungen realisiert, so ist es nicht möglich “Geschichte zurückzunehmen”, deshalb strömten Hunderte in Italien aus der Autonomia in die bewaffneten Gruppen, auch zu den ideologisch eher fernen BR, aber es ist eben nicht möglich diesen Prozess zurückzudrehen, es gibt nur das (Eingeständnis des) Scheitern und die Suche nach neuen Wegen unter veränderten Bedingungen. Und deshalb war auch der Versuch der Mailänder Kolonne Walter Alasia der BR, “zu den operaistischen Wurzeln” zurückzukehren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. 

Und gegen den auch noch heutzutage von Teilen der ehemaligen Autonomia erhobenen Vorwurf, die BR hätten mit ihrer “Zuspitzung” in Form der Entführung und Liquidierung von Aldo Moro eben jene Repression heraufbeschworen, deren “Opfer” dann auch die Strukturen der Autonomia wurden, sei angemerkt, dass dieser Vorwurf simplifizierend und ahistorisch ist (was nicht impliziert, dass es nicht berechtigte Kritik an den strategischen Entscheidungen der BR zu üben gilt), weil die Repression nicht der eigentliche Grund für das Ende des Aufbruchs in Italien (Mitte bis Ende der 70er) war, sondern die Ursache sich in der mangelnden politischen, sozialen und organisatorischen Perspektive auf dem Höhepunkt der Bewegung 1977 verortet, die auch etwas mit der isolierten italienischen Entwicklung zu tun hatte, die zu diesem Zeitpunkt nicht in einem internationalen Kontext des Klassenkampfes stattfand und so in der “militarisierten” Sackgasse der diversen Gruppen endet. Unfähig die Klassenkonfrontation  auf das nächste Level zu heben (der Bürgerkrieg, bzw. die Tendenz zum Bürgerkrieg), nicht dazu fähig, diesen objektiven Mangel zu realisieren, wird “die Partei” nicht zur “historischen Partei” sondern als “bewaffnete Partei” zum Ausdruck eines Subjektivismus ohne eine ausreichende soziale und gesellschaftliche Verankerung, eine “Partei” die “von Außen” kommt, nicht “aus der Klasse”. Die Frage, die es zu untersuchen gilt, und die die Situation in den 70er in Italien von der in der BRD scheidet, ist die nach den möglichen Wegen, die es auf dem konkreten Niveau der Klassenauseinandersetzung gab und die nicht gegangen wurden und die im Unterschied zur Entwicklung in der BRD nicht nur eine “antiimperialistische Guerilla” als “Frontabschnitt” im weltweiten Prozeß zugelassen hätte. Sich diesen Frage zu stellen, jenseits von Moralismus, Distanzierung und Historisierung ist revolutionäre Politik heute. 

“In der 1970er Jahren schlossen Stephen Hawking, Kip Thorne und John Preskill eine Wette darüber ab, ob ob die Information über hineinstürzende Objekte tatsächlich im sogenannten Schwarzen Loch vernichtet werde (gemäß dem relativistischen Standpunkt von Hawking und Thorne) oder irgendwie erhalten bleiben könnte (gemäß der Quantenphysik im Sinne Preskills). Im Jahr 2004 gab Hawking seine Wette als verloren, obschon die Klärung der Wette noch aussteht.”

So wie alle meine bisherigen Ausführungen in ‘Wurmlöcher des Antagonismus 1 + 2’ sowie ‘Exotische Materie 1’ fragmentarisch bleiben, ja schon angelegt sind, sowohl die heutigen Bedingungen als auch die nicht historisierende Reflexion geschichtlichen Antagonismus betreffend, so offen bleibt die Wette darauf, wie der neue geschichtliche revolutionäre Anlauf ausgehen wird. Denn um nicht weniger geht es in den notwendigen Reflexionen der weltweiten Aufstände und Revolten dieser letzten knapp 2 Dekaden, die ebenso die Bedingungen der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung determinieren, wie die Neuordnungen um die globale Hegemonie, in die unter den Bedingungen der Verwertungskrise die Tendenz zum Krieg eingeschrieben ist. Revolutionäre Positionen und Analysen auf der Höhe der Zeit zu entwickeln um den “Hunger der Massen nach Politik” (wie ich, Quadrelli zitierend, in Teil 1 von “Exotische Materie” geschrieben hat) zu stillen, bedeutet derzeit aus meiner Sicht vor allem zwei Dinge:

Der Bruch mit der historisch überholten Linken, die immer noch in der Denke von so vielen Leuten sitzt, die eigentlich auf der Suche sind nach einer Möglichkeit, wieder einen revolutionären Antagonismus auf die Tagesordnung zu setzen. Darin müssen die Aufstände der letzten 2 Dekaden ebenso in ihren Praxen wie in ihrer Verweigerung jeglicher Repräsentanz bedingungslos verteidigt werden. 


Die Erzählung vom “Ende der Welt”, die im Kern eine Spielart der Erzählung vom “Ende der Geschichte” ist, muss bekämpft werden. Es geht weder darum, die Folgen der vom Kapitalismus geschaffenen Klimaveränderungen zu negieren oder klein zu reden, sondern darum, den allgegenwärtigen Katastrophismus abzuschütteln, der nur Hilflosigkeit und Appelle an die herrschende Klasse generiert. 

Um auf diese beiden Punkte näher einzugehen: der vorherrschende linke Diskurs betont immer wieder die Schwäche des “eigenen Lagers” bzw. die Allmacht des Gegners, die Tendenz zur Faschisierung in Gesellschaft und innerhalb der Apparate von Macht und Eliten. Diese Sicht ist auf der einen Seite absolut reduzierend und ausschließend, weil sie sich nicht innerhalb der Analyse des realen Klassenantagonismus bewegt, der in den letzten 20 Jahren von einer Intensität gekennzeichnet ist, wie wir es zuletzt im Übergang von Fordismus zum Postfordismus gesehen haben. Die scheinbar so unterschiedlichen Formen der weltweiten Revolten und Aufstände sind aber fast alle eben Ausdruck der Veränderungen der Klassenzusammensetzung und der Suche der Subjekte der Klasse nach der gegenwärtigen Form des Antagonismus. Die Revolten “springen nicht weiter, als möglich”, weil der revolutionäre Horizont nicht umrissen ist. Eben der “Hunger der Massen nach Politik”. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, werden immer wieder konterrevolutionäre Konjunkturen Partizipationsmodelle in die gesellschaftliche Interaktion zu integrieren suchen. Die andere Seite dieser Medaille sind die Faschisierungstendenzen, die im Wechselspiel mit den Partizipationsmodellen die Wucht der Zusammenstösse der letzten 20 Jahre aufnehmen und in ein neues Herrschaftsmodell integrieren sollen. Eine Klasse ohne konkrete revolutionäre Perspektive bleibt so gefangen in diesem Spiel zwischen dem großen und kleineren Übel. 

“Ein Trauma ist oft mit einer früheren Erfahrung von Verlust oder Gewalt verbunden. Jetzt sind wir zum ersten Mal mit einem umgekehrten Trauma konfrontiert: dem Trauma des drohenden und unausweichlichen Zusammenbruchs, das den Geist und den Körper junger Menschen auf der ganzen Welt heimsucht.

Die dysphorische Generation, die in einem Zustand physischer Isolation und emotionaler Lähmung aufgewachsen ist, ist traumatisiert von der unbeschreiblichen Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe. Sie weiß, dass der Planet immer weniger mit menschlichem Leben kompatibel sein wird.”


So schreibt Franco ‘Bifo’ Berardi in seinem jüngst erschienen Text “Die Frage”. Die Frage, um an den Titel von Bifos Text anzuschließen, ist es aber, die Bedingungen des angenommenen ‘umgekehrten, aus der Zukunft rührenden’ Traumas zu untersuchen. Zuallererst gilt es festzuhalten, dass (jenseits der notwendigen Anmerkung, dass der Begriff des Traumas heutzutage inflationär verwendet wird) des Pudels Kern nicht das erlittene Trauma, sondern die Möglichkeit des Umgangs mit dem Erlebten (oder um bei Bifo zu bleiben: Mit Sicherheit Eintretenden) ist. Menschen, Individuen als auch Gruppen, reagieren sehr unterschiedlich auf traumatische Erlebnisse, ja ‘werten’ identische Erlebnisse häufig auch unterschiedlich als für sie traumatisierend oder nicht. Ebenso werden sie unterschiedliche Wege wählen, um einen Umgang mit Traumata zu finden. Jenseits von diesen Differenzierungen bleibt aber die zutreffende Beobachtung, dass die Erzählung vom “Ende der Welt” eine Überforderung des menschlichen Geistes darstellt, aus die er entweder in Regression (Die ‘Flucht auf den Mars’ als eine Spielart der Regression der Reichen; Appelle an die herrschende Klasse, “es nicht so weit kommen zu lassen” durch die Beherrschten; oder: Leugnung der Realität, gibt keinen Klimawandel, halb so schlimm), oder Autoaggression (Depression in all ihren individuellen und gesellschaftlichen Spielarten) flüchtet, weil er für sich keine Handlungsmöglichkeiten findet. 


Die Erzählung vom “Ende der Geschichte” erklärte den Klassenkampf mit dem Sieg über den Staatskapitalismus für beendet, jegliches Kämpfen für eine andere Gesellschaftsordnung obsolet, so wie die Erzählung vom “Ende der Welt” jegliche Anstrengung für eine “andere Welt” obsolet macht. Es bleiben nur Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Unterwerfung. Die Erzählung vom “Ende” als perfekte Kolonialisierung des Bewusstseins. Geschichte ist aber immer ein offener Prozess. Natürlich muss der Klimawandel ebenso wie der Faschismus gestoppt werden, realistisch ist dies aber nur im Aufreissen des revolutionären Horizonts. Zum zweiten Mal nach 1917 erleben wir ein weltweites Anstürmen gegen die herrschenden Verhältnisse, es gilt nur die Bilder zu verstehen, die Syntax zu analysieren, in der diese weltweite Revolte zu uns spricht. Gemeinsam. Schritt für Schritt. 


“Jede Macht ist endlich. Und auf ihrem Höhepunkt in ihrem fragilsten Aggregatzustand. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns. Eben noch konnten sie über Nacht zwei Drittel der Weltbevölkerung wegsperren, jetzt taumelt der Koloss. Das ist die wichtigste revolutionäre Tat derzeit, diese Kunde in die Welt zu tragen. Dies führt unvermeidlich dazu, dass aus Proteste Riots, aus Riots Revolten, aus Revolten Aufstände, und aus Aufständen Revolutionen werden. Wenn die Hoffnung zurückkehrt. Revolutionen resultieren nicht aus Verzweiflung, Aufstände resultieren häufig aus Verzweiflung, Revolutionen resultieren aus Zuversicht.”
Post Covid Riot Prime Manifest


Liebe, Kraft und Zuversicht allen inhaftierten Gefährt*innen und den Genoss*innen auf der Flucht. 


Sebastian Lotzer, aus dem Nebel des Orion – 12. April 2025


Anmerkungen


Wurmlöcher des Antagonismus 1   https://non-milleplateaux.de/wurmlocher-des-antagonismus-part-i-polykrise-und-hybris/

Wurmlöcher des Antagonismus 2
https://non-milleplateaux.de/wurmlocher-des-antagonismus-part-ii-subjektivismus-und-klasse/

Exotische Materie 1
https://non-milleplateaux.de/exotische-materie-vom-sozialen-zum-politischen-antagonismus-part-i/ 

“Die Frage” von Bifo auf Deutsch auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2025/04/04/die-frage/

Alle Teile vom Post Covid Riot Prime Manifest  zusammengefasst als PDf in der Sunzi Bingfa veröffentlicht
https://sunzibingfa.noblogs.org/files/2022/11/postcovidtrilogie-print.pdf

Weiterführende Lektüren

Renato Curcio: Mit offenem Blick – Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja. Online komplett hier

https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/offener-blick/offener-blick.html

Rote Brigaden; Fabrikguerillia in Mailand 1980/81 – Ex Militante der Kolonne Walter Alasia erzählen ihre Geschichte. Online komplett hier
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0219841100_0.pdf







Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [Part I]

“Dabei ist davon auszugehen, dass die transnationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander stehen, aber es eben auch Überschneidungen ihrer Strategien gibt, insofern sie kein Interesse an Staaten haben, die ihnen den Zugang zu ihren Märkten erschweren oder gar verwehren.”

Achim Szepanski: Die Ekstase der Spekulation  

Friss oder stirb (selbst)

Nur kurze Zeit nachdem Trump die neuen Strafzölle für Importe verkündet hatte, deren Effekte für die US Wirtschaft den New Deal in den Schatten in den Schatten stellen sollen, brach an den US Börsen die Hölle aus. Beim S&P 500 Index, der die 500 wichtigsten börsennotierten US Unternehmen zusammenfasst, brachen in der Nacht zu Freitag die Kurse auf breiter Front ein und es kam zu Verlusten in Höhe von 2,8 Billionen Dollar. Die berühmten 1% traf es besonders hart, die 500 reichsten Menschen der Welt verloren an einem einzigen Tag über 200 Milliarden Dollar. Ironischerweise gehörten die Tech-Milliardäre Zuckerberg, Bezos und Musk zu den ganz großen Verlierern, allein Zuckerberg, der sich ebenso wie die anderen “jungen Wilden” zur Amtseinführung von Trump eingefunden hatte, verlor an seinem persönlichen “schwarzen Freitag” an die 18 Milliarden Dollar an Vermögenswerten. Die gesamte US Technologiebranche, die eigentlich der Motor zur Bewältigung der Kapitalverwertungskrise sein sollte und deren Kurse in den letzten Jahren durch die Erwartungen an die “KI-Revolution” unglaublich gehypt worden waren, hatte schon jüngst den Einbruch der Kurse durch die Präsentation des chinesischen Mosquito DeepSeek wegstecken müssen. Daniel Ives, Managing Director und Senior Equity Research Analyst für den Technologiesektor bei Wedbush Securities, einer der gefragtesten strategischen Analystengrößen sprach angesichts von Trumps Ankündigungen von Strafzöllen von einem “drohenden ökonomischen Armageddon”. Auch in Europa kam es als Reaktion auf den von Trump erklärten “Handelskrieg” (sowie der Reaktion der chinesischen Regierung, mit gleicher Münze heimzuzahlen) zu massiven Kurseinbrüchen an den wichtigsten Börsenplätzen. Der Dax gab um die 5% nach, auf gleicher Höhe bewegten sich die Kurseinbrüche des Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50. In der Wochenbilanz gaben die Dax Werte um 8% nach, der größte Absturz seit dem Beginn des Ukraine-Krieges. 

Wie schon in der Frage des Ukraine-Krieges geht Trump erneut All in. Und erneut verbindet er seine Drohungen mit der Aufforderung, sich mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen, um neue Modalitäten mit ihm auszuhandeln (Die Strafzölle für mexikanische und kanadische Produkte hatte er wieder “ausgesetzt”, nachdem ihm die Regierungen der beiden Länder in den Fragen der “Grenzsicherung” und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entgegen gekommen waren.). Doch diesmal könnte er sich verspekuliert haben. Nicht nur, dass ihm die treue Gefolgschaft der Technologiebranche entfolgen könnte, auch die Big Player der weltweit agierenden Investmentfonds von BlackRock und Co werden eine dauerhafte Vernichtung ihrer Vermögenswerte nicht tatenlos hinnehmen und Trump zu einer Kurskorrektur zwingen, bzw. verstärkt in den westeuropäischen Markt investieren, auf dem sie stabilere und berechenbarere Rahmenbedingungen vorfinden. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” ausgeführt, wird Trumps Strategie die geopolitische, wirtschaftliche und militärische Ordnung grundlegend umgestalten, insofern vollzieht der neue Kurs der US Regierung nur die überfällige Korrektur, die aus der Verwertungskrise und dem Konflikt um die Hegemonie mit China folgt, ob diese Korrekturmaßnahmen allerdings von Erfolg gekrönt sein werden, oder die Figuren auf dem Schachbrett ganz anders und entgegen der Vorstellungen von Trump neu aufgestellt werden, steht auf einem anderen Blatt. Trump wird also entweder seine Anpassungsfähigkeit an die Gesetze des Marktes auch in der Rolle des politischen Leaders beweisen müssen (was ihm in seiner ersten Amtsperiode mit wesentlich bescheideneren Ambitionen gelungen ist) oder er wird nur eine Randnotiz der Geschichte bleiben, gezügelt und gekränkt kastriert von den Gesetzen des Marktes. So oder so, die Tendenz zum Krieg, der Übergang vom „permanenten Ausnahmezustand” zum “permanenten (latenten) Kriegszustand” ist in die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungskrise des Kapitals eingeschrieben und nicht das Ergebnis der Boshaftigkeit “alter, weißer Männer”. Jegliche gesellschaftliche antagonistische Option sollte sich auf das dringlichste von solchen moralisierenden Weltbildern verabschieden und sich auf der Grundlage einer materialistischen Analyse konstituieren.

Der Hunger der Massen nach Politik

Vor gut 20 Jahren haben neuseeländische Wissenschaftler die (bisher nicht bezweifelte These) aufgestellt, dass “exotische Materie” in der Lage ist, stabile Wurmlöcher im Universum zu kreieren. Das Problem besteht aber darin, dass diese exotische Materie im Gegensatz zu “normaler Materie” nicht aus Atomen besteht, nicht künstlich erzeugt werden kann und die durch die “exotische Materie” erzeugten Wurmlöcher schon durch ein einzelnes Atom zum Einsturz gebracht werden können, wie Hawking herausgearbeitet hat. Ein weiterer Grund, “Zeitreisen” von Objekten nach dem derzeitigen Kenntnisstand auszuschließen…

Um an die Ausführungen von ‘Wurmlöcher des Antagonismus’ anzuschließen, geht es in der derzeitigen historischen Zuspitzung nicht nur um die Rückbesinnung auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse und den notwendigen radikalen Bruch mit allen Linien der (linken) Identitätspolitik sondern auch um den Bruch mit der defätistischen apokalyptischen Erzählung, die keine Handlungsspielräume ermöglicht und sich völlig losgelöst von dem konkreten Niveau des Klassenantagonismus im diskursiven Raum bewegt. Geht es darum, sich den neuen Blick auf die Welt, den sich die Aufständischen und Rebellen in den letzten 15 Jahren erkämpft haben, nicht wieder durch die immer auf Partizipation ausgerichtete Erzählung der ‘historischen Linken’ verstellen zu lassen. Das ganze Gerede vom “faschistischen Monster”, gegen das es scheinbar kein Gegengewicht gibt als vage Hoffnungen (und Bündnisse mit der ‚gesellschaftlichen Mitte’) verneint diese Erfahrungen der letzten 15 Jahre, versucht sie auszulöschen. Nicht, dass es die Faschisierungstendenzen nicht geben würde, aber es gilt diese einzuordnen im Kontext von Markt und Klassengegensatz. Die vorherrschende Erzählung vom “Kampf gegen den Faschismus” produziert nicht nur (bürgerliche) Bündnispolitik, sondern erschafft zugleich eine Handlungsunfähigkeit eines ‘realen Antifaschismus’, der sich immer im grundsätzlichen Antagonismus zum Kapital konstituieren muss. So wie die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungslogik die politischen Optionen der extremen und populistischen Rechten begrenzen (siehe u.a.die Entwicklung in Italien nach dem Wahlsieg von Meloni), ist realer Antifaschismus nur denkbar auf der Grundlage einer Analyse der derzeitigen realen Klassengegensätze. Alles andere ist im Zweifel lobenswert, aber nicht mehr als Symbolpolitik und identitäre Traditionspflege.   

“In diesem Sinne macht Emilio mit der Chronik [1] einen weiteren Schritt: Er skizziert nicht nur die Merkmale des neuen Großstadtproletariats, d.h. die Klassenzusammensetzung nicht in ihrer soziologischen Abstraktheit, sondern in ihrer politischen Konkretheit, sondern versucht auch, die Konturen einer möglichen politischen Projektualität für die Subalternen nachzuzeichnen, da ‘der Hunger der Massen nach Politik’ dringend Organisations- und Selbstorganisationsformen benötigt, die in der Lage sind, eine Weltsicht und die Ausübung von Gewalt zu konstruieren, d.h. die historische Zeit zu erfassen und mit ihr Schritt zu halten.” 

Atanasio Bugliari Goggia: Von der Unterwelt in Manchester zur Unterwelt in der Banlieue [2] 

So beginnt Goggias Abhandlung über die ‘militante Untersuchung’ von Emilio Quadrelli über die Entwicklung in Frankreich von den Unruhen von 2005 nach dem Tod von Ziad Benna und Bouna Traoré bis hin zu den landesweiten Riots 2024 nach dem Tod von Nahel Merzouk. Während eine ‘historische Linke” sich immer noch völlig unfähig zeigt, sich mit der gegenwärtigen Klassenkonfliktualität anders als soziologisch oder sozialarbeiterisch, also konterrevolutionär, zu befassen, reisst Emilio Quadrelli für uns den aufständischen Horizont auf. Zu den Aufständen und Revolten der letzten 15 Jahre ist so vieles Richtiges und Wichtiges gesagt und geschrieben worden, häufig auch von den Protagonisten selbst. Wenig in diesem Land, aber wer will, wird auch wichtige und gute Texte in deutsch (nicht wenige davon Übersetzungen aus anderen Ländern) dazu finden. Die zentrale Konfliktlinie, die sich von Kairo 2008 über Athen 2011 bis hin zu jenem heißen Sommer im vergangenen Jahr in Frankreich durchzieht, ist ausreichend beschrieben und analysiert worden. An dieser Stelle nicht (noch) mehr davon. Wer es bisher nicht zur Kenntnis genommen hat, dem wird auch an dieser Stelle nicht zu helfen sein. Nun geht es um den nächsten Schritt. Aus der sozialen Konfliktualität eine politische zu realisieren. Dem “Hunger der Massen nach Politik” Futter zu geben. Die Partei, die imaginäre, wie die französischen Gefährten schreiben, oder die künftige revolutionäre, wie die italienischen Genossen sagen, steht auf der Tagesordnung. Wobei sie absolut nichts zu tun hat mit den zahllosen Sekten, die überall am Entstehen sind und ihre Überflüssigkeit wie ihre praktische wie intellektuelle Sinnlosigkeit wahlweise mit Sozialistische oder Kommunistische Was-Auch-Immer bemänteln. 

Hier nun finden wir unsere Aufgabe wie unser historisches Erbe. Hier finden wir auch den Bezug zu dem Versuch, im “Zentrum der Bestie”, sich im aufständischen Prozeß intellektuell wie praktisch zu bewaffnen. Mit allen Irrtümern, die diesem Versuch angehaftet sind. Nicht zufällig kamen fast alle Gründungsmitglieder der Bewegung 2. Juni selbst aus dem Proletariat und nicht aus dem akademischen Milieu der 68er, reichen die Wurzeln der RAF zurück auf die Stadtteilarbeit mit den Menschen im proletarischen Neubaughetto Märkisches Viertel und die Arbeit mit jugendlichen Trebegängern und Heimflüchlingen. 

“konsumentenpolitik ist warenpolitik. die ware ist der konsument. mit dieser zuspitzung der geschichte, die von den global organisierten und global kollaborierenden bourgeoisen gemacht wird, erklärt sich buchstäblich alles. ihre werte sind die ware und der markt, müll und müllhaufen..”

Gudrun Ensslin: Kassiber aus dem Knast von Anfang 1973

Der Sound klingt so unglaublich aktuell. Über die Begrenzungen des Subjektivismus ist einiges in “Wurmlöcher des Antagonismus” gesagt worden. Jenseits der Begrenzungen steht die Notwendigkeit, den gescheiterten Versuch des bewaffneten Antagonismus im konkreten Klassenantagonismus der weltweiten Prozesse im historischen Kontext zu begreifen und einzuordnen. “Dem Volk dienen – RAF” würde heutzutage niemand mehr schreiben, aus guten Gründen – im Kern aber enthielt diese Aussage genau das Bemühen dem “Hunger des Massen nach Politik” eben jene “Organisations- und Selbstorganisationsformen” an die Seite zu stellen um dem Transformationsprozeß von der sozialen zur politischen Frage “Partei” zu sein. Aus dieser Erfahrung, mit allen Fehlern, Erfolgen und Irrtümern, zu lernen und einen Antagonismus auf der Höhe der Zeit theoretisch und praktisch, neu auf die Beine zu stellen, ist nun unser aller Aufgabe. Darunter geht es nicht. Wenn wir es ernst meinen. 

Wird fortgesetzt…

Fußnoten

[1] ‘Chronik von Marseille’, eine Textsammlung von Emilio Quadrelli, die bisher weitgehend nur im italienischen Original vorliegt, ein auszugsweise Übersetzung fand sich auf Bonustracks. 
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/04/04/die-chroniken-von-marseille-es-ist-nicht-alles-gold-was-glaenzt/

[2] In der deutschen Übersetzung auf non milleplateaux
https://non-milleplateaux.de/von-der-unterwelt-in-manchester-zur-unterwelt-in-der-banlieue/