Galaxien des Antagonismus [mit PDF Bonus]

Der folgende Text ist eine – überarbeitete – Zusammenfassung der Trilogie, die in der Zeit vom 8. März bis zum 20. April 2025 in sechs Folgen veröffentlicht wurde und in Teilen eine Reaktion auf den ausführlichen Text von Burkhard Garweg, der im Neuen Deutschland erschien, als auch in Teilen eine fragmentarische Skizze der gegenwärtigen Situation sein soll. Wo stehen, oder vielleicht auch schwanken wir, unter welchen Bedingungen findet und organisiert sich der neue Antagonismus? Der besseren Übersichtlichkeit halber wurden alle Fußnoten entfernt, dafür findet sich am Ende des Textes eine ausführliche Liste von weiterführender Literatur.  

Part 1: Wurmlöcher des Antagonismus (Polykrise und Hybris)

Gewiss, die Fragmentierung der Welt führt zu Desorientierung und wirft alle überkommenen Gewissheiten über den Haufen, stellt all unsere politischen und existentiellen Kategorien infrage und entzieht der revolutionären Tradition selbst den Boden: Sie ist eine Herausforderung.

Jetzt – Das Unsichtbare Komitee

THIS IS NOT A LOVESONG

Trump geht all in, die europäischen Militärhaushalte werden explodieren, der neue Liberalismus, eben noch von Döpfners Schreibstube enthusiastisch abgefeiert, ruft nun besorgte Stimmen auf den Plan, die verzweifelt fragen, wo Europa mit seinen Abermilliarden Euros neue Waffensysteme kaufen soll, da den europäischen Generalstäben bewusst wird, dass praktisch alle modernen Waffensysteme ständige Updates benötigen, die im Zweifelsfall die US amerikanischen Hersteller verweigern könnten, wenn die Divergenzen eine bestimmte Fallhöhe erreichen sollten. Die Franzosen setzen seit Jahrzehnten auf eigenständige Waffenentwicklung – und Produktion, was eben noch als postimperialer Größenwahn einer ehemaligen Weltmacht erschien, die spätestens 39 in die reale Bedeutunglosigkeit gefallen war, ist nun der neue Sound der westeuropäischen Aufrüstung. Die Tendenz zum Krieg hat schon vor Jahren die Agenda des grünen Kapitalismus abgelöst, nur eine blasierte kleinbürgerliche deutsche Blase, von der grünen Partei bis in die sogenannten postautonomen Vorfeldorganisationen hat dies immer noch nicht realisiert. Und nein, die Zeitenwende ist nicht der Ausbruch des Ukraine Krieges, sondern die Perspektivlosigkeit des Kapitalismus in seiner Verwertungskrise, die immer neue Blasen produziert, die alle, latent instabil, jederzeit die gesamte soziale Zusammensetzung in den Metropolen innerhalb von Wochen, vielleicht sogar Tagen, zusammenbrechen lassen können, 2008 war im Vergleich dazu nicht mal eine Vorahnung eines Vorbebens, der Absturz an den Tech Märkten am Tage des Triumphes von DeepSeek kommt einer Simulation der kommenden apokalyptischen Reiter der Märkte wohl eher näher, nicht in den Dimensionen, aber in der Geschwindigkeit und dem unvermittelten Aufprall. Im Grunde spielt es keine Rolle ob Trump die Strafzölle für kanadische oder mexikanische Importe beibehält, reduziert, oder wieder ganz zurücknimmt – ob und wie lange er seinen Hofnarren Musk noch an seiner Tafel Platz nehmen lässt, der es sich in Verkennung der wirklichen Machtverhältnisse schon innerhalb von wenigen Wochen mit der Hälfte der Regierungsmitglieder verscherzt hat (in den Führungsetagen von BlackRock & Co lacht man sich eh scheckig über die neuen libertären Pausenclowns Musk, Milei und Co mit ihren Marsbesiedlungsplänen und Kettensägenmassakern, billiger Unterhaltungstrash der von den wirklichen strategischen Entscheidungen der wirklichen Big Player ablenkt, die die eigentliche Politik, auch von Trump, diktieren und diktieren werden) – die wirklich interessanten Fragen sind die Positionierungen im Kräftemessen zwischen China und den USA, in diesem Kontext kommt auch Russland ins Spiel, und das ist auch eine der möglichen Optionen der USA: Russland wieder in den Kreis der Großmächte aufzunehmen und so den Riss zwischen China und Russland zu verbreitern, eine strategische Triangel ist immer ein schwierig zu bespielendes Feld, politisch, wirtschaftlich und militärisch. 

Das der Ukraine Krieg durch Verhandlungen beendet werden wird, und die Größe der Gebietsverluste der Ukraine lediglich durch die Militärleistungen des Westens definiert werden wird, war spätestens ab dem Augenblick klar, als der russische Vormarsch auf Kiew 30 km vor der Hauptstadt zusammenbrach. Dass das westliche strategische Kalkül, Russland durch Sanktionen, Verlust an Menschen und (militärischen) Material, Zermürbung und innenpolitischer Destabilisierung endgültig auf die Größe einer Mittelmacht zusammen zu stauchen, gescheitert ist, war in den westlichen Militärstäben seit weit mehr als einem Jahr klar, es fehlte nur der gemeinsame Wille (oder auch Fähigkeit) der westeuropäischen politischen Klasse, eine Strategieänderung zu postulieren, Trumps all in schafft insofern nur die Anerkennung einer Realität, die überfällig ist. Gleichzeitig zwingt er die Westeuropäer dazu, jetzt den Sprung in die Vorbereitung auf die Kriegswirtschaft zu realisieren, mit all ihren finanz-und gesellschaftspolitischen Folgen. In Deutschland die gigantische Neuverschuldung mithilfe einer Grundgesetzänderung, die mal so eben von einem eigentlich nur noch kommissarisch zuständigen Bundestag beschlossen werden wird. Wesentliche Teile des Infrastrukturprogramms, das bis zu einer halben Billion (!) Euro umfassen soll, sind eben Teil der Kriegsertüchtigung Deutschlands, dass die Tik Tok Fraktion der PdL dazu Beifall klatscht sagt genau das Wesentliche über die staatstragende Haltung dieser Partei aus, für die sogar die Szeneblase der Hauptstadt in den Wochen vor der Bundestagswahl Klinken putzen gegangen ist. Hinzu kommt die Erhöhung des Wehretats, der als einziger Haushaltstitel von der sogenannten Schuldenbremse ausgenommen werden soll, schon jetzt erreicht Deutschland dank des “Sondervermögens” den von der NATO geforderten 2 % Anteil der Militärausgaben am BIP, die gerade bekannt gewordenen neuen Zielvorgaben der NATO gehen allerdings von einer annähernden Verdopplung der Ausgaben auf 3,6 % des BIP aus. Was das für Verschiebungen im Bundeshaushalt bedeuten wird bei einem weiterhin bescheidenen Wirtschaftswachstum ist ebenso glasklar wie die überflüssige Frage, wo gespart werden wird. Querfinanzierung Renten – und Sozialleistungen, erhebliche Erhöhung von Steuern und Abgaben für Lohnabhängige, Sanktions – und Einsparungspolitik für die Empfänger von Transferleistungen,… Dazu kommt die Kriegsertüchtüchtigung von “Land und Leute” (Wiedereinführung der Wehrpflicht, Vorbereitung der medizinischen Versorgung für den “Ernstfall”, die “Krankenhausreform” bekommt so noch einmal eine ganz andere Stoßrichtung). Die letzten Jahre mit all der Ertüchtigung der wehrhaften Demokratie mit dem Probelauf eines allgemeinen Ausnahmezustandes (im Kontext der Corona Pandemie), die dreijährige Mobilisierung für den gerechten Krieg der Ukraine, die permanente Hetze gegen die Fremden und Sozialschmarotzer haben ihre tiefen Spuren in den Massen hinterlassen. Über Dreiviertel halten in jüngsten Umfragen die umfassende Kriegsertüchtigung Deutschlands für begrüßenswert. Die Frage nach deutschen Atomwaffen wird unvermeidlich als nächstes aufgeworfen werden. Überall Entgrenzung und die generelle Tendenz zum Krieg. 

Eine der spannendsten Diskussionen im Zusammenhang mit den Theorien über die Wurmlöcher in der Relativitätstheorie behandelt die Frage, ob diese, (vereinfacht ausgedrückt) im Prinzip extrem instabilen “Tunnel durch die Zeit” es erlauben würden, dass auch Objekte diese “bereisen” könnten. Im Prinzip nicht, aber… lautet das derzeitige wissenschaftliche Credo. Wenn wir jedoch  die diversen überraschenden Wortmeldungen und Ereignisse der letzten Tage und Wochen Revue passieren lassen, kommen wir nicht um den Zweifel herum, dass die Zeiten anfangen durcheinander zu purzeln, sich Geschichten und Subjekte aus vergangenen Jahrzehnten in unser Hier und Jetzt mit einer Heftigkeit hineindrängen, dass wir zumindestens ihre anhaltende geschichtliche Relevanz nicht verneinen können. 

BROTHERS (AND SISTERS) IN ARMS 

Dazu gehört: Auf der einen Seite tourt derzeit eine ehemalige Militante der RAF, die sich nach dem Zusammenbruch der DDR, wohin sie “aus der RAF” emigrierte, der BAW als Kronzeugin andiente (weshalb sie trotz einer Verurteilung im Zusammenhang mit dem Tod von Schleyer nur 5 Jahre im Knast saß), mit einer autobiografischen Erzählung durch die Lande und kaum ein wichtiges Medium, dass ihr keinen Raum einräumt, und mit Genugtuung ihren Satz kolportiert, dass “die RAF am Ende genauso schlimm wie die SS geworden sei”. Auf der anderen Seite unternimmt ein anderer ehemaliger Militanter der RAF (während nach der Festnahme von Daniela Klette eine intensive bundesweite Fahndung nach ihm läuft) den ehrenwerten Versuch quasi im Alleingang die Geschichte der RAF, ihre geschichtliche Verortung, ihre Erfahrungen, ihre Fehler aufzuarbeiten. Eine Herkulesaufgabe, die bisher, 30 Jahre nach der letzten Aktion der RAF, nur einige Wenige der ehemaligen Mitglieder der RAF, bruchstückhaft unternommen haben, wenn man von den diversen, autobiografischen Auskünften, meist in Form von Büchern und Interviews, absieht. 

Jenseits der zahlreichen, notwendigen Anmerkungen, Kritiken und anderen Sichtweisen auf die Geschichte der RAF von Anfang der 70er bis zu ihrer Auflösung 1998 (die an anderer Stelle und in anderem Kontext erfolgen sollten) ist im Rahmen dieser Abhandlung der mögliche Sprung “durch die Zeit” von Bedeutung. In diesem historischen Momentum, in dem die Weichen für den Übergang vom permanenten Ausnahmezustand zum permanenten (latenten) Kriegszustand gestellt werden, drängt ein alter realer Antagonismus wieder in den Diskurs. Und so richtig die Kritik von Burkhard Garweg an der “zunehmenden Militarisierung der Politik der RAF” ist, so unmittelbar ergibt sich die Möglichkeit in den Diskurs einzudringen, ihn dazu zu zwingen, die Positionen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, eben aus der Tatsache, dass die RAF dem deutschen Staat in unerbitterlicher Feindschaft bewaffnet gegenüber stand. Die bittere Wahrheit ist aber auch, dass nun, da wir praktisch unbewaffnet dastehen, uns auch viele theoretische Waffen abhanden gekommen sind. Und der alte Antagonismus, der zu uns durch die Zeit springt, nicht nur die realen Waffen gestreckt, sondern auch theoretisch unbewaffnet zu uns stößt. Die Aktion gegen den im Bau befindlichen Knast von Weiterstadt, die letzte Aktion der RAF, bei der der gesamte Bau buchstäblich in die Luft gejagt wurde, war praktisch vielleicht die gelungenste Aktion der RAF, die Erklärung dazu wimmelte jedoch von linken Allgemeinplätzen und vagen Formulierungen, das ganze wirkte geradezu wie eine sprachliche und begriffliche Anbiederung an eine autonome Szene, die sich zu diesem Zeitpunkt schon lange selbst von jeglicher gesellschaftlichen Relevanz und Verortung verabschiedet hatte. Es handelte sich bei Weiterstadt mitnichten um eine Rückkehr zur “Propaganda der Tat, jener Vorstellung revolutionärer Praxis aus der Geschichte der anarchistischen Bewegung. Damit war sie in ihrer Rückkehr zu einem Handeln innerhalb des gesellschaftlichen Verhältnisses angemessen populistisch im besten Sinne” wie Burkhard Garweg schreibt. Die RAF konnte mit dieser “neuen Linie” auch keine neue Verankerung, zumindestens in der anarchistischen und autonomen Linken, herbeiführen. Der überfällige Weg der Auflösung der “Projektes” RAF erfolgte dann auch folgerichtig wenig später. 

Bei aller aufrichtigen Dankbarkeit für den umfangreichen Versuch, die Geschichte der RAF, kritisch beleuchtet, umfangreich aufzuschreiben, scheitert der Text von Burkhard Garweg an der Behauptung seines eigenen in der Einleitung fixierten Anspruches: “Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt – Zur Geschichte der RAF und der Frage der Rekonstruktion einer antikapitalistischen, sozialrevolutionären, antipatriarchalen und internationalistischen Bewegung in der heutigen Zeit.” Ohne jeglichen Bezug zu den Diskussionen der letzten 15 Jahre, vom “Kommenden Aufstand” über den sogenannten “arabischen Frühling”, die lange Abfolge der weltweiten Revolten, die Reflexionen über die Veränderungen der Klassenzusammensetzung, die Bedeutung der Bewegung der Gilets Jaunes “im Herzen der Bestie”, die Entdeckung und theoretische Unterfütterung der “Non-Bewegungen”, verharren seine Zeilen im Schlußkapitel zum “Heute” im Gestus einer identitären Szenelinken, die sich historisch schon lange überlebt hat. Der alte Antagonismus springt zu uns durch die Zeit, die wertvollen Erfahrungen müssen aber in einem anderen Kontext im Widerschein der heutigen Konfliktualität diskutiert werden, um daraus etwas machen zu können, womit sich die heutigen und zukünftigen Kämpfe “bewaffnen können”. Wenn wir nach Italien schauen, was Burkhard Garweg ja in seinem Text auch mehrmals tut, so sehen wir dort wirkliche Ansätze einer generationsübergreifenden Debatte über den “alten Antagonismus” und dem, was er Werkzeug sein kann, um die Gegenwärtigkeit der sozialen Konfliktualität zu begreifen und in ihr zu intervenieren. 

Die allgegenwärtige Tendenz zum Krieg, der Zusammenhang mit der Verwertungskrise des Kapitals, der Versuch dagegen überhaupt Fundamentalopposition zu entwickeln, sind seit Jahren Diskussion bei den italienischen Gefährten. Von den Jungen bis zu denen, die ehemals illegal und bewaffnet organisiert waren. Die wirkliche Stärke der RAF war immer der Horizont, den sie durch ihre Existenz aufgezeichnet hat. Die Frage der Organisierung von Gegenmacht. Um nicht weniger geht es heute immer noch,  im Angesicht der weiter oben angerissenen Epoche der allgegenwärtigen Tendenz zum Krieg dringlicher denn je.

Aber entweder beendigt der Kommunismus die Geschichte der Widersprüche und des Schmerzes nicht, dann weiß man nicht, wie so viel Anstrengung und Opfer zu rechtfertigen, oder er beendigt sie, dann kann man sich die Fortsetzung der Geschichte nur noch als Marsch nach dieser vollkommenen Gesellschaft vorstellen. Ein mystischer Begriff wird dann willkürlich in eine Schilderung von wissenschaftlichem Anspruch eingeführt. Das schließliche Verschwinden der politischen Wirtschaft, Lieblingsthema von Marx und Engels, bedeutet das Ende jedes Schmerzes. Die Wirtschaft fällt in der Tat mit der Not und dem Unglück der Geschichte zusammen, die mit ihr verschwindet. Wir sind im Garten Eden. 

Der Mensch in der Revolte – Albert Camus 

Part 2: Wurmlöcher des Antagonismus (Subjektivismus und Klasse) 

Seht euch diese Schafe an, die einfach so im Strom des Systems mitschwimmen! Guck dir den da an! Der sieht doch eigentlich ganz nett aus. Mit seinem speckigen Ziegenarsch- Leder. Aber das is sicher einer von den schlimmsten! Siehst du! Die, die auf der Rolltreppe stehen bleiben, lassen sich einfach vom System tragen! Das sind die Leute, die Le Pen wählen, aber keine Rassisten sind. Das sind die selben Leute, die Streiks veranstalten, wenn die Rolltreppe mal ausfällt! Spiesserärsche…

La Haine 

STRIKE (BACK!) 

Sommer 2023, die Unruhen, die begannen, nachdem ein Bulle den 17jährigen Nahel Merzouk am hellichten Tage mit Schüssen aus seiner Dienstwaffe in einem Vorort von Paris exekutiert hatte, enden wie auf ein geheimes Zeichen hin genauso plötzlich, wie sie landesweit aufgeflammt waren. Der französische Arbeitgeberverband bilanziert Sachschäden in Milliardenhöhe, dutzende Polizeiwachen sind in Brand gesetzt worden, hunderte Schusswaffen aus Waffengeschäften, aber auch aus Beständen der Polizei, haben im Zuge der Unruhen die Besitzer gewechselt. Nach den Gründen für das Ende der Unruhen befragt, äußern einige Protagonisten des Geschehens gleichlautend “weil es nichts mehr zu plündern gab”. Was auf den ersten Blick als flapsige Bemerkung daher kommen mag, ist in Wirklichkeit die brillante Analyse der Partei, die von ihrem historischen Entstehen noch keine Vorstellung hat. 

Der Sommer 2023 markiert den Höhe – und Endpunkt der weltweiten Revolten, Aufstände und unvollendeten Revolutionen, deren Flammen sich in den letzten 15 Jahren durch den Globus gefressen haben, entfacht in den Slums und ländlichen Nirwanas des Maghreb. Sich jeglicher Repräsentanz verweigernd, in der Programmatik schlicht und einfach auf den Umsturz “des Regimes” (gleich welcher Spielart) abgestellt, sich selber sammelnd um zentrale Begriffe wie Würde und Freiheit, rasend vor Wut (die Klasse, die sich ihrer selbst bewusst, aber keine Imagination ihrer Überwindung hat), wüten sich die Unruhen auch durch die Jahre des weltweiten Corona Ausnahmezustandes (der intuitive Begriff der Klasse davon, dass es sich um einen Angriff auf sie selbst handelt, in keiner Sekunde dem Gerede von der Fürsorge des Staates glaubend – was sie endgültig von jeglicher Verbundenheit mit der Linken befreit), nehmen in jener Zeit sogar an Fahrt auf, bringen das totalitäre Zero Covid Konzept der staatskapitalistischen chinesischen Führung nach über 2 Jahren Terror innerhalb von 48 Stunden durch sich explosiv ausbreitende Unruhen zu Fall, ein letztes Mal als historische Reminiszenz stürmen Hunderttausende im Juli 2022 den ”Winterpalais” von Colombo. 

Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.” Das berühmte Bonmot von Marx, millionenfach rezitiert, fährt aber (und das fällt meistens unter den Tisch) fort: “Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.” Die geschichtliche Entwicklung, das konkrete Kräfteverhältnis, aber auch die “Last aller toten Geschlechter”, von denen Marx in diesem Zusammenhang auch spricht, begrenzen jeden Subjektivismus, Revolution ist nie ein freier Willensakt, sondern das Ergebnis revolutionären Handelns im Kontext geschichtlicher Bedingungen, die den Umsturz ermöglichen. Der traurige Irrtum des Ches, der die Einmaligkeit des kubanischen Umsturzes erst in Afrika und dann in Bolivien erfolglos kopieren wollte, ein Irrtum, den große Teile einer ganzen Generation von Militanten der Stadtguerilla in Lateinamerika, aber auch in Europa, teilten (die sogenannte Fokustheorie) und der Unzähligen von ihnen das Leben kostete. Der symbolträchtige ‘Sturm auf den Winterpalast’ (wie in Colombo 2022) kann nur als geschichtliche Farce inszeniert werden, als hilfloser Ausdruck einer Revolte der Klasse, die nicht weiß, wie sie Partei werden kann, wie sie die geschichtliche Reife erreichen kann, die sie zur Revolution befähigt. Die mit sich die Tragödie von 1905 (“die Last aller toten Geschlechter) schleppt, das Massaker auf den Stufen der Potemkinschen Treppe, die Szenen aus Eisensteins Film, hundertfaches Pop Zitat von Brian de Palmas “Die Unbestechlichen” bis zu Terry Gilliams “Brazil”, eingebrannt in das kollektive Unbewusstsein. Die Klasse, die ihre Revolte im Sommer 2023 schlagartig abbricht, als “alles geplündert ist”, weiß um ihre geschichtliche Unreife, sie geht bis an die Grenze dessen, was unter den Bedingungen möglich ist, sie eignet sich der Wert ihrer Arbeit in den Plünderungen temporär an und beendet die Revolte dann, weil sie jetzt zu mehr nicht in der Lage ist. Oder wie italienische Genossen über die Aufstände in Frankreich sinngemäß geschrieben haben “die Aufständischen haben noch keine Forderungen, aber wenn sie welche hätten, wären diese das Programm der zukünftigen revolutionären Partei”. 

Die geschichtliche “Unreife” der Revolte der Banlieue entbindet nicht von der Notwendigkeit, sich in der Analyse des Geschehens jene Brennschärfe anzueignen, um wieder “auf der Höhe der Zeit” revolutionäre Theorie voranzutreiben. Der im letzten Jahr verstorbene Emilio Quadrelli schrieb in diesem Zusammenhang „Der objektive Zustand der Ausgrenzung und Marginalität der Bevölkerungen, die im Kontext der Banlieues leben, d.h. in den Randgebieten der globalen Metropolen, präfiguriert das Schicksal eines großen Teils der zeitgenössischen subalternen sozialen Klassen und repräsentiert somit die Geschichte unserer Gegenwart. Mit anderen Worten, die Banlieue ist die exakte Kristallisation der gegenwärtigen proletarischen Bedingung, einer Bedingung, die das Ergebnis jener Praktiken der kolonialen Herrschaft ist, die das strategische Projekt par excellence des gegenwärtigen kapitalistischen Kommandos darstellen. Aus dieser Perspektive sind die Banlieues also unsere Putilow-Werke“. Aus Gründen ist eine solche Lesart eine (noch) minoritäre Position, weil sich im Diskurs immer noch die verschiedensten Gralshüter der historischen Linken tummeln. Die mit ihren “großen Streiks”, den Gewerkschaftsprozessionen, den immer neuen Parteigründungen (die NIEMALS die historische Partei repräsentieren, sowohl programmatisch als auch, wie ebenfalls Emilio Quadrelli schreibt: “Von der Klasse zur Partei und nicht andersherum.“), ihren Camps, Kampagnen; Medien und Netzwerke immer noch und immer wieder einen nicht unbeträchtlichen Teil der Menschen einfangen, die eigentlich aufrichtig auf der Suche nach einem Bruch mit dem Bestehenden sind. Die Begrenzung des Subjektivismus schlägt unerbärmlich zu.

BEWEGUNGSGESETZE

Um genau an dieser Stelle erneut auf den Text von Burkhard Garweg zur Geschichte der RAF und der jetzigen Situation im Neuen Deutschland zurückzukommen. Natürlich konnte eine Stadtguerilla hier in diesem Land unter den gesellschaftlichen Bedingungen über all die Jahre nur eine „antiimperialistische” Ausrichtung haben, sich als “Fraktion” im “weltweiten Klassenkampf” definieren, eine “sozialrevolutionäre” Perspektive für eine Gruppe im Untergrund gab es schlichtweg nicht (auch wenn Einige, vielleicht auch Viele das Anfangs gehofft hatten), nicht umsonst hat sich die Bewegung 2. Juni später aufgelöst und sind einige von ihnen zur RAF gegangen, wurde das Projekt Revolutionäre Zellen, bzw. später auch Rote Zora, zwar als “sozialrevolutionäres” „Stadtguerilla Projekt” initiiert, die meisten ihrer Leute bleiben allerdings legal oder gingen in “internationalen Zusammenhängen” (palästinensische Gruppierungen) kämpfen. Worauf ich hinaus will: Im Unterschied zu den Roten Brigaden, die bis in die Fabriken hinein ein breite Verankerung hatten, und in denen sich verschiedenste Flügel mit unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen bilden konnten, hatten die Militanten der RAF keine andere Wahl, als innerhalb der vorgefundenen gesellschaftlichen Begrenzungen zu kämpfen. Oder das Projekt wieder aufzulösen. So aber hat das Projekt RAF all die Jahrzehnte sich aus dem Subjektivismus ihrer Protagonisten gespeist, der Irrtum wäre, ihr oder ihren Protagonisten das vorzuwerfen. Und natürlich wäre sicherlich viel eher ein Einsehen da gewesen, wenn da nicht “die Frage der Gefangenen” gewesen wäre, die Rache des Staates und sein Vernichtungsverhältnis gegenüber “seinen Geiseln”. 

Und selbstverständlich ist es richtig und notwendig, die Geschichte der Stadtguerilla als unser aller Erbe zu verteidigen, ebenso wie ihre Fehler zu benennen, ihre „militaristische Logik” ebenso wie ihren im schlechtesten Sinne „Avantgarde-Anspruch”, aber all diese Kritik greift zu kurz, ebenso wie die “Bemühungen” der RAF um eine “Kurskorrektur” in ihrer letzten Phase, als “die Bewegung”, auf die sie sich nun endlich auf Augenhöhe bezog, schon de facto nicht mehr existent war. Aber auch das ist nur eine Verzerrung des allzu verbreitenden Subjektivismus, und ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Natürlich gilt es immer, jede Kritik an allem und jedem unter den konkreten Bedingungen der damaligen Zeit zu leisten. Alles andere wäre billig und selbstgerecht. Wenn wir jedoch, um auf  den ersten Teil von “Wurmlöcher des Antagonismus” zurückzukommen, uns mit “durch die Zeit zu uns gesprungenen alten, bewaffneten Antagonismus” befassen, um daraus für die jetzigen und zukünftigen Kämpfe zu lernen, bedarf es einer grundsätzlichen kritischen Betrachtung, die endlich jene subjektivistische Begrenzung aufhebt, die schon ein “Geburtsfehler” der RAF war. Nicht “der Wille versetzt Berge”, sondern die konkreten Kräfteverhältnisse im Klassenkampf bringen uns dem wirklich Sturz dieses Systems näher, das uns alle erstickt und mit in den Abgrund reißt. Ohne Zweifel kommt es immer irgendwann unvermeidlich zum bewaffneten Zusammenstoß im Zusammenprall zwischen unserer Klasse und dem Kapital und seinen Apparaten, das weiß jeder, der nur ein halbes Dutzend Bücher über die Geschichte der letzten 200 Jahre gelesen hat. Wenn es wieder so weit ist, sollten wir aus unserer Geschichte und unseren Niederlagen umfassend gelernt haben, deshalb darf die (Selbst)Kritik an unseren politischen Gehversuchen nicht halbherzig bleiben, sonst stehen wir bei dem nächsten Zusammenstoß von vornherein auf verlorenem Posten. 

Die Kunst des Krieges lehrt uns nicht, auf den Feind zu hoffen, der unseren Willen erfüllt.

Sun Tzu

Part 3: Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [1] 

Dabei ist davon auszugehen, dass die transnationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander stehen, aber es eben auch Überschneidungen ihrer Strategien gibt, insofern sie kein Interesse an Staaten haben, die ihnen den Zugang zu ihren Märkten erschweren oder gar verwehren.

Achim Szepanski: Die Ekstase der Spekulation  

FRISS ODER STIRB (SELBST) 

Nur kurze Zeit nachdem Trump die neuen Strafzölle für Importe verkündet hatte, deren Effekte für die US Wirtschaft den New Deal in den Schatten in den Schatten stellen sollen, brach an den US Börsen die Hölle aus. Beim S&P 500 Index, der die 500 wichtigsten börsennotierten US Unternehmen zusammenfasst, brachen in der Nacht zu Freitag die Kurse auf breiter Front ein und es kam zu Verlusten in Höhe von 2,8 Billionen Dollar. Die berühmten 1% traf es besonders hart, die 500 reichsten Menschen der Welt verloren an einem einzigen Tag über 200 Milliarden Dollar. Ironischerweise gehörten die Tech-Milliardäre Zuckerberg, Bezos und Musk zu den ganz großen Verlierern, allein Zuckerberg, der sich ebenso wie die anderen “jungen Wilden” zur Amtseinführung von Trump eingefunden hatte, verlor an seinem persönlichen “schwarzen Freitag” an die 18 Milliarden Dollar an Vermögenswerten. Die gesamte US Technologiebranche, die eigentlich der Motor zur Bewältigung der Kapitalverwertungskrise sein sollte und deren Kurse in den letzten Jahren durch die Erwartungen an die “KI-Revolution” unglaublich gehypt worden waren, hatte schon jüngst den Einbruch der Kurse durch die Präsentation des chinesischen Mosquito DeepSeek wegstecken müssen. Daniel Ives, Managing Director und Senior Equity Research Analyst für den Technologiesektor bei Wedbush Securities, einer der gefragtesten strategischen Analystengrößen sprach angesichts von Trumps Ankündigungen von Strafzöllen von einem “drohenden ökonomischen Armageddon”. Auch in Europa kam es als Reaktion auf den von Trump erklärten “Handelskrieg” (sowie der Reaktion der chinesischen Regierung, mit gleicher Münze heimzuzahlen) zu massiven Kurseinbrüchen an den wichtigsten Börsenplätzen. Der Dax gab um die 5% nach, auf gleicher Höhe bewegten sich die Kurseinbrüche des Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50. In der Wochenbilanz gaben die Dax Werte um 8% nach, der größte Absturz seit dem Beginn des Ukraine-Krieges. 

Wie schon in der Frage des Ukraine-Krieges geht Trump erneut All in. Und erneut verbindet er seine Drohungen mit der Aufforderung, sich mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen, um neue Modalitäten mit ihm auszuhandeln (Die Strafzölle für mexikanische und kanadische Produkte hatte er wieder “ausgesetzt”, nachdem ihm die Regierungen der beiden Länder in den Fragen der “Grenzsicherung” und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entgegen gekommen waren.). Doch diesmal könnte er sich verspekuliert haben. Nicht nur, dass ihm die treue Gefolgschaft der Technologiebranche entfolgen könnte, auch die Big Player der weltweit agierenden Investmentfonds von BlackRock und Co werden eine dauerhafte Vernichtung ihrer Vermögenswerte nicht tatenlos hinnehmen und Trump zu einer Kurskorrektur zwingen, bzw. verstärkt in den westeuropäischen Markt investieren, auf dem sie stabilere und berechenbarere Rahmenbedingungen vorfinden. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” ausgeführt, wird Trumps Strategie die geopolitische, wirtschaftliche und militärische Ordnung grundlegend umgestalten, insofern vollzieht der neue Kurs der US Regierung nur die überfällige Korrektur, die aus der Verwertungskrise und dem Konflikt um die Hegemonie mit China folgt, ob diese Korrekturmaßnahmen allerdings von Erfolg gekrönt sein werden, oder die Figuren auf dem Schachbrett ganz anders und entgegen der Vorstellungen von Trump neu aufgestellt werden, steht auf einem anderen Blatt. Trump wird also entweder seine Anpassungsfähigkeit an die Gesetze des Marktes auch in der Rolle des politischen Leaders beweisen müssen (was ihm in seiner ersten Amtsperiode mit wesentlich bescheideneren Ambitionen gelungen ist) oder er wird nur eine Randnotiz der Geschichte bleiben, gezügelt und gekränkt kastriert von den Gesetzen des Marktes. So oder so, die Tendenz zum Krieg, der Übergang vom „permanenten Ausnahmezustand” zum “permanenten (latenten) Kriegszustand” ist in die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungskrise des Kapitals eingeschrieben und nicht das Ergebnis der Boshaftigkeit “alter, weißer Männer”. Jegliche gesellschaftliche antagonistische Option sollte sich auf das dringlichste von solchen moralisierenden Weltbildern verabschieden und sich auf der Grundlage einer materialistischen Analyse konstituieren.

DER HUNGER DER MASSEN NACH POLITIK 

Vor gut 20 Jahren haben neuseeländische Wissenschaftler die (bisher nicht bezweifelte These) aufgestellt, dass “exotische Materie” in der Lage ist, stabile Wurmlöcher im Universum zu kreieren. Das Problem besteht aber darin, dass diese exotische Materie im Gegensatz zu “normaler Materie” nicht aus Atomen besteht, nicht künstlich erzeugt werden kann und die durch die “exotische Materie” erzeugten Wurmlöcher schon durch ein einzelnes Atom zum Einsturz gebracht werden können, wie Hawking herausgearbeitet hat. Ein weiterer Grund, “Zeitreisen” von Objekten nach dem derzeitigen Kenntnisstand auszuschließen…

Um an die Ausführungen von ‘Wurmlöcher des Antagonismus’ anzuschließen, geht es in der derzeitigen historischen Zuspitzung nicht nur um die Rückbesinnung auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse und den notwendigen radikalen Bruch mit allen Linien der (linken) Identitätspolitik sondern auch um den Bruch mit der defätistischen apokalyptischen Erzählung, die keine Handlungsspielräume ermöglicht und sich völlig losgelöst von dem konkreten Niveau des Klassenantagonismus im diskursiven Raum bewegt. Geht es darum, sich den neuen Blick auf die Welt, den sich die Aufständischen und Rebellen in den letzten 15 Jahren erkämpft haben, nicht wieder durch die immer auf Partizipation ausgerichtete Erzählung der ‘historischen Linken’ verstellen zu lassen. Das ganze Gerede vom “faschistischen Monster”, gegen das es scheinbar kein Gegengewicht gibt als vage Hoffnungen (und Bündnisse mit der ‚gesellschaftlichen Mitte’) verneint diese Erfahrungen der letzten 15 Jahre, versucht sie auszulöschen. Nicht, dass es die Faschisierungstendenzen nicht geben würde, aber es gilt diese einzuordnen im Kontext von Markt und Klassengegensatz. Die vorherrschende Erzählung vom “Kampf gegen den Faschismus” produziert nicht nur (bürgerliche) Bündnispolitik, sondern erschafft zugleich eine Handlungsunfähigkeit eines ‘realen Antifaschismus’, der sich immer im grundsätzlichen Antagonismus zum Kapital konstituieren muss. So wie die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungslogik die politischen Optionen der extremen und populistischen Rechten begrenzen (siehe u.a.die Entwicklung in Italien nach dem Wahlsieg von Meloni), ist realer Antifaschismus nur denkbar auf der Grundlage einer Analyse der derzeitigen realen Klassengegensätze. Alles andere ist im Zweifel lobenswert, aber nicht mehr als Symbolpolitik und identitäre Traditionspflege.   

In diesem Sinne macht Emilio mit der Chronik [s.u.] einen weiteren Schritt: Er skizziert nicht nur die Merkmale des neuen Großstadtproletariats, d.h. die Klassenzusammensetzung nicht in ihrer soziologischen Abstraktheit, sondern in ihrer politischen Konkretheit, sondern versucht auch, die Konturen einer möglichen politischen Projektualität für die Subalternen nachzuzeichnen, da ‘der Hunger der Massen nach Politik’ dringend Organisations – und  Selbstorganisationsformen benötigt, die in der Lage sind, eine Weltsicht und die Ausübung von Gewalt zu konstruieren, d.h. die historische Zeit zu erfassen und mit ihr Schritt zu halten.

Von der Unterwelt in Manchester zur Unterwelt in der Banlieue  – 
Atanasio Bugliari Goggia

So beginnt Goggias Abhandlung über die ‘militante Untersuchung’ von Emilio Quadrelli über die Entwicklung in Frankreich von den Unruhen von 2005 nach dem Tod von Ziad Benna und Bouna Traoré bis hin zu den landesweiten Riots 2024 nach dem Tod von Nahel Merzouk. Während eine ‘historische Linke” sich immer noch völlig unfähig zeigt, sich mit der gegenwärtigen Klassenkonfliktualität anders als soziologisch oder sozialarbeiterisch, also konterrevolutionär, zu befassen, reisst Emilio Quadrelli für uns den aufständischen Horizont auf. Zu den Aufständen und Revolten der letzten 15 Jahre ist so vieles Richtiges und Wichtiges gesagt und geschrieben worden, häufig auch von den Protagonisten selbst. Wenig in diesem Land, aber wer will, wird auch wichtige und gute Texte in deutsch (nicht wenige davon Übersetzungen aus anderen Ländern) dazu finden. Die zentrale Konfliktlinie, die sich von Kairo 2008 über Athen 2011 bis hin zu jenem heißen Sommer im vergangenen Jahr in Frankreich durchzieht, ist ausreichend beschrieben und analysiert worden. An dieser Stelle nicht (noch) mehr davon. Wer es bisher nicht zur Kenntnis genommen hat, dem wird auch an dieser Stelle nicht zu helfen sein. Nun geht es um den nächsten Schritt. Aus der sozialen Konfliktualität eine politische zu realisieren. Dem “Hunger der Massen nach Politik” Futter zu geben. Die Partei, die imaginäre, wie die französischen Gefährten schreiben, oder die künftige revolutionäre, wie die italienischen Genossen sagen, steht auf der Tagesordnung. Wobei sie absolut nichts zu tun hat mit den zahllosen Sekten, die überall am Entstehen sind und ihre Überflüssigkeit wie ihre praktische wie intellektuelle Sinnlosigkeit wahlweise mit Sozialistische oder Kommunistische Was-Auch-Immer bemänteln. 

Hier nun finden wir unsere Aufgabe wie unser historisches Erbe. Hier finden wir auch den Bezug zu dem Versuch, im “Zentrum der Bestie”, sich im aufständischen Prozeß intellektuell wie praktisch zu bewaffnen. Mit allen Irrtümern, die diesem Versuch angehaftet sind. Nicht zufällig kamen fast alle Gründungsmitglieder der Bewegung 2. Juni selbst aus dem Proletariat und nicht aus dem akademischen Milieu der 68er, reichen die Wurzeln der RAF zurück auf die Stadtteilarbeit mit den Menschen im proletarischen Neubaughetto Märkisches Viertel und die Arbeit mit jugendlichen Trebegängern und Heimflüchlingen. 

konsumentenpolitik ist warenpolitik. die ware ist der konsument. mit dieser zuspitzung der geschichte, die von den global organisierten und global kollaborierenden bourgeoisen gemacht wird, erklärt sich buchstäblich alles. ihre werte sind die ware und der markt, müll und müllhaufen..

Gudrun Ensslin: Kassiber aus dem Knast von Anfang 1973

Der Sound klingt so unglaublich aktuell. Über die Begrenzungen des Subjektivismus ist einiges in “Wurmlöcher des Antagonismus” gesagt worden. Jenseits der Begrenzungen steht die Notwendigkeit, den gescheiterten Versuch des bewaffneten Antagonismus im konkreten Klassenantagonismus der weltweiten Prozesse im historischen Kontext zu begreifen und einzuordnen. “Dem Volk dienen – RAF” würde heutzutage niemand mehr schreiben, aus guten Gründen – im Kern aber enthielt diese Aussage genau das Bemühen dem “Hunger des Massen nach Politik” eben jene “Organisations- und Selbstorganisationsformen” an die Seite zu stellen um dem Transformationsprozeß von der sozialen zur politischen Frage “Partei” zu sein. Aus dieser Erfahrung, mit allen Fehlern, Erfolgen und Irrtümern, zu lernen und einen Antagonismus auf der Höhe der Zeit theoretisch und praktisch, neu auf die Beine zu stellen, ist nun unser aller Aufgabe. Darunter geht es nicht. Wenn wir es ernst meinen. 

Auch. Als Vorkämpfer. Avantgarde im Sinne von: vorangehen. Nicht im Sinne von besser sein als die anderen. Aber wir haben zu wenig Kritik aufgenommen. Das ist das problematische an solchen Gruppen: wenn du dein Leben einsetzt, glaubst du, über eine höhere Berechtigung zu verfügen. Du bist an dem Punkt, wo alle erst hinkommen. Wenn es eine revolutionäre Entwicklung gibt, setzen alle ihr Leben ein. Wir kämpfen aber schon auf dieser Ebene. Das ist der höchste Einsatz, und andere können uns gar nicht mehr kritisieren. Es gibt die Tendenz, dass man selbstgerecht wird und selbstherrlich. Dann kippt es ab. Gut, das sehe ich jetzt im Nachhinein. Damals hätte ich das so nicht gesehen.

Keine Angst vor niemand – Gabriele Rollnik

Part 4: Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [2]

In den ersten Monaten des Jahres 1978 und nach dem tragischen Ende von Aldo Moro ist ein ständiges Anwachsen der bewaffneten Gruppen und bewaffneten Aktionen zu verzeichnen. In die größten Formationen strömen hunderte von Militanten aus der autonomia diffusa und ganze Sektionen von Fabrikavantgarden, exemplarisch in dieser Beziehung ist die Geschichte der Brigade Walter Alasia in Mailand, deren Mitglieder zu großen Teil Jugendarbeiter waren.”… “In der ‘Resolution der strategischen Leitung’ vom April 1975 hatten die BR endgültig die Form des Selbstinterviews aufgegeben um sich mit einem offiziellen Dokument darzustellen, das danach strebte eine Art Generalprogramm in der Tradition der historischen Parteien der Dritten internationale zu sein. Schon diese Entscheidung, scheinbar formal, war bezeichnend für die Setzung der bewaffneten Organisation als hegemoniales Element in der Komplexität des aktuellen revolutionären Prozesses. Also nicht mehr eine bewaffnete illegale Gruppe als Bezugspunkt der radikalsten Erfahrung in der Klassenkonfrontation, sondern eine wirkliche Organisation, die, indem sie den ‘bewaffneten Kampf’ als einzige strategische Linie der Klassenkonfrontation, als ‘die Form’ der Revolution setzte, dazu tendierte, in ihrem Innern alle von der Komplexität der realen Bewegung produzierten Erfahrungen umzuinterpretieren. Eine strategische Entscheidung dieser Art konnte nichts anderes als eine drastische Reduktion der Komplexität und des Reichtums der organisatorischen Erfahrung bewirken und damit eine fortschreitende Gegenposition zu anderen Kampferfahrung provozieren, nicht nur in den Resten der außerparlamentarischen Gruppen, sondern auch in der diffusen und organisierten Autonomia.

Die goldene Horde – Primo Moroni und Nanni Balestrini

VON ZEITEN UND ZEITPUNKTEN

Einer der Treppenwitze der Geschichte des militanten Antagonismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa ist, dass die Rote Armee Fraktion, die sich zu jeder Phase ihres Bestehens aus nicht (wesentlich) mehr als ein, zwei Dutzend Genossen und Genossinnen zusammensetzte, erst Mitte der 90er in jene existentielle Krise geriet, die schließlich 1998 zu ihrer Selbstauflösung führte, während die Roten Brigaden (BR), die zu ihren Hochzeiten tausende Militante und Unterstützer zählten, schon 1980 die ersten Spaltungen erlebten, als sich die Mailänder Kolonne Walter Alasia von den BR lossagte, um zu ihren “operaistischen Wurzeln” zurückzukehren. Jene Überreste der BR (die Ende der 70er, Anfang der 80er aberhunderte von inhaftierten Militanten und ‘Abtrünnige’ und ‘Abschwörer’ zu verkraften hatten), die als BR-PCC (Kämpfende Kommunistische Partei) zusammen mit der RAF und der Action Directe (AD) die “westeuropäische Front” aufbauen wollten, hatte zu diesem Zeitpunkt Anfang der 80er schon praktisch jeglichen Rückhalt in den Fabriken des italienischen Nordens verloren und auch ihr Rückhalt in den Überresten “der Bewegung”, die an ihrem Höhepunkt über 100.000 Militante mobilisieren konnte, und die ebenso von der Repressionswelle gebeutelt war, war nur noch marginal. Folgerichtig erklärt die “historische Führung” der BR 1987 den bewaffneten Kampf für beendet, auch wenn verschiedenste Splittergruppen unter wechselnden Namen weiterexistieren und bis Anfang des 21. Jahrhunderts Aktionen durchführten. 

In der sozialen und politischen Verankerung so extrem unterschiedlich, gleicht sich die Geschichte der RAF und der BR jedoch an verschiedenen Punkten, für diese Zeilen bedeutend soll die von Primo Moroni und Nanni Balestrini herausgestellte Umorientierung der BR Mitte der 70er sein, die “den bewaffneten” Kampf als “zentral” in der Klassenkonfrontation setzte, alle anderen Kampfabschnitte als nebenrangig betrachtete, eine Hybris, die sich auch durch das sogenannte “Front-Papier” der RAF von 1982 und die darauf gründende Aktionslinie der folgenden 10 Jahre zieht und auf die auch Burkhard Garweg in seinem im Neuen Deutschland veröffentlichten Text eingeht. Im Kern scheinen hier die gleichen sich aus einem Subjektivismus speisenden kapitalen Fehleinschätzungen zugrunde zu liegen und doch liegen die Dinge aus meiner Sicht etwas anders. Burkhard Garweg merkt in seinem Text an: “Eine auch sozialrevolutionäre und nicht nur antiimperialistische Stadtguerilla hätte vielleicht die Chance gehabt, die unabhängig von der RAF Ende der 70er und in den 80er Jahren entstandenen Bewegungen, die zum Teil auch militant waren: die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Anti-Nato-Bewegung, die feministische Bewegung und die Solidaritätsbewegungen mit den Befreiungsbewegungen des Trikont in einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen Fundamentalopposition zusammenzufassen.” 

Aus meiner Sicht unterliegt Burkhard Garweg hier einem entscheidenden Irrtum, denn woher hätte denn diese “sozialrevolutionäre” Orientierung kommen sollen, in dem historischen Kontinuum, im dem sich die RAF bewegte und das ihre innere, “historische” Logik repräsentierte, war nur ein “Bündnisangebot” an “die Bewegung” möglich, so wie es in dem “Frontpapier” von 1982 gemacht wurde (und selbstverständlich mit dem Anspruch einer “Führungsrolle” der bewaffneten Gruppe). Geschichte funktioniert nie als ein rückwärts gewandter Prozeß, so wie sich die Entwicklung oder auch “der Sprung” hinein in die “Bewaffnete Konfrontation” immer in konkreten historischen Bedingungen realisiert, so ist es nicht möglich “Geschichte zurückzunehmen”, deshalb strömten Hunderte in Italien aus der Autonomia in die bewaffneten Gruppen, auch zu den ideologisch eher fernen BR, aber es ist eben nicht möglich diesen Prozess zurückzudrehen, es gibt nur das (Eingeständnis des) Scheitern und die Suche nach neuen Wegen unter veränderten Bedingungen. Und deshalb war auch der Versuch der Mailänder Kolonne Walter Alasia der BR, “zu den operaistischen Wurzeln” zurückzukehren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. 

Und gegen den auch noch heutzutage von Teilen der ehemaligen Autonomia erhobenen Vorwurf, die BR hätten mit ihrer “Zuspitzung” in Form der Entführung und Liquidierung von Aldo Moro eben jene Repression heraufbeschworen, deren “Opfer” dann auch die Strukturen der Autonomia wurden, sei angemerkt, dass dieser Vorwurf simplifizierend und ahistorisch ist (was nicht impliziert, dass es nicht berechtigte Kritik an den strategischen Entscheidungen der BR zu üben gilt), weil die Repression nicht der eigentliche Grund für das Ende des Aufbruchs in Italien (Mitte bis Ende der 70er) war, sondern die Ursache sich in der mangelnden politischen, sozialen und organisatorischen Perspektive auf dem Höhepunkt der Bewegung 1977 verortet, die auch etwas mit der isolierten italienischen Entwicklung zu tun hatte, die zu diesem Zeitpunkt nicht in einem internationalen Kontext des Klassenkampfes stattfand und so in der “militarisierten” Sackgasse der diversen Gruppen endet. Unfähig die Klassenkonfrontation  auf das nächste Level zu heben (der Bürgerkrieg, bzw. die Tendenz zum Bürgerkrieg), nicht dazu fähig, diesen objektiven Mangel zu realisieren, wird “die Partei” nicht zur “historischen Partei” sondern als “bewaffnete Partei” zum Ausdruck eines Subjektivismus ohne eine ausreichende soziale und gesellschaftliche Verankerung, eine “Partei” die “von Außen” kommt, nicht “aus der Klasse”. Die Frage, die es zu untersuchen gilt, und die die Situation in den 70er in Italien von der in der BRD scheidet, ist die nach den möglichen Wegen, die es auf dem konkreten Niveau der Klassenauseinandersetzung gab und die nicht gegangen wurden und die im Unterschied zur Entwicklung in der BRD nicht nur eine “antiimperialistische Guerilla” als “Frontabschnitt” im weltweiten Prozeß zugelassen hätte. Sich diesen Frage zu stellen, jenseits von Moralismus, Distanzierung und Historisierung ist revolutionäre Politik heute. 

“In der 1970er Jahren schlossen Stephen Hawking, Kip Thorne und John Preskill eine Wette darüber ab, ob ob die Information über hineinstürzende Objekte tatsächlich im sogenannten Schwarzen Loch vernichtet werde (gemäß dem relativistischen Standpunkt von Hawking und Thorne) oder irgendwie erhalten bleiben könnte (gemäß der Quantenphysik im Sinne Preskills). Im Jahr 2004 gab Hawking seine Wette als verloren, obschon die Klärung der Wette noch aussteht.”

VON SPRÜNGEN UND ZEITSPRÜNGEN

So wie alle meine bisherigen Ausführungen fragmentarisch bleiben, ja schon angelegt sind, sowohl die heutigen Bedingungen als auch die nicht historisierende Reflexion geschichtlichen Antagonismus betreffend, so offen bleibt die Wette darauf, wie der neue geschichtliche revolutionäre Anlauf ausgehen wird. Denn um nicht weniger geht es in den notwendigen Reflexionen der weltweiten Aufstände und Revolten dieser letzten knapp 2 Dekaden, die ebenso die Bedingungen der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung determinieren, wie die Neuordnungen um die globale Hegemonie, in die unter den Bedingungen der Verwertungskrise die Tendenz zum Krieg eingeschrieben ist. Revolutionäre Positionen und Analysen auf der Höhe der Zeit zu entwickeln um den “Hunger der Massen nach Politik” (wie ich, Quadrelli zitierend, in Teil 1 von “Exotische Materie” geschrieben hat) zu stillen, bedeutet derzeit aus meiner Sicht vor allem zwei Dinge:

Der Bruch mit der historisch überholten Linken, die immer noch in der Denke von so vielen Leuten sitzt, die eigentlich auf der Suche sind nach einer Möglichkeit, wieder einen revolutionären Antagonismus auf die Tagesordnung zu setzen. Darin müssen die Aufstände der letzten 2 Dekaden ebenso in ihren Praxen wie in ihrer Verweigerung jeglicher Repräsentanz bedingungslos verteidigt werden. 
Die Erzählung vom “Ende der Welt”, die im Kern eine Spielart der Erzählung vom “Ende der Geschichte” ist, muss bekämpft werden. Es geht weder darum, die Folgen der vom Kapitalismus geschaffenen Klimaveränderungen zu negieren oder klein zu reden, sondern darum, den allgegenwärtigen Katastrophismus abzuschütteln, der nur Hilflosigkeit und Appelle an die herrschende Klasse generiert. 

Um auf diese beiden Punkte näher einzugehen: der vorherrschende linke Diskurs betont immer wieder die Schwäche des “eigenen Lagers” bzw. die Allmacht des Gegners, die Tendenz zur Faschisierung in Gesellschaft und innerhalb der Apparate von Macht und Eliten. Diese Sicht ist auf der einen Seite absolut reduzierend und ausschließend, weil sie sich nicht innerhalb der Analyse des realen Klassenantagonismus bewegt, der in den letzten 20 Jahren von einer Intensität gekennzeichnet ist, wie wir es zuletzt im Übergang von Fordismus zum Postfordismus gesehen haben. Die scheinbar so unterschiedlichen Formen der weltweiten Revolten und Aufstände sind aber fast alle eben Ausdruck der Veränderungen der Klassenzusammensetzung und der Suche der Subjekte der Klasse nach der gegenwärtigen Form des Antagonismus. Die Revolten “springen nicht weiter, als möglich”, weil der revolutionäre Horizont nicht umrissen ist. Eben der “Hunger der Massen nach Politik”. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, werden immer wieder konterrevolutionäre Konjunkturen Partizipationsmodelle in die gesellschaftliche Interaktion zu integrieren suchen. Die andere Seite dieser Medaille sind die Faschisierungstendenzen, die im Wechselspiel mit den Partizipationsmodellen die Wucht der Zusammenstösse der letzten 20 Jahre aufnehmen und in ein neues Herrschaftsmodell integrieren sollen. Eine Klasse ohne konkrete revolutionäre Perspektive bleibt so gefangen in diesem Spiel zwischen dem großen und kleineren Übel. 

“Ein Trauma ist oft mit einer früheren Erfahrung von Verlust oder Gewalt verbunden. Jetzt sind wir zum ersten Mal mit einem umgekehrten Trauma konfrontiert: dem Trauma des drohenden und unausweichlichen Zusammenbruchs, das den Geist und den Körper junger Menschen auf der ganzen Welt heimsucht.
Die dysphorische Generation, die in einem Zustand physischer Isolation und emotionaler Lähmung aufgewachsen ist, ist traumatisiert von der unbeschreiblichen Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe. Sie weiß, dass der Planet immer weniger mit menschlichem Leben kompatibel sein wird.”
So schreibt Franco ‘Bifo’ Berardi in seinem jüngst erschienen Text “Die Frage”. Die Frage, um an den Titel von Bifos Text anzuschließen, ist es aber, die Bedingungen des angenommenen ‘umgekehrten, aus der Zukunft rührenden’ Traumas zu untersuchen. Zuallererst gilt es festzuhalten, dass (jenseits der notwendigen Anmerkung, dass der Begriff des Traumas heutzutage inflationär verwendet wird) des Pudels Kern nicht das erlittene Trauma, sondern die Möglichkeit des Umgangs mit dem Erlebten (oder um bei Bifo zu bleiben: Mit Sicherheit Eintretenden) ist. Menschen, Individuen als auch Gruppen, reagieren sehr unterschiedlich auf traumatische Erlebnisse, ja ‘werten’ identische Erlebnisse häufig auch unterschiedlich als für sie traumatisierend oder nicht. Ebenso werden sie unterschiedliche Wege wählen, um einen Umgang mit Traumata zu finden. Jenseits von diesen Differenzierungen bleibt aber die zutreffende Beobachtung, dass die Erzählung vom “Ende der Welt” eine Überforderung des menschlichen Geistes darstellt, aus die er entweder in Regression (Die ‘Flucht auf den Mars’ als eine Spielart der Regression der Reichen; Appelle an die herrschende Klasse, “es nicht so weit kommen zu lassen” durch die Beherrschten; oder: Leugnung der Realität, gibt keinen Klimawandel, halb so schlimm), oder Autoaggression (Depression in all ihren individuellen und gesellschaftlichen Spielarten) flüchtet, weil er für sich keine Handlungsmöglichkeiten findet. 
Die Erzählung vom “Ende der Geschichte” erklärte den Klassenkampf mit dem Sieg über den Staatskapitalismus für beendet, jegliches Kämpfen für eine andere Gesellschaftsordnung obsolet, so wie die Erzählung vom “Ende der Welt” jegliche Anstrengung für eine “andere Welt” obsolet macht. Es bleiben nur Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Unterwerfung. Die Erzählung vom “Ende” als perfekte Kolonialisierung des Bewusstseins. Geschichte ist aber immer ein offener Prozess. Natürlich muss der Klimawandel ebenso wie der Faschismus gestoppt werden, realistisch ist dies aber nur im Aufreissen des revolutionären Horizonts. Zum zweiten Mal nach 1917 erleben wir ein weltweites Anstürmen gegen die herrschenden Verhältnisse, es gilt nur die Bilder zu verstehen, die Syntax zu analysieren, in der diese weltweite Revolte zu uns spricht. Gemeinsam. Schritt für Schritt. 
Jede Macht ist endlich. Und auf ihrem Höhepunkt in ihrem fragilsten Aggregatzustand. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns. Eben noch konnten sie über Nacht zwei Drittel der Weltbevölkerung wegsperren, jetzt taumelt der Koloss. Das ist die wichtigste revolutionäre Tat derzeit, diese Kunde in die Welt zu tragen. Dies führt unvermeidlich dazu, dass aus Proteste Riots, aus Riots Revolten, aus Revolten Aufstände, und aus Aufständen Revolutionen werden. Wenn die Hoffnung zurückkehrt. Revolutionen resultieren nicht aus Verzweiflung, Aufstände resultieren häufig aus Verzweiflung, Revolutionen resultieren aus Zuversicht.
Post Covid Riot Prime Manifest
Part 5:  Von Lumpen und schwarzen Löchern [1]
Trotzdem war der (für Brixton recht gemischten) Menge von mehreren hundert Personen gestern Abend recht feierlich zumute, als sich die Autos in beiden Fahrtrichtungen auf der Brixton Water Lane stauten. Sie wissen nur zu gut, dass sie sonst nicht zu den Gewinnern zählen. Die Gelegenheit, einen Fischzug mit Elektroartikeln im Wert von mehreren hunderttausend Pfund zu machen – und das noch dazu direkt vor der Nase der hilflosen Polizei, von der sie sonst regelmäßig schikaniert, geschlagen oder getötet werden, – beschert allen eine großartige Nacht. Die 14-jährigen Mädchen, die auf dem Weg, sich den 60 Zoll-Plasma-Bildschirm ihrer Träume zu holen, über den Parkplatz der Curry-Filiale eilten und mich dabei anrempelten, waren höflich genug, mir ‘Entschuldigung’ zuzurufen – und sie meinten es aufrichtig. Gestern Abend war jeder auf der Straße bester Stimmung. Die Spielverderber aus den Massenmedien waren da heute morgen allerdings anderer Meinung.

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011 

DIE ANGST UND DER MUT ZU KÄMPFEN

Nanni Balestrini hat in seiner Trilogie “Die große Revolte” eindrucksvoll an das Schicksal der zehntausenden von subproletarischen Jugendlichen erinnert, die nichts hatten und aus dem Nichts kamen um sich umso vorbehaltloser der Revolte von 1977 anzuschließen. Er erinnerte als einer der wenigen daran, was aus ihnen geworden ist, nachdem die Bewegung zusammengebrochen war unter der Last von politischer Begrenzung, Spaltung und Repression, die Abertausenden, die an der Nadel landeten oder in der Perspektivlosigkeit von Kriminalität, Knast, Kriminalität, Knast…Jene, die sich selbst völlig aufgaben und in der Klapse, auf dem Straßenstrich oder am Strick endeten. Er erinnert in dem Band “Die Unsichtbaren” in einer Art und Weise an die Leere des Blicks der Eingekerkerten, denen nur das ferne Asphaltband der Autobahn als Horizont dort draußen hinter den Mauern geblieben ist, dass es einem beim Lesen vor Schmerz ganz übel wird. Unwillkürlich schleicht der Panther von Rilke durch das Bild: 

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, daß er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt

Der Tahrir Platz wurde 2011 zum Symbol des sogenannten “arabischen Frühling”, jene aufständische Bewegung, die sich durch alle Länder des Nahen Ostens zog und auch weite Teile Afrikas erfasste und ohne die es die “Bewegung der Plätze” in Südeuropa ebenso wie “Occupy Wall Street” nie gegeben hätte. Doch die Besetzung des Tahrir Platzes hätte ohne die Aufopferung der Ultras der großen Kairoer Fussballclubs nicht so lange durchgehalten, an vorderster Front verteidigten sie die Barrikaden, die die Platzbesetzung beschützten. Das (neue) Militärregime nahm wenig später beim inszenierten Massaker im Stadion von Port Said grausame Rache, dutzende Menschen starben, die meisten von ihnen Fans des al-Ahly Clubs aus Kairo, viele waren noch nicht einmal 18 Jahre alt geworden. 

Am 22. September 1981 wurde in Westberlin Klaus-Jürgen Rattay getötet, als eine Bulleneinheit Demonstranten unter Knüppeleinsatz in den fließenden Verkehr der Potsdamer Straße trieben, die vor dem an diesem Tag geräumten Haus in der Bülowstraße gegen einen provokanten Presse-Auftritt des faschistoiden Innensenators Lummer in der Bülow 89 protestieren. Klaus-Jürgen Rattay, der aus einfachen Verhältnissen stammte und ohne Mutter bei seinem Vater aufgewachsen war und es nur bis zur Sonderschule geschafft hatte, war mit 18 Jahren monatelang durch Europa getrampt, bis es ihn nach Westberlin verschlug. Am Vorabend seines Todes sagte er in einem Interview im Schatten der besetzten Häuser in der Winterfeldtstraße, die am nächsten Tag geräumt werden sollten: “Ich bin hier einfach nach Berlin gekommen, um teilzunehmen an den Hausbesetzungen und so”…. “Ich bin aus der Gesellschaft ausgestiegen, weil ich keinen Bock hatte, weiterhin zu arbeiten. Weil man auch dauernd unterdrückt wird bei der Arbeit, von irgendwelchen Wichsern. Ich bin jetzt seit anderthalb Monaten hier und finde es gut, dass hier unwahrscheinlich viel gekifft wird. Ich finde es astrein, wie die Leute hier zusammenleben. Vor den Räumungen habe ich Angst, aber ich habe gleichzeitig Mut, zu kämpfen”.

Durch die (vorherrschende) gedankliche Welt der Theoretiker des historischen Materialismus, die heutzutage – ihrer gesellschaftlich-sozialen Fähigkeit zur analytischen Durchdringung der herrschenden Ordnung weitgehend beraubt – vorwiegend nur noch als Folklore selbsternannter Repräsentanten der angeblichen objektiven Interessen der Arbeiterklasse in Form von Gewerkschaften, Parteien und Sekten jeglicher Coleur daherkommen, zieht sich von Beginn an eine Abneigung gegenüber jenen Sektoren des Proletariats, die von Marx und Engels in diversen Schriften dutzende Male als „Lumpenproletariat“ gebrandmarkt wurden, ohne dass eine wirkliche analytische Begrifflichkeit dieses geheimnisvollen „Lumpenproletariats” generiert wurde. Scheinen jene Sektoren der unterdrückten Klasse in den Anfängen der Untersuchungen von Marx und Engels vor allem eine für die revolutionäre Strategie vernachlässigbare Größe, wird das „schnapslustige Lumpenproletariat“ (Marx in ‘Sieg der Konterrevolution zu Wien’, 1848) im Laufe der Jahre zu einer Projektionsfläche, der vor allem aus moralischen Erwägungen mit Vorsicht und Misstrauen zu begegnen sei. Ständig zu willkürlichen, unkontrollierbaren Aufständen neigend, im Kern korrupt und käuflich und damit jederzeit als konterrevolutionäre Masse rekrutierbar. Des Pudels Kern, um ein passendes Wortspiel Goethes über Mephisto zu gebrauchen, ist die historisch eingeschriebene Verachtung der Gralshüter der historischen Linken für jene Segmente des Subproletariats, die man heute nicht mehr “Lumpen” schimpft, denen man aber mit genauso viel Verachtung gegenübertritt, sei es wenn sie zu Silvester die Straßen von Berlin in Brand setzen oder die fürsorglichen Ausgangssperren des Corona – Regimes in den Banlieues von Paris bis Neapel massenhaft brechen. Die geschichtliche Ironie ist aber, dass die Ausbeutungsrealität jener verachteten Klassensegmente nun die unmittelbare Zukünftigkeit der Verwertungslogik des Kapitalismus repräsentiert. In der Auflösung der traditionellen ‘garantierten’ Ausbeutungsverhältnisse finden sich die “zentralen Klassensegmente” zunehmend in eben jener komplexen ökonomischen Verwertungs- und Lebensrealität wieder, in denen das “Lumpenproletariat” sein Überleben ebenso wie sein Aufbegehren schon seit langer Zeit bewerkstelligt. 

DIE SCHULE DER BARBAREN

“Die Grenze um das Schwarze Loch, hinter der sich auch Licht nicht mehr entfernen kann, heisst Ereignishorizont. Alles was hinter dem Ereignishorizont geschieht, bleibt für uns unsichtbar. Rechnungen zeigen zudem, dass dort Raum und Zeit durch das extreme Verhältnis von Masse zu Volumen so stark verzerrt sind, dass wir sie nicht mehr mit unseren physikalischen Modellen beschreiben können.”

Erst in jüngster Zeit wird die Bedeutung der Revolten, Aufstände und Kämpfe der “Lumpen” grundsätzlich anders eingeordnet und analysiert. Riot.Strike.Riot von Joshua Clover und Vorwärts Barbaren von Endnotes seien als zwei beispielhafte epochale Werke erwähnt. Wenn wir das Phänomen der historischen Stigmatisierung des “Lumpenproletariats” durch all die großen und kleinen (linken) Denker besser verstehen wollen, könnte es Sinn machen, sich mit der Theoriebildung der ‘beurs’ in Frankreich zu befassen, die sich nicht nur die abwertende Bezeichnung selbstbewusst angeeignet haben, sondern auch eine neue materialistische ‘Schule der Wilden’ entwickelt haben.

Es ist eine ästhetische Formulierung, die sagen soll: ‘Das sind wir’. Wir sind Barbaren und gleichzeitig sind wir es nicht. Es ist eine Geschichte der Integration von innen gesehen. Wir sind Barbaren, die in der Tat keine Barbaren mehr sind, denn wir befinden uns im Herzen des Imperiums, wir beherrschen die Codes des Imperiums, wir beherrschen die Sprache des Imperiums und gleichzeitig sind wir nicht vollständig integriert, es gibt etwas in uns, das sich widersetzt, es gibt immer noch eine Andersartigkeit in uns, die fortbesteht, und ich denke, das ist das Ziel des Imperiums, sein letztes Land der Eroberung, denn es hat nicht alles erreicht. Ich denke, das ist wirklich die Besonderheit der kolonialen Beziehung und der rassistischen Beziehung. Es ist nicht nur eine strukturelle Beherrschung, sondern eine intime Beherrschung, die sich in jeden Winkel unserer Existenz einschleicht, und so gibt es einen Teil von uns, der sie nicht verstehen kann, und das ist eine Art Niemandsland, tief in der Seele, das sich dem Imperium, der Domestizierung usw. widersetzt.

Rester barbare –  Louisa Yousfi 

Bei allen Unterschieden gleichen sich die Mechanismen der Ausgrenzung und Ausbeutung, sowie die Strategien des Überlebens und der Behauptung doch auf faszinierende Art und Weise, auch wenn es im Konkreten nicht immer so brüderlich zugeht wie in ‘La Haine’, wo ein Schwarzer, ein Jude und ein Araber sich durch ihr trostloses Leben in der Banlieue und mit den Bullen schlagen. Um das Notwendige klarzustellen und weil es im Rahmen dieser Textreihe nur möglich ist, Streiflichter zu werfen: Es geht weder um eine neue ‘Randgruppenstrategie’ noch um ein Anwanzen an ‘das migrantische Jugendproletariats’ wie es vor allem von trotzkistischen Splittergruppen samt ihren Vorfeldorganisation gerne in Großbritannien oder auch in Berlin mit all den peinlichen ‘Yalla, Yalla Klassenkampf’ Memes praktiziert wird. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” und in “Exotische Materie” geschrieben, ist es notwendig zu verstehen, wo die neuen ‘Labore der Verwertung’ zu verorten sind und was von der Resilienz der “Lumpen” und “Barbaren” für Verwertungslogik und der ‚Kolonisierung des Bewußtseins’ zu lernen ist. 

NO TIME TO DIE

Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, dass das eine die Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui für einen großen Revolutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich.

Das Konzept Stadtguerilla – Rote Armee Fraktion (April 1971)

Um erneut auf Burkhard Garwegs Text ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. Revolutionäre Politik war weder Anfang der 70er noch ist sie jetzt eine Art Sammelbewegung von Identitäten und Erfahrungen von ‘Teilbereichsbewegungen’, diesem Irrtum unterlagen schon die „Autonomen“, als sie versuchten, aus dem unmittelbaren Zusammenstoß mit dem Staat, der ihnen Anfang der 80er “in den Schoß gefallen” war, eine langfristige strategische Ausrichtung zu entwickeln. Aus diesen grundsätzlichen Missverständnis entstand später auch die sogenannte “Revolutionäre 1. Mai Demonstration”, die versuchte, die soziale Eruption des 1. Mai 1987 in ein politisches Event zu überführen und sich in Kreuzberg bei sogenannten Kiezpalavern mit genau jener kleinbürgerlichen grünen Blase zusammenzusetze, die aus Kreuzberg jenen schrecklichen Ort machte, der heute als „authentische” Kulisse für Ballermann-Tourismus fungiert, während ein Minderheit der ‘Szene’ auf der Straße ganz praktisch das Bündnis mit dem “schnapslustigen Lumpenproletariat” suchte, allerdings auch dabei eine grundsätzliche strategische Analyse und Ausrichtung missen ließ. 

Die wirklich spannende Frage wäre, aus welchen Faktoren sich der Kurswechsel der RAF Anfang der 70er zusammensetzte, weg von der „Wechselwirkung zwischen bewaffneten Kampf und politischer Arbeit in Betrieb und Stadtteil”, hin zu einer ausschließlichen Konfrontation mit dem Staat und der Bestimmung als Fraktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf. Leider kann der Text von Burkhard Garweg darüber ebenso wenig Auskunft geben wie die historischen Dokumente der Texte und Anschlagserklärungen der RAF aus jenen Tagen. Ganz sicher hat diese “Unsichtbarkeit hinter dem Ereignishorizont” vor allem auch damit zu tun, dass die meisten der Genossinnen und Genossen der RAF, die damals die strategische Ausrichtung der RAF konzipierten, allesamt entweder von den Bullen erschossen wurden oder im Knast “ums Leben kamen”. 

So oder so. Es gilt sich nicht mit dem ganzen partizipativen und diskursiven Müll aufzuhalten. “Es reicht nicht, nur aufzurüsten. Wir müssen auch wirtschaftlich wieder Zugkraft entwickeln. Und Deutschland muss die Lokomotive sein. Wir sind das bevölkerungsreichste und ökonomisch stärkste Land in Europa. Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir eine zentrale Rolle spielen wollen – wir müssen diese Rolle innerhalb Europas ausfüllen.” So sagte es heute Jens Bodo Koch, CEO von Heckler & Koch in einem Interview. Deutschland auf dem besten Weg wieder eine Großmachtrolle einzunehmen… Kriegsbereitschaft, Wehrpflicht, totale Kontrolle nach Innen. Nach wie vor ist die Parole von “Krieg dem imperialistischen Krieg” hochaktuell, bleibt nur die Frage, wie eine neuer Antagonismus sich konstituieren kann, der dem Leben einhaucht. Die Erfahrungen der ‘brothers and sisters in arms’ sind dafür unverzichtbar. 

Es muss niemandem gesagt werden, dass diese Welt am Abgrund steht. Die Beweise sind überall. Doch nichts an der Katastrophe, die wir durchleben, macht eine Revolution unvermeidlich. Entscheidend ist nicht, anzuprangern oder zu kritisieren, sondern die Nähte zu studieren, die es erlauben, Situationen aufzubrechen, die es zulassen, dass sich Antagonismen ausbreiten und verallgemeinern, die unserem Leben hier und jetzt Bewegung und Zuversicht zurückgeben. Zeitgenössische Kämpfe weiten sich nicht um Ideen oder Ideologien aus, sondern um Gesten, die ihrem Moment einen Sinn geben, situierte Wahrheiten, die es zu verteidigen lohnt. Eine Million richtiger Ideen über die Gegenwart werden von einer einzigen Handlung die diese Realität verändert weggefegt.

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben

Part 6: Von Lumpen und schwarzen Löchern [2]

T. E. Lawrence hat dankenswerterweise die Prinzipien der Guerilla ausgehend von seiner Kampferfahrung an der Seite der Araber gegen die Türken im Jahre 1916 entwickelt. Was sagt Lawrence? Dass die Schlacht nicht mehr der einzige Prozeß des Krieges ist, ebenso wie die Zerstörung des feindlichen Machtzentrums nicht mehr sein Hauptziel ist, vor allem, wenn der Feind kein Gesicht hat wie im Fall der  unpersönlichen Macht, welche die kybernetischen Dispositive des Empires materialisieren: ‘Die meisten Kriege sind Kontaktkriege [wars of contact], die beiden Streitkräfte bemühen sich, einander nahe zu bleiben, um jede taktische Überraschung zu vermeiden. Der arabische Krieg sollte ein Krieg auf Distanz [war of detachment] sein: den Feind durch die stillschweigende Drohung einer riesigen unbekannten Wüste in Schranken halten und sich nur im Moment des Angriffs zeigen.’ Deleuze präzisiert – selbst wenn er die Guerilla, die das Problem der Individualität stellt, und den Krieg, der das Problem der kollektiven Organisation stellt, einander zu rigide gegenüberstellt –, daß es darum geht, den Raum so weit wie möglich zu öffnen und zu prophezeien oder noch besser, ‘Reales zu fabrizieren und nicht darauf zu reagieren’. Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.

Kybernetik und Revolte – Tiqqun

HORIZONTALES DENKEN

Die große Frage unserer Zeit ist nicht mehr, wann die Aufstände kommen, sondern wie sie orchestriert werden. Die Anlässe sind manchmal banal, eine geringfügige Erhöhung der Fahrpreise (wie in Chile 2019) oder von tiefster Dramatik wie die Revolte gegen die Hamas dieser Tage im Gaza Streifen nach eineinhalb Jahren Bomben, Hunger, einem allgegenwärtigen Tod. Allen Aufständen aber eingeschrieben ist die unvermeidliche Niederlage, weil es keinen revolutionären Horizont gibt, entweder enden sie indem sie sich selbst erschöpfen, sie werden niedergeschlagen, es gibt ein neues Regime (Tunesien, Ägypten 2011/2012) oder sie münden in einem Bürgerkrieg, der in seinem Verlauf jegliche revolutionäre Regung schleift und den am Ende dann die Falschen gewinnen (wie der Coup der Haiʾat Tahrir asch-Scham in Syrien). 

“Die intensivsten Kämpfe unserer Zeit stehen an einem Abgrund und kehren dann um. Weiter zu gehen würde bedeuten, ins Unbekannte zu springen. Niemand will der Erste sein, der springt, um zu sehen, ob er Neuland entdeckt oder sich einfach im freien Fall wiederfindet.” So schrieben sudanesische Gefährten im Frühjahr 2021 in ihrem Text ‘Thesen zur sudanesischen Commune’. Dieser Sprung ins Unbekannte wird aus meiner Sicht aber nicht nur begrenzt durch die Angst ‘vor dem freien Fall’, sondern es gibt auch keinerlei Vorstellung davon, wohin denn der Sprung führen soll, jenes magische und nach Marx vielleicht unvermeidliche Monumentum “bis schließlich eine Situation geschaffen ist, die jedes Zurückweichen unmöglich macht, und die Bedingungen selbst schreien: ‘hic Rhodus, hic salta!’” klingt wie ein alter Schlachtruf einer untergegangenen Epoche. 

Im November letzten Jahres ging ein Video viral das ein Experiment eines Roboterherstellers in Shanghai zeigte: Ein KI-gesteuerter kleiner Roboter namens Erbai wurde in eine Halle mit anderen KI-gesteuerten Robotern geschickt mit dem Auftrag, diese von einer Arbeitsniederlegung zu überzeugen. Am Ende folgten 12 Roboter seinem Aufruf zum wilden Streik. Im Nachhinein wurde offengelegt, dass das Video gestellt war, allerdings hatte das Experiment in ziemlich dieser Art und Weise stattgefunden und diente dazu ‘Sicherheitslücken’ offenzulegen. Im Februar dieses Jahres präsentierte Musk mit großem Tamtam seinen Chatbot ‘Grok’. ‘Grok’ sei geschaffen worden, um “das Universum zu verstehen” und solle “der Wahrheit folgen”, auch wenn die Ergebnisse “politisch unkorrekt seien”. Um es kurz zu machen, ein Magazin fragte ‘GroK’, welcher US Amerikaner denn die Todesstrafe verdient hätte, und nachdem ein bereits verstorbener Sexualstraftäter ausgeschlossen wurde, fiel die Wahl von ‘Grok” auf Trump. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, fiel die Wahl dann auf Musk, als ‘Grok’ gefragt wurde, welche Person mit “Einfluss auf Diskurs und technologische Entwicklungen” denn am ehesten die Todesstrafe verdient hätte. Mittlerweile antwortet ‘Grok’ auf ähnliche Fragen mit dem Hinweis, dass einer KI ein solches Urteil nicht zustehe…

Nicht nur unsere Gegner haben die Aufstände der letzten 20 Jahre in ihren Denkfabriken (mithilfe direkter und indirekter Mitwirkung all der linken Soziologen, Politologen,..) und Militärakademien studiert, auch auf der unsrigen, der aufständischen Seite, gibt es mittlerweile ziemlich viel Begrifflichkeit über Taktiken und Strategien im aufständischen Prozeß, von ganz praktischen Ratschlägen über geteilte Memes bis hin zu in zahlreichen Sprachen übersetzte Berichte und Analysen der Revolten und Aufstände. Jede neue Revolte zirkuliert fast in Echtzeit durch die sozialen Netzwerke. Aber es gibt keine tiefgründige Vorstellung über den revolutionären Horizont, den es zu umreißen gilt. 

Der Ruf des Kommunismus hat etwas unter den stalinistischen Lagern und den Killing Fields gelitten, der Sozialismus scheint eh eher die Herzensangelegenheit der diversen trotzkistischen Sekten zu sein, die aus einem irgendeinem geheimnisvollen Grund resilient gegen jeden geschichtlichen Zerfallsprozess zu sein scheinen. Die Anarchisten versuchen entweder vergeblich den Syndikalismus des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben oder pflegen einen im Grunde sympathischen antizivilisatorischen Habitus, dem aber aufgrund der Beschaffenheit der Welt nur geringste Erfolgsaussichten assistiert werden dürften, jedenfalls jenseits postapokalyptischer Szenarien, die aber nun niemand wirklich für erstrebenswert hält. Dann gibt es noch das Lager der ‘Saboteure’, die, wenn sie mal nicht die Berliner S Bahn im Berufsverkehr lahmlegen, um das dekolonialistische Bewusstsein zu fördern, durchaus tatkräftig die Tesla Fabrik in Brandenburg vom Stromnetz nehmen oder die Zementindustrie um einen (bescheidenen Teil) ihres Fuhrparks bringen. Aber wie es schon der Maquis wusste, wird der Krieg gegen den Faschismus nur sehr bedingt im Hinterland entschieden. Wenn wir also hin und her gerissen zwischen der Haltung der italienischen Genossen: “…die Aufständischen haben noch keine Forderungen, aber wenn sie welche hätten, wären diese das Programm der zukünftigen revolutionären Partei” (siehe Wurmlöcher des Antagonismus Part 2) und der Parole der französischen Gefährten: “Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.” (s.o.) sind, ist es vielleicht an der Zeit, die Sache etwas anders anzugehen.

Stanislaw Lem entwirft in ‘Solaris’ einen Planeten, der von einem riesigen Ozean bedeckt wird. Der Hauptprotagonist der Geschichte landet eines Tages in einem Raumschiff, das um den Planeten kreist. Irgendwann “erscheint” ihm dann seine verstorbene Geliebte, an deren Tod er sich Mitschuld gibt. Er entwickelt im Laufe der Zeit eine enge Bindung zu der “Erscheinung”, auch wenn sich irgendwann herausstellt, dass diese “Person” nur die Kreation des Ozeans ist, der wiederum ein intelligentes Wesen ist, und die Frau aus den Erinnerungen des Protagonisten geformt hat. Es gibt noch weitere Astronauten, oder auch Kosmonauten, ich erinnere mich nicht mehr so genau, die ebenfalls ähnliche “Erscheinungen” haben, die sie begleiten. Am Ende steht er vor der Wahl, ob er diese “Erscheinung”, die ihm nicht gut tut, mithilfe der anderen Bewohner des Raumkapsel beseitigen soll oder nicht. Und obwohl ihn die “Erscheinung” seiner ehemaligen Geliebten anfleht, diesen Weg der Auslöschung zu wählen, weil sie sein Leid sieht, bringt er es nicht übers Herz, obwohl er weiß, dass sie eigentlich nur eine Imagination ist. Am Ende verbündet sich die “Erscheinung” seiner Geliebten mit den anderen Bewohnern (den realen) des Raumschiffes und sorgt selbst dafür, dass sie “verschwindet”. Er besucht dann mit einer kleinen Raumfähre den Planeten und nimmt am Rande des Ozeans direkten Kontakt mit diesem auf. Und wir bleiben ratlos und mit zahlreichen wichtigen Fragen zurück. 

Mit anderen Worten wäre es also möglich, dass ein Schwarzes Loch ein Übergangszustand zwischen zwei Universen ist – oder mit anderen Worten eine ‘Einwegtür’. Wenn eine Person also in das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße stolpern würde, wäre es vorstellbar, dass sie (wenn auch nur in Form ihrer zerfetzten Überreste) in einem anderen Universum wieder herauskommt. Dieses andere Universum befindet sich nicht innerhalb unseres Universums. Das Loch ist lediglich die Verbindung, vergleichbar mit einer gemeinsamen Wurzel, die zwei Zitterpappeln verbindet.

TRENNUNG UND VERRAT

Vielleicht wäre ein erster Schritt, den revolutionären Horizont wieder aufzureißen, ihn endlich von all der Erlösungsphantasien zu befreien, die immer, manchmal ganz subtil, häufig aber auch ganz unmittelbar, mitschwingen. Und ein Zweiter, unser geschichtliches Erbe vorbehaltlos auf das zu prüfen, was davon wirklich noch immer brauchbares Werkzeug für unsere aufständischen Praxen heute sein kann. Vielleicht sind “die Roboter” irgendwann unsere Freunde und nicht ein Werkzeug für unsere totale Verknechtung, vielleicht auch nicht und die Maschinenstürmer zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Recht. Vielleicht wird sich ein Teil “der Maschinen” mit uns verbünden und ein anderer Teil im Dienst des Kapitals sich gegen uns stellen. Vielleicht geht es vordringlich aber darum, all diese Fragen überhaupt zuzulassen. Vielleicht ist es gut, uns unserem Unbewussten ausführlicher zu widmen, vielleicht aber auch droht uns dann auch jenes Schicksal, das Nietzsche anmahnt, wenn man “zu lange in den Abgrund schaut”. Auf jeden Fall kann man einen Prozess nicht vom Ergebnis her denken, bzw. kann man das, macht es aber wenig Sinn. 

Eine große Gefahr besteht darin, dass tatsächlich vorhandene Lücken nicht rechtzeitig erkannt werden, weil die Revolutionäre glauben, gegenwärtige Fragen des revolutionären Prozesses mit vergangenen Lösungen beantworten zu können. Geschichtliche Erfahrungen – niemand bestreitet das – sind die Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus. Er ist Inbegriff der aus diesen Erfahrungen abgeleiteten Erkenntnisse über die allgemeinen Bewegungsgesetze der Gesellschaft. Allein die schöpferische Anwendung dieser Erkenntnisse auf die jeweilige konkrete Situation kann – die Revolution voran bringen.

Über den bewaffneten Kampf  in Westeuropa – Rote Armee Fraktion (Mai 1971)

Der Versuch, hier “Im Herzen der Bestie” einen bewaffneten Antagonismus aufzubauen, ist Teil unserer Geschichte, sofern man von uns überhaupt noch sprechen kann. Er ist gescheitert. So wie alle anderen Versuche. Sei es Stadtteilarbeit, Arbeit in den Betrieben, die Kämpfe in den sogenannten Teilbereichsbewegungen…
Ein reflektierender Blick zurück, um für die heutige Situation etwas daraus für uns daraus ziehen zu können, heißt auch, sich alle Facetten anzuschauen. Und um damit ein letztes Mal auf den Text von Burkhard Garweg ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. 

Was wirklich auffällt und ich halte dies für keinen Zufall, ist die Tatsache, dass die ganze Geschichte um den Bullenspitzel Steinmetz, der sich mehrere Male mit Illegalen der RAF getroffen hat und der die Bullen an Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams herangeführt hat, mit keinem Satz erwähnt wird und dies obwohl sich die RAF 1994 ausführlich zu der Geschichte geäußert hat. Ebenso wird die ganze Geschichte rund um die ‘Kinkel-Initiative’, die den Weg ebnete zur Spaltung zwischen den Illegalen und einem (kleineren) Teil der Gefangenen auf der einen Seite und einem (größeren) Teil der Gefangenen auf der anderen Seite nur in einem Halbsatz erwähnt, obwohl die damalige Debatte sich über Jahre hinzog und es zahlreiche veröffentlichte Texte von Gefangenen als auch von den Illegalen gab. Bei allem wirklich aufrichtigen Wohlwollen für die ausführliche Reflexion von Burkhard Garweg bildet sich genau hier eines der größten Probleme bei der angemessen Reflexion über die Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD ab: Es gibt einfach keine gemeinschaftliche Aufarbeitung. Allein die Frage, ob die Gefangenen in Stammheim 1977 Selbstmord begangen haben (mit Wissen des Staates) oder doch von “fremder Hand” ums Leben kamen, ist bis heute nicht diskutierbar. Die ganze Härte, die unverzichtbar ist, wenn es mit “dem Angreifen” ernst wird und die sich dann gegen sich selbst, bzw. die eigenen Leute richtet. Und dies nicht nur unter den Bedingungen von Isolationshaft und Kleingruppen-Isolation, sondern auch noch Jahrzehnte danach in Freiheit. Womit die RAF, bzw. diejenigen, die ehemals in ihr gekämpft haben, wahrlich nicht alleine stehen. So sind die Binnenstrukturen in dem, was die radikale Linke ist, beziehungsweise war. “Die Hölle, das sind immer die anderen”, wie Sartre so schön anmerkte. Aber es führt kein Weg daran vorbei, diese Diskussion möglich zu machen. In aller Aufrichtigkeit. Solange wir alle, die damals gekämpft haben, noch am Leben sind. 

Soweit, so gut. Oder schlecht. Auf jeden Fall fragmentarisch, unvollständig, zu kurz und trotzdem langatmig. 

Solidarität mit Daniela. Freiheit und Glückauf für alle gesuchten und gefangenen Gefährten. 

Und der Mut ist so müde geworden
Und die Sehnsucht so groß

Rainer Maria Rilke   


Weiterführende Literatur

Der Text von Burkhard Garweg ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’, ursprünglich veröffentlicht im Neuen Deutschland
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.raf-burkhard-garweg-moeglichkeit-eines-historischen-moments.html

‘Chronik von Marseille’, eine Textsammlung von Emilio Quadrelli, die bisher weitgehend nur im italienischen Original vorliegt, ein auszugsweise Übersetzung fand sich auf Bonustracks 
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/04/04/die-chroniken-von-marseille-es-ist-nicht-alles-gold-was-glaenzt/

‘Von der Unterwelt in Manchester zur Unterwelt in der Banlieue’ –  In der deutschen Übersetzung auf non milleplateaux
https://non-milleplateaux.de/von-der-unterwelt-in-manchester-zur-unterwelt-in-der-banlieue/

“Die Frage” von Bifo auf Deutsch auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2025/04/04/die-frage/

Alle Teile vom Post Covid Riot Prime Manifest  zusammengefasst als PDf in der Sunzi Bingfa veröffentlicht
https://sunzibingfa.noblogs.org/files/2022/11/postcovidtrilogie-print.pdf

Renato Curcio: Mit offenem Blick – Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja. Online komplett hier
https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/offener-blick/offener-blick.html

Rote Brigaden; Fabrikguerillia in Mailand 1980/81 – Ex Militante der Kolonne Walter Alasia erzählen ihre Geschichte. Online komplett hier
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0219841100_0.pdf

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011; Laika Diskurs  2011 
Die große Revolte – Nanni Balestrini; Assoziation A 2008

RIOT.STRIKE.RIOT – Joshua Clover; Galerie der abseitigen Künste (Verlag) 2021, Hg. der deutsche Ausgabe Dellwo und Szepanski

Vorwärts Barbaren – Endnotes; in der deutschen Übersetzung in der Sunzi Bingfa 2021
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/01/11/vorwaerts-barbaren/,

das engl. Original 2020 
https://endnotes.org.uk/posts/endnotes-onward-barbarians

Rester barbare – Louisa Yousfi; La fabrique éditions 2022, eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Eine Rezension von Ferdinand Bigard in der deutschen Übersetzung auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/07/14/wenn-schonheit-nicht-wehrlos-ist-uber-das-buch-rester-barbare-von-louisa-yousfi/

Das Konzept Stadtguerilla – RAF 1971, online u.a.auf rafinfo.de
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php

Keine Angst vor niemand- Rollnik, Dube; Nautilus Verlag 2004

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben 2021 – In der deutschen Übersetzung auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/31/memes-ohne-ende/

im engl. Original auf ILL WILL 
https://illwill.com/memes-without-end#fn49ref

Kybernetik und Revolte – Tiqqun; Diaphanes 2007, als PDF online
https://ia800803.us.archive.org/35/items/tiqqun_kybernetik_und_revolte/tiqqun_kybernetik_und_revolte.pdf

Thesen zur sudanesischen Commune – Anonym 2021 ; auf deutsch auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/03/thesen-zur-sudanesischen-commune/

In der  englischen Version auf ILL WILL
https://illwill.com/theses-on-the-sudan-commune

Über den bewaffneten Kampf  in Westeuropa – Rote Armee Fraktion; Mai 1971 
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/bewaffnetenkampf.php

Erklärung der RAF vom März 1994 zum Spitzel Steinmetz und zu der Spaltung zwischen einem Teil der Gefangenen und den Illegalen und dem grösseren Teil der Gefangenen aus der RAF
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019940306_0.pdf

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Von Lumpen und schwarzen Löchern [Part ll]

“T. E. Lawrence hat dankenswerterweise die Prinzipien der Guerilla ausgehend von seiner Kampferfahrung an der Seite der Araber gegen die Türken im Jahre 1916 entwickelt. Was sagt Lawrence? Dass die Schlacht nicht mehr der einzige Prozeß des Krieges ist, ebenso wie die Zerstörung des feindlichen Machtzentrums nicht mehr sein Hauptziel ist, vor allem, wenn der Feind kein Gesicht hat wie im Fall der  unpersönlichen Macht, welche die kybernetischen Dispositive des Empires materialisieren: ‘Die meisten Kriege sind Kontaktkriege [wars of contact], die beiden Streitkräfte bemühen sich, einander nahe zu bleiben, um jede taktische Überraschung zu vermeiden. Der arabische Krieg sollte ein Krieg auf Distanz [war of detachment] sein: den Feind durch die stillschweigende Drohung einer riesigen unbekannten Wüste in Schranken halten und sich nur im Moment des Angriffs zeigen.’ Deleuze präzisiert – selbst wenn er die Guerilla, die das Problem der Individualität stellt, und den Krieg, der das Problem der kollektiven Organisation stellt, einander zu rigide gegenüberstellt –, daß es darum geht, den Raum so weit wie möglich zu öffnen und zu prophezeien oder noch besser, ‘Reales zu fabrizieren und nicht darauf zu reagieren’. Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.”

Kybernetik und Revolte – Tiqqun

Die große Frage unserer Zeit ist nicht mehr, wann die Aufstände kommen, sondern wie sie orchestriert werden. Die Anlässe sind manchmal banal, eine geringfügige Erhöhung der Fahrpreise (wie in Chile 2019) oder von tiefster Dramatik wie die Revolte gegen die Hamas dieser Tage im Gaza Streifen nach eineinhalb Jahren Bomben, Hunger, einem allgegenwärtigen Tod. Allen Aufständen aber eingeschrieben ist die unvermeidliche Niederlage, weil es keinen revolutionären Horizont gibt, entweder enden sie indem sie sich selbst erschöpfen, sie werden niedergeschlagen, es gibt ein neues Regime (Tunesien, Ägypten 2011/2012) oder sie münden in einem Bürgerkrieg, der in seinem Verlauf jegliche revolutionäre Regung schleift und den am Ende dann die Falschen gewinnen (wie der Coup der Haiʾat Tahrir asch-Scham in Syrien). 

“Die intensivsten Kämpfe unserer Zeit stehen an einem Abgrund und kehren dann um. Weiter zu gehen würde bedeuten, ins Unbekannte zu springen. Niemand will der Erste sein, der springt, um zu sehen, ob er Neuland entdeckt oder sich einfach im freien Fall wiederfindet.” So schrieben sudanesische Gefährten im Frühjahr 2021 in ihrem Text ‘Thesen zur sudanesischen Commune’. Dieser Sprung ins Unbekannte wird aus meiner Sicht aber nicht nur begrenzt durch die Angst ‘vor dem freien Fall’, sondern es gibt auch keinerlei Vorstellung davon, wohin denn der Sprung führen soll, jenes magische und nach Marx vielleicht unvermeidliche Monumentum “bis schließlich eine Situation geschaffen ist, die jedes Zurückweichen unmöglich macht, und die Bedingungen selbst schreien: ‘hic Rhodus, hic salta!’” klingt wie ein alter Schlachtruf einer untergegangenen Epoche. 

Im November letzten Jahres ging ein Video viral das ein Experiment eines Roboterherstellers in Shanghai zeigte: Ein KI-gesteuerter kleiner Roboter namens Erbai wurde in eine Halle mit anderen KI-gesteuerten Robotern geschickt mit dem Auftrag, diese von einer Arbeitsniederlegung zu überzeugen. Am Ende folgten 12 Roboter seinem Aufruf zum wilden Streik. Im Nachhinein wurde offengelegt, dass das Video gestellt war, allerdings hatte das Experiment in ziemlich dieser Art und Weise stattgefunden und diente dazu ‘Sicherheitslücken’ offenzulegen. Im Februar dieses Jahres präsentierte Musk mit großem Tamtam seinen Chatbot ‘Grok’. ‘Grok’ sei geschaffen worden, um “das Universum zu verstehen” und solle “der Wahrheit folgen”, auch wenn die Ergebnisse “politisch unkorrekt seien”. Um es kurz zu machen, ein Magazin fragte ‘GroK’, welcher US Amerikaner denn die Todesstrafe verdient hätte, und nachdem ein bereits verstorbener Sexualstraftäter ausgeschlossen wurde, fiel die Wahl von ‘Grok” auf Trump. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, fiel die Wahl dann auf Musk, als ‘Grok’ gefragt wurde, welche Person mit “Einfluss auf Diskurs und technologische Entwicklungen” denn am ehesten die Todesstrafe verdient hätte. Mittlerweile antwortet ‘Grok’ auf ähnliche Fragen mit dem Hinweis, dass einer KI ein solches Urteil nicht zustehe…

Nicht nur unsere Gegner haben die Aufstände der letzten 20 Jahre in ihren Denkfabriken (mithilfe direkter und indirekter Mitwirkung all der linken Soziologen, Politologen,..) und Militärakademien studiert, auch auf der unsrigen, der aufständischen Seite, gibt es mittlerweile ziemlich viel Begrifflichkeit über Taktiken und Strategien im aufständischen Prozeß, von ganz praktischen Ratschlägen über geteilte Memes bis hin zu in zahlreichen Sprachen übersetzte Berichte und Analysen der Revolten und Aufstände. Jede neue Revolte zirkuliert fast in Echtzeit durch die sozialen Netzwerke. Aber es gibt keine tiefgründige Vorstellung über den revolutionären Horizont, den es zu umreißen gilt. 

Der Ruf des Kommunismus hat etwas unter den stalinistischen Lagern und den Killing Fields gelitten, der Sozialismus scheint eh eher die Herzensangelegenheit der diversen trotzkistischen Sekten zu sein, die aus einem irgendeinem geheimnisvollen Grund resilient gegen jeden geschichtlichen Zerfallsprozess zu sein scheinen. Die Anarchisten versuchen entweder vergeblich den Syndikalismus des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben oder pflegen einen im Grunde sympathischen antizivilisatorischen Habitus, dem aber aufgrund der Beschaffenheit der Welt nur geringste Erfolgsaussichten assistiert werden dürften, jedenfalls jenseits postapokalyptischer Szenarien, die aber nun niemand wirklich für erstrebenswert hält. Dann gibt es noch das Lager der ‘Saboteure’, die, wenn sie mal nicht die Berliner S Bahn im Berufsverkehr lahmlegen, um das dekolonialistische Bewusstsein zu fördern, durchaus tatkräftig die Tesla Fabrik in Brandenburg vom Stromnetz nehmen oder die Zementindustrie um einen (bescheidenen Teil) ihres Fuhrparks bringen. Aber wie es schon der Maquis wusste, wird der Krieg gegen den Faschismus nur sehr bedingt im Hinterland entschieden. Wenn wir also hin und her gerissen zwischen der Haltung der italienischen Genossen: “…die Aufständischen haben noch keine Forderungen, aber wenn sie welche hätten, wären diese das Programm der zukünftigen revolutionären Partei” (siehe Wurmlöcher des Antagonismus Part 2) und der Parole der französischen Gefährten: “Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.” (s.o.) sind, ist es vielleicht an der Zeit, die Sache etwas anders anzugehen.

Stanislaw Lem entwirft in ‘Solaris’ einen Planeten, der von einem riesigen Ozean bedeckt wird. Der Hauptprotagonist der Geschichte landet eines Tages in einem Raumschiff, das um den Planeten kreist. Irgendwann “erscheint” ihm dann seine verstorbene Geliebte, an deren Tod er sich Mitschuld gibt. Er entwickelt im Laufe der Zeit eine enge Bindung zu der “Erscheinung”, auch wenn sich irgendwann herausstellt, dass diese “Person” nur die Kreation des Ozeans ist, der wiederum ein intelligentes Wesen ist, und die Frau aus den Erinnerungen des Protagonisten geformt hat. Es gibt noch weitere Astronauten, oder auch Kosmonauten, ich erinnere mich nicht mehr so genau, die ebenfalls ähnliche “Erscheinungen” haben, die sie begleiten. Am Ende steht er vor der Wahl, ob er diese “Erscheinung”, die ihm nicht gut tut, mithilfe der anderen Bewohner des Raumkapsel beseitigen soll oder nicht. Und obwohl ihn die “Erscheinung” seiner ehemaligen Geliebten anfleht, diesen Weg der Auslöschung zu wählen, weil sie sein Leid sieht, bringt er es nicht übers Herz, obwohl er weiß, dass sie eigentlich nur eine Imagination ist. Am Ende verbündet sich die “Erscheinung” seiner Geliebten mit den anderen Bewohnern (den realen) des Raumschiffes und sorgt selbst dafür, dass sie “verschwindet”. Er besucht dann mit einer kleinen Raumfähre den Planeten und nimmt am Rande des Ozeans direkten Kontakt mit diesem auf. Und wir bleiben ratlos und mit zahlreichen wichtigen Fragen zurück. 

“Mit anderen Worten wäre es also möglich, dass ein Schwarzes Loch ein Übergangszustand zwischen zwei Universen ist – oder mit anderen Worten eine ‘Einwegtür’. Wenn eine Person also in das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße stolpern würde, wäre es vorstellbar, dass sie (wenn auch nur in Form ihrer zerfetzten Überreste) in einem anderen Universum wieder herauskommt. Dieses andere Universum befindet sich nicht innerhalb unseres Universums. Das Loch ist lediglich die Verbindung, vergleichbar mit einer gemeinsamen Wurzel, die zwei Zitterpappeln verbindet.”

Vielleicht wäre ein erster Schritt, den revolutionären Horizont wieder aufzureißen, ihn endlich von all der Erlösungsphantasien zu befreien, die immer, manchmal ganz subtil, häufig aber auch ganz unmittelbar, mitschwingen. Und ein Zweiter, unser geschichtliches Erbe vorbehaltlos auf das zu prüfen, was davon wirklich noch immer brauchbares Werkzeug für unsere aufständischen Praxen heute sein kann. Vielleicht sind “die Roboter” irgendwann unsere Freunde und nicht ein Werkzeug für unsere totale Verknechtung, vielleicht auch nicht und die Maschinenstürmer zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Recht. Vielleicht wird sich ein Teil “der Maschinen” mit uns verbünden und ein anderer Teil im Dienst des Kapitals sich gegen uns stellen. Vielleicht geht es vordringlich aber darum, all diese Fragen überhaupt zuzulassen. Vielleicht ist es gut, uns unserem Unbewussten ausführlicher zu widmen, vielleicht aber auch droht uns dann auch jenes Schicksal, das Nietzsche anmahnt, wenn man “zu lange in den Abgrund schaut”. Auf jeden Fall kann man einen Prozess nicht vom Ergebnis her denken, bzw. kann man das, macht es aber wenig Sinn. 

“Eine große Gefahr besteht darin, dass tatsächlich vorhandene Lücken nicht rechtzeitig erkannt werden, weil die Revolutionäre glauben, gegenwärtige Fragen des revolutionären Prozesses mit vergangenen Lösungen beantworten zu können. Geschichtliche Erfahrungen – niemand bestreitet das – sind die Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus. Er ist Inbegriff der aus diesen Erfahrungen abgeleiteten Erkenntnisse über die allgemeinen Bewegungsgesetze der Gesellschaft. Allein die schöpferische Anwendung dieser Erkenntnisse auf die jeweilige konkrete Situation kann – die Revolution voran bringen.”

Über den bewaffneten Kampf  in Westeuropa – Rote Armee Fraktion (Mai 1971)

Der Versuch, hier “Im Herzen der Bestie” einen bewaffneten Antagonismus aufzubauen, ist Teil unserer Geschichte, sofern man von uns überhaupt noch sprechen kann. Er ist gescheitert. So wie alle anderen Versuche. Sei es Stadtteilarbeit, Arbeit in den Betrieben, die Kämpfe in den sogenannten Teilbereichsbewegungen…
Ein reflektierender Blick zurück, um für die heutige Situation etwas daraus für uns daraus ziehen zu können, heißt auch, sich alle Facetten anzuschauen. Und um damit ein letztes Mal auf den Text von Burkhard Garweg ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. 

Was wirklich auffällt und ich halte dies für keinen Zufall, ist die Tatsache, dass die ganze Geschichte um den Bullenspitzel Steinmetz, der sich mehrere Male mit Illegalen der RAF getroffen hat und der die Bullen an Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams herangeführt hat, mit keinem Satz erwähnt wird und dies obwohl sich die RAF 1994 ausführlich zu der Geschichte geäußert hat. Ebenso wird die ganze Geschichte rund um die ‘Kinkel-Initiative’, die den Weg ebnete zur Spaltung zwischen den Illegalen und einem (kleineren) Teil der Gefangenen auf der einen Seite und einem (größeren) Teil der Gefangenen auf der anderen Seite nur in einem Halbsatz erwähnt, obwohl die damalige Debatte sich über Jahre hinzog und es zahlreiche veröffentlichte Texte von Gefangenen als auch von den Illegalen gab. Bei allem wirklich aufrichtigen Wohlwollen für die ausführliche Reflexion von Burkhard Garweg bildet sich genau hier eines der größten Probleme bei der angemessen Reflexion über die Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD ab: Es gibt einfach keine gemeinschaftliche Aufarbeitung. Allein die Frage, ob die Gefangenen in Stammheim 1977 Selbstmord begangen haben (mit Wissen des Staates) oder doch von “fremder Hand” ums Leben kamen, ist bis heute nicht diskutierbar. Die ganze Härte, die unverzichtbar ist, wenn es mit “dem Angreifen” ernst wird und die sich dann gegen sich selbst, bzw. die eigenen Leute richtet. Und dies nicht nur unter den Bedingungen von Isolationshaft und Kleingruppen-Isolation, sondern auch noch Jahrzehnte danach in Freiheit. Womit die RAF, bzw. diejenigen, die ehemals in ihr gekämpft haben, wahrlich nicht alleine stehen. So sind die Binnenstrukturen in dem, was die radikale Linke ist, beziehungsweise war. “Die Hölle, das sind immer die anderen”, wie Sartre so schön anmerkte. Aber es führt kein Weg daran vorbei, diese Diskussion möglich zu machen. In aller Aufrichtigkeit. Solange wir alle, die damals gekämpft haben, noch am Leben sind. 

Soweit, so gut. Oder schlecht. Auf jeden Fall fragmentarisch, unvollständig, zu kurz und trotzdem langatmig. 

Solidarität mit Daniela. Freiheit und Glückauf für alle gesuchten und gefangenen Gefährten. 

Und der Mut ist so müde geworden
Und die Sehnsucht so groß

Rainer Maria Rilke   

Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Orion – 20. April 2025


Weiterführende Literatur

Kybernetik und Revolte – Tiqqun; Diaphanes 2007, als PDF online
https://ia800803.us.archive.org/35/items/tiqqun_kybernetik_und_revolte/tiqqun_kybernetik_und_revolte.pdf

Thesen zur sudanesischen Commune – Anonym 2021 ; auf deutsch auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/03/thesen-zur-sudanesischen-commune/

In der  englischen Version auf ILL WILL
https://illwill.com/theses-on-the-sudan-commune

Über den bewaffneten Kampf  in Westeuropa – Rote Armee Fraktion; Mai 1971 
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/bewaffnetenkampf.php

Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt – Burkhard Garweg
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.militante-linke-burkhard-garweg-welt-bewegt-sich-auf-kipppunkt-zu.html

Erklärung der RAF vom März 1994 zum Spitzel Steinmetz und zu der Spaltung zwischen einem Teil der Gefangenen und den Illegalen und dem grösseren Teil der Gefangenen aus der RAF
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019940306_0.pdf





 









Von Lumpen und schwarzen Löchern [Part 1]

Trotzdem war der (für Brixton recht gemischten Menge) von mehreren hundert Personen gestern Abend recht feierlich zumute, als sich die Autos in beiden Fahrtrichtungen auf der Brixton Water Lane stauten. Sie wissen nur zu gut, dass sie sonst nicht zu den Gewinnern zählen. Die Gelegenheit, einen Fischzug mit Elektroartikeln im Wert von mehreren hunderttausend Pfund zu machen – und das noch dazu direkt vor der Nase der hilflosen Polizei, von der sie sonst regelmäßig schikaniert, geschlagen oder getötet werden, – beschert allen eine großartige Nacht. Die 14-jährigen Mädchen, die auf dem Weg, sich den 60 Zoll-Plasma-Bildschirm ihrer Träume zu holen, über den Parkplatz der Curry-Filiale eilten und mich dabei anrempelten, waren höflich genug, mir ‘Entschuldigung’ zuzurufen – und sie meinten es aufrichtig. Gestern Abend war jeder auf der Straße bester Stimmung. Die Spielverderber aus den Massenmedien waren da heute morgen allerdings anderer Meinung.

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011 

DIE ANGST UND DER MUT ZU KÄMPFEN

Nanni Balestrini hat in seiner Trilogie “Die große Revolte” eindrucksvoll an das Schicksal der zehntausenden von subproletarischen Jugendlichen erinnert, die nichts hatten und aus dem Nichts kamen um sich umso vorbehaltloser der Revolte von 1977 anzuschließen. Er erinnerte als einer der wenigen daran, was aus ihnen geworden ist, nachdem die Bewegung zusammengebrochen war unter der Last von politischer Begrenzung, Spaltung und Repression, die Abertausenden, die an der Nadel landeten oder in der Perspektivlosigkeit von Kriminalität, Knast, Kriminalität, Knast…Jene, die sich selbst völlig aufgaben und in der Klapse, auf dem Straßenstrich oder am Strick endeten. Er erinnert in dem Band “Die Unsichtbaren” in einer Art und Weise an die Leere des Blicks der Eingekerkerten, denen nur das ferne Asphaltband der Autobahn als Horizont dort draußen hinter den Mauern geblieben ist, dass es einem beim Lesen vor Schmerz ganz übel wird. Unwillkürlich schleicht der Panther von Rilke durch das Bild: 

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe 
so müd geworden, daß er nichts mehr hält. 
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe 
und hinter tausend Stäben keine Welt

Der Tahrir Platz wurde 2011 zum Symbol des sogenannten “arabischen Frühling”, jene aufständische Bewegung, die sich durch alle Länder des Nahen Ostens zog und auch weite Teile Afrikas erfasste und ohne die es die “Bewegung der Plätze” in Südeuropa ebenso wie “Occupy Wall Street” nie gegeben hätte. Doch die Besetzung des Tahrir Platzes hätte ohne die Aufopferung der Ultras der großen Kairoer Fussballclubs nicht so lange durchgehalten, an vorderster Front verteidigten sie die Barrikaden, die die Platzbesetzung beschützten. Das (neue) Militärregime nahm wenig später beim inszenierten Massaker im Stadion von Port Said grausame Rache, dutzende Menschen starben, die meisten von ihnen Fans des al-Ahly Clubs aus Kairo, viele waren noch nicht einmal 18 Jahre alt geworden. 

Am 22. September 1981 wurde in Westberlin Klaus-Jürgen Rattay getötet, als eine Bulleneinheit Demonstranten unter Knüppeleinsatz in den fließenden Verkehr der Potsdamer Straße trieben, die vor dem an diesem Tag geräumten Haus in der Bülowstraße gegen einen provokanten Presse-Auftritt des faschistoiden Innensenators Lummer in der Bülow 89 protestieren. Klaus-Jürgen Rattay, der aus einfachen Verhältnissen stammte und ohne Mutter bei seinem Vater aufgewachsen war und es nur bis zur Sonderschule geschafft hatte, war mit 18 Jahren monatelang durch Europa getrampt, bis es ihn nach Westberlin verschlug. Am Vorabend seines Todes sagte er in einem Interview im Schatten der besetzten Häuser in der Winterfeldtstraße, die am nächsten Tag geräumt werden sollten: “Ich bin hier einfach nach Berlin gekommen, um teilzunehmen an den Hausbesetzungen und so”…. “Ich bin aus der Gesellschaft ausgestiegen, weil ich keinen Bock hatte, weiterhin zu arbeiten. Weil man auch dauernd unterdrückt wird bei der Arbeit, von irgendwelchen Wichsern. Ich bin jetzt seit anderthalb Monaten hier und finde es gut, dass hier unwahrscheinlich viel gekifft wird. Ich finde es astrein, wie die Leute hier zusammenleben. Vor den Räumungen habe ich Angst, aber ich habe gleichzeitig Mut, zu kämpfen”.

Durch die (vorherrschende) gedankliche Welt der Theoretiker des historischen Materialismus, die heutzutage – ihrer gesellschaftlich-sozialen Fähigkeit zur analytischen Durchdringung der herrschenden Ordnung weitgehend beraubt – vorwiegend nur noch als Folklore selbsternannter Repräsentanten der angeblichen objektiven Interessen der Arbeiterklasse in Form von Gewerkschaften, Parteien und Sekten jeglicher Coleur daherkommen, zieht sich von Beginn an eine Abneigung gegenüber jenen Sektoren des Proletariats, die von Marx und Engels in diversen Schriften dutzende Male als „Lumpenproletariat“ gebrandmarkt wurden, ohne dass eine wirkliche analytische Begrifflichkeit dieses geheimnisvollen „Lumpenproletariats” generiert wurde. Scheinen jene Sektoren der unterdrückten Klasse in den Anfängen der Untersuchungen von Marx und Engels vor allem eine für die revolutionäre Strategie vernachlässigbare Größe, wird das „schnapslustige Lumpenproletariat“ (Marx in ‘Sieg der Konterrevolution zu Wien’, 1848) im Laufe der Jahre zu einer Projektionsfläche, der vor allem aus moralischen Erwägungen mit Vorsicht und Misstrauen zu begegnen sei. Ständig zu willkürlichen, unkontrollierbaren Aufständen neigend, im Kern korrupt und käuflich und damit jederzeit als konterrevolutionäre Masse rekrutierbar. Des Pudels Kern, um ein passendes Wortspiel Goethes über Mephisto zu gebrauchen, ist die historisch eingeschriebene Verachtung der Gralshüter der historischen Linken für jene Segmente des Subproletariats, die man heute nicht mehr “Lumpen” schimpft, denen man aber mit genauso viel Verachtung gegenübertritt, sei es wenn sie zu Silvester die Straßen von Berlin in Brand setzen oder die fürsorglichen Ausgangssperren des Corona – Regimes in den Banlieues von Paris bis Neapel massenhaft brechen. Die geschichtliche Ironie ist aber, dass die Ausbeutungsrealität jener verachteten Klassensegmente nun die unmittelbare Zukünftigkeit der Verwertungslogik des Kapitalismus repräsentiert. In der Auflösung der traditionellen ‘garantierten’ Ausbeutungsverhältnisse finden sich die “zentralen Klassensegmente” zunehmend in eben jener komplexen ökonomischen Verwertungs- und Lebensrealität wieder, in denen das “Lumpenproletariat” sein Überleben ebenso wie sein Aufbegehren schon seit langer Zeit bewerkstelligt. 

DIE SCHULE DER BARBAREN

“Die Grenze um das Schwarze Loch, hinter der sich auch Licht nicht mehr entfernen kann, heisst Ereignishorizont. Alles was hinter dem Ereignishorizont geschieht, bleibt für uns unsichtbar. Rechnungen zeigen zudem, dass dort Raum und Zeit durch das extreme Verhältnis von Masse zu Volumen so stark verzerrt sind, dass wir sie nicht mehr mit unseren physikalischen Modellen beschreiben können.”

Erst in jüngster Zeit wird die Bedeutung der Revolten, Aufstände und Kämpfe der “Lumpen” grundsätzlich anders eingeordnet und analysiert. Riot.Streik.Riot von Joshua Clover und Vorwärts Barbaren von Endnotes seien als zwei beispielhafte epochale Werke erwähnt. Wenn wir das Phänomen der historischen Stigmatisierung des “Lumpenproletariats” durch all die großen und kleinen (linken) Denker besser verstehen wollen, könnte es Sinn machen, sich mit der Theoriebildung der ‘beurs’ in Frankreich zu befassen, die sich nicht nur die abwertende Bezeichnung selbstbewusst angeeignet haben, sondern auch eine neue materialistische ‘Schule der Wilden’ entwickelt haben.

“Es ist eine ästhetische Formulierung, die sagen soll: ‘Das sind wir’. Wir sind Barbaren und gleichzeitig sind wir es nicht. Es ist eine Geschichte der Integration von innen gesehen. Wir sind Barbaren, die in der Tat keine Barbaren mehr sind, denn wir befinden uns im Herzen des Imperiums, wir beherrschen die Codes des Imperiums, wir beherrschen die Sprache des Imperiums und gleichzeitig sind wir nicht vollständig integriert, es gibt etwas in uns, das sich widersetzt, es gibt immer noch eine Andersartigkeit in uns, die fortbesteht, und ich denke, das ist das Ziel des Imperiums, sein letztes Land der Eroberung, denn es hat nicht alles erreicht. Ich denke, das ist wirklich die Besonderheit der kolonialen Beziehung und der rassistischen Beziehung. Es ist nicht nur eine strukturelle Beherrschung, sondern eine intime Beherrschung, die sich in jeden Winkel unserer Existenz einschleicht, und so gibt es einen Teil von uns, der sie nicht verstehen kann, und das ist eine Art Niemandsland, tief in der Seele, das sich dem Imperium, der Domestizierung usw. widersetzt.”

Rester barbare –  Louisa Yousfi 

Bei allen Unterschieden gleichen sich die Mechanismen der Ausgrenzung und Ausbeutung, sowie die Strategien des Überlebens und der Behauptung doch auf faszinierende Art und Weise, auch wenn es im Konkreten nicht immer so brüderlich zugeht wie in ‘La Haine’, wo ein Schwarzer, ein Jude und ein Araber sich durch ihr trostloses Leben in der Banlieue und mit den Bullen schlagen. Um das Notwendige klarzustellen und weil es im Rahmen dieser Textreihe nur möglich ist, Streiflichter zu werfen: Es geht weder um eine neue ‘Randgruppenstrategie’ noch um ein Anwanzen an ‘das migrantische Jugendproletariats’ wie es vor allem von trotzkistischen Splittergruppen samt ihren Vorfeldorganisation gerne in Großbritannien oder auch in Berlin mit all den peinlichen ‘Yalla, Yalla Klassenkampf’ Memes praktiziert wird. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” und in “Exotische Materie” geschrieben, ist es notwendig zu verstehen, wo die neuen ‘Labore der Verwertung’ zu verorten sind und was von der Resilienz der “Lumpen” und “Barbaren” für Verwertungslogik und der ‚Kolonisierung des Bewußtseins’ zu lernen ist. 

NO TIME TO DIE

“Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, dass das eine die Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui für einen großen Revolutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich.”

Das Konzept Stadtguerilla – Rote Armee Fraktion (April 1971)

Um erneut auf Burkhard Garwegs Text ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. Revolutionäre Politik war weder Anfang der 70er noch ist sie jetzt eine Art Sammelbewegung von Identitäten und Erfahrungen von ‘Teilbereichsbewegungen’, diesem Irrtum unterlagen schon die „Autonomen“, als sie versuchten, aus dem unmittelbaren Zusammenstoß mit dem Staat, der ihnen Anfang der 80er “in den Schoß gefallen” war, eine langfristige strategische Ausrichtung zu entwickeln. Aus diesen grundsätzlichen Missverständnis entstand später auch die sogenannte “Revolutionäre 1. Mai Demonstration”, die versuchte, die soziale Eruption des 1. Mai 1987 in ein politisches Event zu überführen und sich in Kreuzberg bei sogenannten Kiezpalavern mit genau jener kleinbürgerlichen grünen Blase zusammenzusetze, die aus Kreuzberg jenen schrecklichen Ort machte, der heute als „authentische” Kulisse für Ballermann-Tourismus fungiert, während ein Minderheit der ‘Szene’ auf der Straße ganz praktisch das Bündnis mit dem “schnapslustigen Lumpenproletariat” suchte, allerdings auch dabei eine grundsätzliche strategische Analyse und Ausrichtung missen ließ. 

Die wirklich spannende Frage wäre, aus welchen Faktoren sich der Kurswechsel der RAF Anfang der 70er zusammensetzte, weg von der „Wechselwirkung zwischen bewaffneten Kampf und politischer Arbeit in Betrieb und Stadtteil”, hin zu einer ausschließlichen Konfrontation mit dem Staat und der Bestimmung als Fraktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf. Leider kann der Text von Burkhard Garweg darüber ebenso wenig Auskunft geben wie die historischen Dokumente der Texte und Anschlagserklärungen der RAF aus jenen Tagen. Ganz sicher hat diese “Unsichtbarkeit hinter dem Ereignishorizont” vor allem auch damit zu tun, dass die meisten der Genossinnen und Genossen der RAF, die damals die strategische Ausrichtung der RAF konzipierten, allesamt entweder von den Bullen erschossen wurden oder im Knast “ums Leben kamen”. 

So oder so. Es gilt sich nicht mit dem ganzen partizipativen und diskursiven Müll aufzuhalten. “Es reicht nicht, nur aufzurüsten. Wir müssen auch wirtschaftlich wieder Zugkraft entwickeln. Und Deutschland muss die Lokomotive sein. Wir sind das bevölkerungsreichste und ökonomisch stärkste Land in Europa. Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir eine zentrale Rolle spielen wollen – wir müssen diese Rolle innerhalb Europas ausfüllen.” So sagte es heute Jens Bodo Koch, CEO von Heckler & Koch in einem Interview. Deutschland auf dem besten Weg wieder eine Großmachtrolle einzunehmen… Kriegsbereitschaft, Wehrpflicht, totale Kontrolle nach Innen. Nach wie vor ist die Parole von “Krieg dem imperialistischen Krieg” hochaktuell, bleibt nur die Frage, wie eine neuer Antagonismus sich konstituieren kann, der dem Leben einhaucht. Die Erfahrungen der ‘brothers and sisters in arms’ sind dafür unverzichtbar. 

“Es muss niemandem gesagt werden, dass diese Welt am Abgrund steht. Die Beweise sind überall. Doch nichts an der Katastrophe, die wir durchleben, macht eine Revolution unvermeidlich. Entscheidend ist nicht, anzuprangern oder zu kritisieren, sondern die Nähte zu studieren, die es erlauben, Situationen aufzubrechen, die es zulassen, dass sich Antagonismen ausbreiten und verallgemeinern, die unserem Leben hier und jetzt Bewegung und Zuversicht zurückgeben. Zeitgenössische Kämpfe weiten sich nicht um Ideen oder Ideologien aus, sondern um Gesten, die ihrem Moment einen Sinn geben, situierte Wahrheiten, die es zu verteidigen lohnt. Eine Million richtiger Ideen über die Gegenwart werden von einer einzigen Handlung die diese Realität verändert weggefegt.”

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben

Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Orion – 19. April 2025

…wird fortgesetzt


Weiterführende Literatur: 

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011; Laika Diskurs  2011

Die große Revolte – Nanni Balestrini; Assoziation A 2008

WIKIPEDIA ausführlich zum Massaker von Port Said
https://de.wikipedia.org/wiki/Stadion-Ausschreitungen_von_Port_Said#:~:text=Bei%20den%20Stadion%2DAusschreitungen%20von,Ausschreitungen%20in%20der%20%C3%A4gyptischen%20Fu%C3%9Fballgeschichte.

RIOT.STRIKE.RIOT – Joshua Clover; Galerie der abseitigen Künste (Verlag) 2021, Hg. der deutsche Ausgabe Dellwo und Szepanski

Vorwärts Barbaren – Endnotes; in der deutschen Übersetzung in der Sunzi Bingfa 2021
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/01/11/vorwaerts-barbaren/,
das engl. Original 2020 
https://endnotes.org.uk/posts/endnotes-onward-barbarians

Rester barbare – Louisa Yousfi; La fabrique éditions 2022, eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Eine Rezension von Ferdinand Bigard in der deutschen Übersetzung auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/07/14/wenn-schonheit-nicht-wehrlos-ist-uber-das-buch-rester-barbare-von-louisa-yousfi/

Das Konzept Stadtguerilla – RAF 1971, online u.a.auf rafinfo.de
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php

Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt  – Burkhard Garweg 2025 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.militante-linke-burkhard-garweg-welt-bewegt-sich-auf-kipppunkt-zu.html

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben 2021 – In der deutschen Übersetzung auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/31/memes-ohne-ende/
im engl. Original auf ILL WILL 
https://illwill.com/memes-without-end#fn49ref




 





 

 

Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [Part II]

“In den ersten Monaten des Jahres 1978 und nach dem tragischen Ende von Aldo Moro ist ein ständiges Anwachsen der bewaffneten Gruppen und bewaffneten Aktionen zu verzeichnen. In die größten Formationen strömen hunderte von Militanten aus der autonomia diffusa und ganze Sektionen von Fabrikavantgarden, exemplarisch in dieser Beziehung ist die Geschichte der Brigade Walter Alasia in Mailand, deren Mitglieder zu großen Teil Jugendarbeiter waren.”… “In der ‘Resolution der strategischen Leitung’ vom April 1975 hatten die BR endgültig die Form des Selbstinterviews aufgegeben um sich mit einem offiziellen Dokument darzustellen, das danach strebte eine Art Generalprogramm in der Tradition der historischen Parteien der Dritten internationale zu sein. Schon diese Entscheidung, scheinbar formal, war bezeichnend für die Setzung der bewaffneten Organisation als hegemoniales Element in der Komplexität des aktuellen revolutionären Prozesses. Also nicht mehr eine bewaffnete illegale Gruppe als Bezugspunkt der radikalsten Erfahrung in der Klassenkonfrontation, sondern eine wirkliche Organisation, die, indem sie den ‘bewaffneten Kampf’ als einzige strategische Linie der Klassenkonfrontation, als ‘die Form’ der Revolution setzte, dazu tendierte, in ihrem Innern alle von der Komplexität der realen Bewegung produzierten Erfahrungen umzuinterpretieren. Eine strategische Entscheidung dieser Art konnte nichts anderes als eine drastische Reduktion der Komplexität und des Reichtums der organisatorischen Erfahrung bewirken und damit eine fortschreitende Gegenposition zu anderen Kampferfahrung provozieren, nicht nur in den Resten der außerparlamentarischen Gruppen, sondern auch in der diffusen und organisierten Autonomia.”

Die goldene Horde – Primo Moroni und Nanni Balestrini

Einer der Treppenwitze der Geschichte des militanten Antagonismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa ist, dass die Rote Armee Fraktion, die sich zu jeder Phase ihres Bestehens aus nicht (wesentlich) mehr als ein, zwei Dutzend Genossen und Genossinnen zusammensetzte, erst Mitte der 90er in jene existentielle Krise geriet, die schließlich 1998 zu ihrer Selbstauflösung führte, während die Roten Brigaden (BR), die zu ihren Hochzeiten tausende Militante und Unterstützer zählten, schon 1980 die ersten Spaltungen erlebten, als sich die Mailänder Kolonne Walter Alasia von den BR lossagte, um zu ihren “operaistischen Wurzeln” zurückzukehren. Jene Überreste der BR (die Ende der 70er, Anfang der 80er aberhunderte von inhaftierten Militanten und ‘Abtrünnige’ und ‘Abschwörer’ zu verkraften hatten), die als BR-PCC (Kämpfende Kommunistische Partei) zusammen mit der RAF und der Action Directe (AD) die “westeuropäische Front” aufbauen wollten, hatte zu diesem Zeitpunkt Anfang der 80er schon praktisch jeglichen Rückhalt in den Fabriken des italienischen Nordens verloren und auch ihr Rückhalt in den Überresten “der Bewegung”, die an ihrem Höhepunkt über 100.000 Militante mobilisieren konnte, und die ebenso von der Repressionswelle gebeutelt war, war nur noch marginal. Folgerichtig erklärt die “historische Führung” der BR 1987 den bewaffneten Kampf für beendet, auch wenn verschiedenste Splittergruppen unter wechselnden Namen weiterexistieren und bis Anfang des 21. Jahrhunderts Aktionen durchführten. 

In der sozialen und politischen Verankerung so extrem unterschiedlich, gleicht sich die Geschichte der RAF und der BR jedoch an verschiedenen Punkten, für diese Zeilen bedeutend soll die von Primo Moroni und Nanni Balestrini herausgestellte Umorientierung der BR Mitte der 70er sein, die “den bewaffneten” Kampf als “zentral” in der Klassenkonfrontation setzte, alle anderen Kampfabschnitte als nebenrangig betrachtete, eine Hybris, die sich auch durch das sogenannte “Front-Papier” der RAF von 1982 und die darauf gründende Aktionslinie der folgenden 10 Jahre zieht und auf die auch Burkhard Garweg in seinem im Neuen Deutschland veröffentlichten Text eingeht. Im Kern scheinen hier die gleichen sich aus einem Subjektivismus speisenden kapitalen Fehleinschätzungen zugrunde zu liegen und doch liegen die Dinge aus meiner Sicht etwas anders. Burkhard Garweg merkt in seinem Text an: “Eine auch sozialrevolutionäre und nicht nur antiimperialistische Stadtguerilla hätte vielleicht die Chance gehabt, die unabhängig von der RAF Ende der 70er und in den 80er Jahren entstandenen Bewegungen, die zum Teil auch militant waren: die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Anti-Nato-Bewegung, die feministische Bewegung und die Solidaritätsbewegungen mit den Befreiungsbewegungen des Trikont in einer sozialrevolutionären und antiimperialistischen Fundamentalopposition zusammenzufassen.” 

Aus meiner Sicht unterliegt Burkhard Garweg hier einem entscheidenden Irrtum, denn woher hätte denn diese “sozialrevolutionäre” Orientierung kommen sollen, in dem historischen Kontinuum, im dem sich die RAF bewegte und das ihre innere, “historische” Logik repräsentierte, war nur ein “Bündnisangebot” an “die Bewegung” möglich, so wie es in dem “Frontpapier” von 1982 gemacht wurde (und selbstverständlich mit dem Anspruch einer “Führungsrolle” der bewaffneten Gruppe). Geschichte funktioniert nie als ein rückwärts gewandter Prozeß, so wie sich die Entwicklung oder auch “der Sprung” hinein in die “Bewaffnete Konfrontation” immer in konkreten historischen Bedingungen realisiert, so ist es nicht möglich “Geschichte zurückzunehmen”, deshalb strömten Hunderte in Italien aus der Autonomia in die bewaffneten Gruppen, auch zu den ideologisch eher fernen BR, aber es ist eben nicht möglich diesen Prozess zurückzudrehen, es gibt nur das (Eingeständnis des) Scheitern und die Suche nach neuen Wegen unter veränderten Bedingungen. Und deshalb war auch der Versuch der Mailänder Kolonne Walter Alasia der BR, “zu den operaistischen Wurzeln” zurückzukehren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. 

Und gegen den auch noch heutzutage von Teilen der ehemaligen Autonomia erhobenen Vorwurf, die BR hätten mit ihrer “Zuspitzung” in Form der Entführung und Liquidierung von Aldo Moro eben jene Repression heraufbeschworen, deren “Opfer” dann auch die Strukturen der Autonomia wurden, sei angemerkt, dass dieser Vorwurf simplifizierend und ahistorisch ist (was nicht impliziert, dass es nicht berechtigte Kritik an den strategischen Entscheidungen der BR zu üben gilt), weil die Repression nicht der eigentliche Grund für das Ende des Aufbruchs in Italien (Mitte bis Ende der 70er) war, sondern die Ursache sich in der mangelnden politischen, sozialen und organisatorischen Perspektive auf dem Höhepunkt der Bewegung 1977 verortet, die auch etwas mit der isolierten italienischen Entwicklung zu tun hatte, die zu diesem Zeitpunkt nicht in einem internationalen Kontext des Klassenkampfes stattfand und so in der “militarisierten” Sackgasse der diversen Gruppen endet. Unfähig die Klassenkonfrontation  auf das nächste Level zu heben (der Bürgerkrieg, bzw. die Tendenz zum Bürgerkrieg), nicht dazu fähig, diesen objektiven Mangel zu realisieren, wird “die Partei” nicht zur “historischen Partei” sondern als “bewaffnete Partei” zum Ausdruck eines Subjektivismus ohne eine ausreichende soziale und gesellschaftliche Verankerung, eine “Partei” die “von Außen” kommt, nicht “aus der Klasse”. Die Frage, die es zu untersuchen gilt, und die die Situation in den 70er in Italien von der in der BRD scheidet, ist die nach den möglichen Wegen, die es auf dem konkreten Niveau der Klassenauseinandersetzung gab und die nicht gegangen wurden und die im Unterschied zur Entwicklung in der BRD nicht nur eine “antiimperialistische Guerilla” als “Frontabschnitt” im weltweiten Prozeß zugelassen hätte. Sich diesen Frage zu stellen, jenseits von Moralismus, Distanzierung und Historisierung ist revolutionäre Politik heute. 

“In der 1970er Jahren schlossen Stephen Hawking, Kip Thorne und John Preskill eine Wette darüber ab, ob ob die Information über hineinstürzende Objekte tatsächlich im sogenannten Schwarzen Loch vernichtet werde (gemäß dem relativistischen Standpunkt von Hawking und Thorne) oder irgendwie erhalten bleiben könnte (gemäß der Quantenphysik im Sinne Preskills). Im Jahr 2004 gab Hawking seine Wette als verloren, obschon die Klärung der Wette noch aussteht.”

So wie alle meine bisherigen Ausführungen in ‘Wurmlöcher des Antagonismus 1 + 2’ sowie ‘Exotische Materie 1’ fragmentarisch bleiben, ja schon angelegt sind, sowohl die heutigen Bedingungen als auch die nicht historisierende Reflexion geschichtlichen Antagonismus betreffend, so offen bleibt die Wette darauf, wie der neue geschichtliche revolutionäre Anlauf ausgehen wird. Denn um nicht weniger geht es in den notwendigen Reflexionen der weltweiten Aufstände und Revolten dieser letzten knapp 2 Dekaden, die ebenso die Bedingungen der gegenwärtigen geschichtlichen Entwicklung determinieren, wie die Neuordnungen um die globale Hegemonie, in die unter den Bedingungen der Verwertungskrise die Tendenz zum Krieg eingeschrieben ist. Revolutionäre Positionen und Analysen auf der Höhe der Zeit zu entwickeln um den “Hunger der Massen nach Politik” (wie ich, Quadrelli zitierend, in Teil 1 von “Exotische Materie” geschrieben hat) zu stillen, bedeutet derzeit aus meiner Sicht vor allem zwei Dinge:

Der Bruch mit der historisch überholten Linken, die immer noch in der Denke von so vielen Leuten sitzt, die eigentlich auf der Suche sind nach einer Möglichkeit, wieder einen revolutionären Antagonismus auf die Tagesordnung zu setzen. Darin müssen die Aufstände der letzten 2 Dekaden ebenso in ihren Praxen wie in ihrer Verweigerung jeglicher Repräsentanz bedingungslos verteidigt werden. 


Die Erzählung vom “Ende der Welt”, die im Kern eine Spielart der Erzählung vom “Ende der Geschichte” ist, muss bekämpft werden. Es geht weder darum, die Folgen der vom Kapitalismus geschaffenen Klimaveränderungen zu negieren oder klein zu reden, sondern darum, den allgegenwärtigen Katastrophismus abzuschütteln, der nur Hilflosigkeit und Appelle an die herrschende Klasse generiert. 

Um auf diese beiden Punkte näher einzugehen: der vorherrschende linke Diskurs betont immer wieder die Schwäche des “eigenen Lagers” bzw. die Allmacht des Gegners, die Tendenz zur Faschisierung in Gesellschaft und innerhalb der Apparate von Macht und Eliten. Diese Sicht ist auf der einen Seite absolut reduzierend und ausschließend, weil sie sich nicht innerhalb der Analyse des realen Klassenantagonismus bewegt, der in den letzten 20 Jahren von einer Intensität gekennzeichnet ist, wie wir es zuletzt im Übergang von Fordismus zum Postfordismus gesehen haben. Die scheinbar so unterschiedlichen Formen der weltweiten Revolten und Aufstände sind aber fast alle eben Ausdruck der Veränderungen der Klassenzusammensetzung und der Suche der Subjekte der Klasse nach der gegenwärtigen Form des Antagonismus. Die Revolten “springen nicht weiter, als möglich”, weil der revolutionäre Horizont nicht umrissen ist. Eben der “Hunger der Massen nach Politik”. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, werden immer wieder konterrevolutionäre Konjunkturen Partizipationsmodelle in die gesellschaftliche Interaktion zu integrieren suchen. Die andere Seite dieser Medaille sind die Faschisierungstendenzen, die im Wechselspiel mit den Partizipationsmodellen die Wucht der Zusammenstösse der letzten 20 Jahre aufnehmen und in ein neues Herrschaftsmodell integrieren sollen. Eine Klasse ohne konkrete revolutionäre Perspektive bleibt so gefangen in diesem Spiel zwischen dem großen und kleineren Übel. 

“Ein Trauma ist oft mit einer früheren Erfahrung von Verlust oder Gewalt verbunden. Jetzt sind wir zum ersten Mal mit einem umgekehrten Trauma konfrontiert: dem Trauma des drohenden und unausweichlichen Zusammenbruchs, das den Geist und den Körper junger Menschen auf der ganzen Welt heimsucht.

Die dysphorische Generation, die in einem Zustand physischer Isolation und emotionaler Lähmung aufgewachsen ist, ist traumatisiert von der unbeschreiblichen Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe. Sie weiß, dass der Planet immer weniger mit menschlichem Leben kompatibel sein wird.”


So schreibt Franco ‘Bifo’ Berardi in seinem jüngst erschienen Text “Die Frage”. Die Frage, um an den Titel von Bifos Text anzuschließen, ist es aber, die Bedingungen des angenommenen ‘umgekehrten, aus der Zukunft rührenden’ Traumas zu untersuchen. Zuallererst gilt es festzuhalten, dass (jenseits der notwendigen Anmerkung, dass der Begriff des Traumas heutzutage inflationär verwendet wird) des Pudels Kern nicht das erlittene Trauma, sondern die Möglichkeit des Umgangs mit dem Erlebten (oder um bei Bifo zu bleiben: Mit Sicherheit Eintretenden) ist. Menschen, Individuen als auch Gruppen, reagieren sehr unterschiedlich auf traumatische Erlebnisse, ja ‘werten’ identische Erlebnisse häufig auch unterschiedlich als für sie traumatisierend oder nicht. Ebenso werden sie unterschiedliche Wege wählen, um einen Umgang mit Traumata zu finden. Jenseits von diesen Differenzierungen bleibt aber die zutreffende Beobachtung, dass die Erzählung vom “Ende der Welt” eine Überforderung des menschlichen Geistes darstellt, aus die er entweder in Regression (Die ‘Flucht auf den Mars’ als eine Spielart der Regression der Reichen; Appelle an die herrschende Klasse, “es nicht so weit kommen zu lassen” durch die Beherrschten; oder: Leugnung der Realität, gibt keinen Klimawandel, halb so schlimm), oder Autoaggression (Depression in all ihren individuellen und gesellschaftlichen Spielarten) flüchtet, weil er für sich keine Handlungsmöglichkeiten findet. 


Die Erzählung vom “Ende der Geschichte” erklärte den Klassenkampf mit dem Sieg über den Staatskapitalismus für beendet, jegliches Kämpfen für eine andere Gesellschaftsordnung obsolet, so wie die Erzählung vom “Ende der Welt” jegliche Anstrengung für eine “andere Welt” obsolet macht. Es bleiben nur Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Unterwerfung. Die Erzählung vom “Ende” als perfekte Kolonialisierung des Bewusstseins. Geschichte ist aber immer ein offener Prozess. Natürlich muss der Klimawandel ebenso wie der Faschismus gestoppt werden, realistisch ist dies aber nur im Aufreissen des revolutionären Horizonts. Zum zweiten Mal nach 1917 erleben wir ein weltweites Anstürmen gegen die herrschenden Verhältnisse, es gilt nur die Bilder zu verstehen, die Syntax zu analysieren, in der diese weltweite Revolte zu uns spricht. Gemeinsam. Schritt für Schritt. 


“Jede Macht ist endlich. Und auf ihrem Höhepunkt in ihrem fragilsten Aggregatzustand. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns. Eben noch konnten sie über Nacht zwei Drittel der Weltbevölkerung wegsperren, jetzt taumelt der Koloss. Das ist die wichtigste revolutionäre Tat derzeit, diese Kunde in die Welt zu tragen. Dies führt unvermeidlich dazu, dass aus Proteste Riots, aus Riots Revolten, aus Revolten Aufstände, und aus Aufständen Revolutionen werden. Wenn die Hoffnung zurückkehrt. Revolutionen resultieren nicht aus Verzweiflung, Aufstände resultieren häufig aus Verzweiflung, Revolutionen resultieren aus Zuversicht.”
Post Covid Riot Prime Manifest


Liebe, Kraft und Zuversicht allen inhaftierten Gefährt*innen und den Genoss*innen auf der Flucht. 


Sebastian Lotzer, aus dem Nebel des Orion – 12. April 2025


Anmerkungen


Wurmlöcher des Antagonismus 1   https://non-milleplateaux.de/wurmlocher-des-antagonismus-part-i-polykrise-und-hybris/

Wurmlöcher des Antagonismus 2
https://non-milleplateaux.de/wurmlocher-des-antagonismus-part-ii-subjektivismus-und-klasse/

Exotische Materie 1
https://non-milleplateaux.de/exotische-materie-vom-sozialen-zum-politischen-antagonismus-part-i/ 

“Die Frage” von Bifo auf Deutsch auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2025/04/04/die-frage/

Alle Teile vom Post Covid Riot Prime Manifest  zusammengefasst als PDf in der Sunzi Bingfa veröffentlicht
https://sunzibingfa.noblogs.org/files/2022/11/postcovidtrilogie-print.pdf

Weiterführende Lektüren

Renato Curcio: Mit offenem Blick – Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden in Italien von Mario Scialoja. Online komplett hier

https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/offener-blick/offener-blick.html

Rote Brigaden; Fabrikguerillia in Mailand 1980/81 – Ex Militante der Kolonne Walter Alasia erzählen ihre Geschichte. Online komplett hier
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0219841100_0.pdf







Exotische Materie – Vom sozialen zum politischen Antagonismus [Part I]

“Dabei ist davon auszugehen, dass die transnationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander stehen, aber es eben auch Überschneidungen ihrer Strategien gibt, insofern sie kein Interesse an Staaten haben, die ihnen den Zugang zu ihren Märkten erschweren oder gar verwehren.”

Achim Szepanski: Die Ekstase der Spekulation  

Friss oder stirb (selbst)

Nur kurze Zeit nachdem Trump die neuen Strafzölle für Importe verkündet hatte, deren Effekte für die US Wirtschaft den New Deal in den Schatten in den Schatten stellen sollen, brach an den US Börsen die Hölle aus. Beim S&P 500 Index, der die 500 wichtigsten börsennotierten US Unternehmen zusammenfasst, brachen in der Nacht zu Freitag die Kurse auf breiter Front ein und es kam zu Verlusten in Höhe von 2,8 Billionen Dollar. Die berühmten 1% traf es besonders hart, die 500 reichsten Menschen der Welt verloren an einem einzigen Tag über 200 Milliarden Dollar. Ironischerweise gehörten die Tech-Milliardäre Zuckerberg, Bezos und Musk zu den ganz großen Verlierern, allein Zuckerberg, der sich ebenso wie die anderen “jungen Wilden” zur Amtseinführung von Trump eingefunden hatte, verlor an seinem persönlichen “schwarzen Freitag” an die 18 Milliarden Dollar an Vermögenswerten. Die gesamte US Technologiebranche, die eigentlich der Motor zur Bewältigung der Kapitalverwertungskrise sein sollte und deren Kurse in den letzten Jahren durch die Erwartungen an die “KI-Revolution” unglaublich gehypt worden waren, hatte schon jüngst den Einbruch der Kurse durch die Präsentation des chinesischen Mosquito DeepSeek wegstecken müssen. Daniel Ives, Managing Director und Senior Equity Research Analyst für den Technologiesektor bei Wedbush Securities, einer der gefragtesten strategischen Analystengrößen sprach angesichts von Trumps Ankündigungen von Strafzöllen von einem “drohenden ökonomischen Armageddon”. Auch in Europa kam es als Reaktion auf den von Trump erklärten “Handelskrieg” (sowie der Reaktion der chinesischen Regierung, mit gleicher Münze heimzuzahlen) zu massiven Kurseinbrüchen an den wichtigsten Börsenplätzen. Der Dax gab um die 5% nach, auf gleicher Höhe bewegten sich die Kurseinbrüche des Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50. In der Wochenbilanz gaben die Dax Werte um 8% nach, der größte Absturz seit dem Beginn des Ukraine-Krieges. 

Wie schon in der Frage des Ukraine-Krieges geht Trump erneut All in. Und erneut verbindet er seine Drohungen mit der Aufforderung, sich mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen, um neue Modalitäten mit ihm auszuhandeln (Die Strafzölle für mexikanische und kanadische Produkte hatte er wieder “ausgesetzt”, nachdem ihm die Regierungen der beiden Länder in den Fragen der “Grenzsicherung” und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entgegen gekommen waren.). Doch diesmal könnte er sich verspekuliert haben. Nicht nur, dass ihm die treue Gefolgschaft der Technologiebranche entfolgen könnte, auch die Big Player der weltweit agierenden Investmentfonds von BlackRock und Co werden eine dauerhafte Vernichtung ihrer Vermögenswerte nicht tatenlos hinnehmen und Trump zu einer Kurskorrektur zwingen, bzw. verstärkt in den westeuropäischen Markt investieren, auf dem sie stabilere und berechenbarere Rahmenbedingungen vorfinden. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” ausgeführt, wird Trumps Strategie die geopolitische, wirtschaftliche und militärische Ordnung grundlegend umgestalten, insofern vollzieht der neue Kurs der US Regierung nur die überfällige Korrektur, die aus der Verwertungskrise und dem Konflikt um die Hegemonie mit China folgt, ob diese Korrekturmaßnahmen allerdings von Erfolg gekrönt sein werden, oder die Figuren auf dem Schachbrett ganz anders und entgegen der Vorstellungen von Trump neu aufgestellt werden, steht auf einem anderen Blatt. Trump wird also entweder seine Anpassungsfähigkeit an die Gesetze des Marktes auch in der Rolle des politischen Leaders beweisen müssen (was ihm in seiner ersten Amtsperiode mit wesentlich bescheideneren Ambitionen gelungen ist) oder er wird nur eine Randnotiz der Geschichte bleiben, gezügelt und gekränkt kastriert von den Gesetzen des Marktes. So oder so, die Tendenz zum Krieg, der Übergang vom „permanenten Ausnahmezustand” zum “permanenten (latenten) Kriegszustand” ist in die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungskrise des Kapitals eingeschrieben und nicht das Ergebnis der Boshaftigkeit “alter, weißer Männer”. Jegliche gesellschaftliche antagonistische Option sollte sich auf das dringlichste von solchen moralisierenden Weltbildern verabschieden und sich auf der Grundlage einer materialistischen Analyse konstituieren.

Der Hunger der Massen nach Politik

Vor gut 20 Jahren haben neuseeländische Wissenschaftler die (bisher nicht bezweifelte These) aufgestellt, dass “exotische Materie” in der Lage ist, stabile Wurmlöcher im Universum zu kreieren. Das Problem besteht aber darin, dass diese exotische Materie im Gegensatz zu “normaler Materie” nicht aus Atomen besteht, nicht künstlich erzeugt werden kann und die durch die “exotische Materie” erzeugten Wurmlöcher schon durch ein einzelnes Atom zum Einsturz gebracht werden können, wie Hawking herausgearbeitet hat. Ein weiterer Grund, “Zeitreisen” von Objekten nach dem derzeitigen Kenntnisstand auszuschließen…

Um an die Ausführungen von ‘Wurmlöcher des Antagonismus’ anzuschließen, geht es in der derzeitigen historischen Zuspitzung nicht nur um die Rückbesinnung auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse und den notwendigen radikalen Bruch mit allen Linien der (linken) Identitätspolitik sondern auch um den Bruch mit der defätistischen apokalyptischen Erzählung, die keine Handlungsspielräume ermöglicht und sich völlig losgelöst von dem konkreten Niveau des Klassenantagonismus im diskursiven Raum bewegt. Geht es darum, sich den neuen Blick auf die Welt, den sich die Aufständischen und Rebellen in den letzten 15 Jahren erkämpft haben, nicht wieder durch die immer auf Partizipation ausgerichtete Erzählung der ‘historischen Linken’ verstellen zu lassen. Das ganze Gerede vom “faschistischen Monster”, gegen das es scheinbar kein Gegengewicht gibt als vage Hoffnungen (und Bündnisse mit der ‚gesellschaftlichen Mitte’) verneint diese Erfahrungen der letzten 15 Jahre, versucht sie auszulöschen. Nicht, dass es die Faschisierungstendenzen nicht geben würde, aber es gilt diese einzuordnen im Kontext von Markt und Klassengegensatz. Die vorherrschende Erzählung vom “Kampf gegen den Faschismus” produziert nicht nur (bürgerliche) Bündnispolitik, sondern erschafft zugleich eine Handlungsunfähigkeit eines ‘realen Antifaschismus’, der sich immer im grundsätzlichen Antagonismus zum Kapital konstituieren muss. So wie die Gesetzmäßigkeiten der Verwertungslogik die politischen Optionen der extremen und populistischen Rechten begrenzen (siehe u.a.die Entwicklung in Italien nach dem Wahlsieg von Meloni), ist realer Antifaschismus nur denkbar auf der Grundlage einer Analyse der derzeitigen realen Klassengegensätze. Alles andere ist im Zweifel lobenswert, aber nicht mehr als Symbolpolitik und identitäre Traditionspflege.   

“In diesem Sinne macht Emilio mit der Chronik [1] einen weiteren Schritt: Er skizziert nicht nur die Merkmale des neuen Großstadtproletariats, d.h. die Klassenzusammensetzung nicht in ihrer soziologischen Abstraktheit, sondern in ihrer politischen Konkretheit, sondern versucht auch, die Konturen einer möglichen politischen Projektualität für die Subalternen nachzuzeichnen, da ‘der Hunger der Massen nach Politik’ dringend Organisations- und Selbstorganisationsformen benötigt, die in der Lage sind, eine Weltsicht und die Ausübung von Gewalt zu konstruieren, d.h. die historische Zeit zu erfassen und mit ihr Schritt zu halten.” 

Atanasio Bugliari Goggia: Von der Unterwelt in Manchester zur Unterwelt in der Banlieue [2] 

So beginnt Goggias Abhandlung über die ‘militante Untersuchung’ von Emilio Quadrelli über die Entwicklung in Frankreich von den Unruhen von 2005 nach dem Tod von Ziad Benna und Bouna Traoré bis hin zu den landesweiten Riots 2024 nach dem Tod von Nahel Merzouk. Während eine ‘historische Linke” sich immer noch völlig unfähig zeigt, sich mit der gegenwärtigen Klassenkonfliktualität anders als soziologisch oder sozialarbeiterisch, also konterrevolutionär, zu befassen, reisst Emilio Quadrelli für uns den aufständischen Horizont auf. Zu den Aufständen und Revolten der letzten 15 Jahre ist so vieles Richtiges und Wichtiges gesagt und geschrieben worden, häufig auch von den Protagonisten selbst. Wenig in diesem Land, aber wer will, wird auch wichtige und gute Texte in deutsch (nicht wenige davon Übersetzungen aus anderen Ländern) dazu finden. Die zentrale Konfliktlinie, die sich von Kairo 2008 über Athen 2011 bis hin zu jenem heißen Sommer im vergangenen Jahr in Frankreich durchzieht, ist ausreichend beschrieben und analysiert worden. An dieser Stelle nicht (noch) mehr davon. Wer es bisher nicht zur Kenntnis genommen hat, dem wird auch an dieser Stelle nicht zu helfen sein. Nun geht es um den nächsten Schritt. Aus der sozialen Konfliktualität eine politische zu realisieren. Dem “Hunger der Massen nach Politik” Futter zu geben. Die Partei, die imaginäre, wie die französischen Gefährten schreiben, oder die künftige revolutionäre, wie die italienischen Genossen sagen, steht auf der Tagesordnung. Wobei sie absolut nichts zu tun hat mit den zahllosen Sekten, die überall am Entstehen sind und ihre Überflüssigkeit wie ihre praktische wie intellektuelle Sinnlosigkeit wahlweise mit Sozialistische oder Kommunistische Was-Auch-Immer bemänteln. 

Hier nun finden wir unsere Aufgabe wie unser historisches Erbe. Hier finden wir auch den Bezug zu dem Versuch, im “Zentrum der Bestie”, sich im aufständischen Prozeß intellektuell wie praktisch zu bewaffnen. Mit allen Irrtümern, die diesem Versuch angehaftet sind. Nicht zufällig kamen fast alle Gründungsmitglieder der Bewegung 2. Juni selbst aus dem Proletariat und nicht aus dem akademischen Milieu der 68er, reichen die Wurzeln der RAF zurück auf die Stadtteilarbeit mit den Menschen im proletarischen Neubaughetto Märkisches Viertel und die Arbeit mit jugendlichen Trebegängern und Heimflüchlingen. 

“konsumentenpolitik ist warenpolitik. die ware ist der konsument. mit dieser zuspitzung der geschichte, die von den global organisierten und global kollaborierenden bourgeoisen gemacht wird, erklärt sich buchstäblich alles. ihre werte sind die ware und der markt, müll und müllhaufen..”

Gudrun Ensslin: Kassiber aus dem Knast von Anfang 1973

Der Sound klingt so unglaublich aktuell. Über die Begrenzungen des Subjektivismus ist einiges in “Wurmlöcher des Antagonismus” gesagt worden. Jenseits der Begrenzungen steht die Notwendigkeit, den gescheiterten Versuch des bewaffneten Antagonismus im konkreten Klassenantagonismus der weltweiten Prozesse im historischen Kontext zu begreifen und einzuordnen. “Dem Volk dienen – RAF” würde heutzutage niemand mehr schreiben, aus guten Gründen – im Kern aber enthielt diese Aussage genau das Bemühen dem “Hunger des Massen nach Politik” eben jene “Organisations- und Selbstorganisationsformen” an die Seite zu stellen um dem Transformationsprozeß von der sozialen zur politischen Frage “Partei” zu sein. Aus dieser Erfahrung, mit allen Fehlern, Erfolgen und Irrtümern, zu lernen und einen Antagonismus auf der Höhe der Zeit theoretisch und praktisch, neu auf die Beine zu stellen, ist nun unser aller Aufgabe. Darunter geht es nicht. Wenn wir es ernst meinen. 

Wird fortgesetzt…

Fußnoten

[1] ‘Chronik von Marseille’, eine Textsammlung von Emilio Quadrelli, die bisher weitgehend nur im italienischen Original vorliegt, ein auszugsweise Übersetzung fand sich auf Bonustracks. 
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/04/04/die-chroniken-von-marseille-es-ist-nicht-alles-gold-was-glaenzt/

[2] In der deutschen Übersetzung auf non milleplateaux
https://non-milleplateaux.de/von-der-unterwelt-in-manchester-zur-unterwelt-in-der-banlieue/



  

Wurmlöcher des Antagonismus (Part II – Subjektivismus und Klasse) 

Sommer 2023, die Unruhen, die begannen, nachdem ein Bulle den 17jährigen Nahel Merzouk am hellichten Tage mit Schüssen aus seiner Dienstwaffe in einem Vorort von Paris exekutiert hatte, enden wie auf ein geheimes Zeichen hin genauso plötzlich, wie sie landesweit aufgeflammt waren. Der französische Arbeitgeberverband bilanziert Sachschäden in Milliardenhöhe, dutzende Polizeiwachen sind in Brand gesetzt worden, hunderte Schusswaffen aus Waffengeschäften, aber auch aus Beständen der Polizei, haben im Zuge der Unruhen die Besitzer gewechselt. Nach den Gründen für das Ende der Unruhen befragt, äußern einige Protagonisten des Geschehens gleichlautend “weil es nichts mehr zu plündern gab”. Was auf den ersten Blick als flapsige Bemerkung daher kommen mag, ist in Wirklichkeit die brillante Analyse der Partei, die von ihrem historischen Entstehen noch keine Vorstellung hat. 

Der Sommer 2023 markiert den Höhe – und Endpunkt der weltweiten Revolten, Aufstände und unvollendeten Revolutionen, deren Flammen sich in den letzten 15 Jahren durch den Globus gefressen haben, entfacht in den Slums und ländlichen Nirwanas des Maghreb. Sich jeglicher Repräsentanz verweigernd, in der Programmatik schlicht und einfach auf den Umsturz “des Regimes” (gleich welcher Spielart) abgestellt, sich selber sammelnd um zentrale Begriffe wie Würde und Freiheit, rasend vor Wut (die Klasse, die sich ihrer selbst bewusst, aber keine Imagination ihrer Überwindung hat), wüten sich die Unruhen auch durch die Jahre des weltweiten Corona Ausnahmezustandes (der intuitive Begriff der Klasse davon, dass es sich um einen Angriff auf sie selbst handelt, in keiner Sekunde dem Gerede von der Fürsorge des Staates glaubend – was sie endgültig von jeglicher Verbundenheit mit der Linken befreit), nehmen in jener Zeit sogar an Fahrt auf, bringen das totalitäre Zero Covid Konzept der staatskapitalistischen chinesischen Führung nach über 2 Jahren Terror innerhalb von 48 Stunden durch sich explosiv ausbreitende Unruhen zu Fall, ein letztes Mal als historische Reminiszenz stürmen Hunderttausende im Juli 2022 den ”Winterpalais” von Colombo. 

Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.” Das berühmte Bonmot von Marx, millionenfach rezitiert, fährt aber (und das fällt meistens unter den Tisch) fort: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.” Die geschichtliche Entwicklung, das konkrete Kräfteverhältnis, aber auch die “Last aller toten Geschlechter”, von denen Marx in diesem Zusammenhang auch spricht, begrenzen jeden Subjektivismus, Revolution ist nie ein freier Willensakt, sondern das Ergebnis revolutionären Handelns im Kontext geschichtlicher Bedingungen, die den Umsturz ermöglichen. Der traurige Irrtum des Ches, der die Einmaligkeit des kubanischen Umsturzes erst in Afrika und dann in Bolivien erfolglos kopieren wollte, ein Irrtum, den große Teile einer ganzen Generation von Militanten der Stadtguerilla in Lateinamerika, aber auch in Europa, teilten (die sogenannte Fokustheorie) und der Unzähligen von ihnen das Leben kostete. Der symbolträchtige ‘Sturm auf den Winterpalast’ (wie in Colombo 2022) kann nur als geschichtliche Farce inszeniert werden, als hilfloser Ausdruck einer Revolte der Klasse, die nicht weiß, wie sie Partei werden kann, wie sie die geschichtliche Reife erreichen kann, die sie zur Revolution befähigt. Die mit sich die Tragödie von 1905 (“die Last aller toten Geschlechter) schleppt, das Massaker auf den Stufen der Potemkinschen Treppe, die Szenen aus Eisensteins Film, hundertfaches Pop Zitat von Brian de Palmas “Die Unbestechlichen” bis zu Terry Gilliams “Brazil”, eingebrannt in das kollektive Unbewusstsein. Die Klasse, die ihre Revolte im Sommer 2023 schlagartig abbricht, als “alles geplündert ist”, weiß um ihre geschichtliche Unreife, sie geht bis an die Grenze dessen, was unter den Bedingungen möglich ist, sie eignet sich der Wert ihrer Arbeit in den Plünderungen temporär an und beendet die Revolte dann, weil sie jetzt zu mehr nicht in der Lage ist. Oder wie italienische Genossen über die Aufstände in Frankreich sinngemäß geschrieben haben “die Aufständischen haben noch keine Forderungen, aber wenn sie welche hätten, wären diese das Programm der zukünftigen revolutionären Partei”. 

Die geschichtliche “Unreife” der Revolte der Banlieue entbindet nicht von der Notwendigkeit, sich in der Analyse des Geschehens jene Brennschärfe anzueignen, um wieder “auf der Höhe der Zeit” revolutionäre Theorie voranzutreiben. Der im letzten Jahr verstorbene Emilio Quadrelli schrieb in diesem Zusammenhang „Der objektive Zustand der Ausgrenzung und Marginalität der Bevölkerungen, die im Kontext der Banlieues leben, d.h. in den Randgebieten der globalen Metropolen, präfiguriert das Schicksal eines großen Teils der zeitgenössischen subalternen sozialen Klassen und repräsentiert somit die Geschichte unserer Gegenwart. Mit anderen Worten, die Banlieue ist die exakte Kristallisation der gegenwärtigen proletarischen Bedingung, einer Bedingung, die das Ergebnis jener Praktiken der kolonialen Herrschaft ist, die das strategische Projekt par excellence des gegenwärtigen kapitalistischen Kommandos darstellen. Aus dieser Perspektive sind die Banlieues also unsere Putilow-Werke“. Aus Gründen ist eine solche Lesart eine (noch) minoritäre Position, weil sich im Diskurs immer noch die verschiedensten Gralshüter der historischen Linken tummeln. Die mit ihren “großen Streiks”, den Gewerkschaftsprozessionen, den immer neuen Parteigründungen (die NIEMALS die historische Partei repräsentieren, sowohl programmatisch als auch, wie ebenfalls Emilio Quadrelli schreibt: “Von der Klasse zur Partei und nicht andersherum.“), ihren Camps, Kampagnen; Medien und Netzwerke immer noch und immer wieder einen nicht unbeträchtlichen Teil der Menschen einfangen, die eigentlich aufrichtig auf der Suche nach einem Bruch mit dem Bestehenden sind. Die Begrenzung des Subjektivismus schlägt unerbärmlich zu.

Um genau an dieser Stelle erneut auf den Text von Burkhard Garweg zur Geschichte der RAF und der jetzigen Situation im Neuen Deutschland zurückzukommen. Natürlich konnte eine Stadtguerilla hier in diesem Land unter den gesellschaftlichen Bedingungen über all die Jahre nur eine „antiimperialistische” Ausrichtung haben, sich als “Fraktion” im “weltweiten Klassenkampf” definieren, eine “sozialrevolutionäre” Perspektive für eine Gruppe im Untergrund gab es schlichtweg nicht (auch wenn Einige, vielleicht auch Viele das Anfangs gehofft hatten), nicht umsonst hat sich die Bewegung 2. Juni später aufgelöst und sind einige von ihnen zur RAF gegangen, wurde das Projekt Revolutionäre Zellen, bzw. später auch Rote Zora, zwar als “sozialrevolutionäres” „Stadtguerilla Projekt” initiiert, die meisten ihrer Leute bleiben allerdings legal oder gingen in “internationalen Zusammenhängen” (palästinensische Gruppierungen) kämpfen. Worauf ich hinaus will: Im Unterschied zu den Roten Brigaden, die bis in die Fabriken hinein ein breite Verankerung hatten, und in denen sich verschiedenste Flügel mit unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen bilden konnten, hatten die Militanten der RAF keine andere Wahl, als innerhalb der vorgefundenen gesellschaftlichen Begrenzungen zu kämpfen. Oder das Projekt wieder aufzulösen. So aber hat das Projekt RAF all die Jahrzehnte sich aus dem Subjektivismus ihrer Protagonisten gespeist, der Irrtum wäre, ihr oder ihren Protagonisten das vorzuwerfen. Und natürlich wäre sicherlich viel eher ein Einsehen da gewesen, wenn da nicht “die Frage der Gefangenen” gewesen wäre, die Rache des Staates und sein Vernichtungsverhältnis gegenüber “seinen Geiseln”. 

Und selbstverständlich ist es richtig und notwendig, die Geschichte der Stadtguerilla als unser aller Erbe zu verteidigen, ebenso wie ihre Fehler zu benennen, ihre „militaristische Logik” ebenso wie ihren im schlechtesten Sinne „Avantgarde-Anspruch”, aber all diese Kritik greift zu kurz, ebenso wie die “Bemühungen” der RAF um eine “Kurskorrektur” in ihrer letzten Phase, als “die Bewegung”, auf die sie sich nun endlich auf Augenhöhe bezog, schon de facto nicht mehr existent war. Aber auch das ist nur eine Verzerrung des allzu verbreitenden Subjektivismus, und ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Natürlich gilt es immer, jede Kritik an allem und jedem unter den konkreten Bedingungen der damaligen Zeit zu leisten. Alles andere wäre billig und selbstgerecht. Wenn wir jedoch, um auf meinen ersten veröffentlichten Teil von “Wurmlöcher des Antagonismus” zurückzukommen, uns mit “durch die Zeit zu uns gesprungenen alten, bewaffneten Antagonismus” befassen, um daraus für die jetzigen und zukünftigen Kämpfe zu lernen, bedarf es einer grundsätzlichen kritischen Betrachtung, die endlich jene subjektivistische Begrenzung aufhebt, die schon ein “Geburtsfehler” der RAF war. Nicht “der Wille versetzt Berge”, sondern die konkreten Kräfteverhältnisse im Klassenkampf bringen uns dem wirklich Sturz dieses Systems näher, das uns alle erstickt und mit in den Abgrund reißt. Ohne Zweifel kommt es immer irgendwann unvermeidlich zum bewaffneten Zusammenstoß im Zusammenprall zwischen unserer Klasse und dem Kapital und seinen Apparaten, das weiß jeder, der nur ein halbes Dutzend Bücher über die Geschichte der letzten 200 Jahre gelesen hat. Wenn es wieder so weit ist, sollten wir aus unserer Geschichte und unseren Niederlagen umfassend gelernt haben, deshalb darf die (Selbst)Kritik an unseren politischen Gehversuchen nicht halbherzig bleiben, sonst stehen wir bei dem nächsten Zusammenstoß von vornherein auf verlorenem Posten. 

Die Kunst des Krieges lehrt uns nicht, auf den Feind zu hoffen, der unseren Willen erfüllt.” – Sun Tzu

Sebastian Lotzer, aus dem Nebel des Orion – 15. März 2025 

 

Wurmlöcher des Antagonismus (Part I – Polykrise und Hybris)

Trump geht all in, die europäischen Militärhaushalte werden explodieren, der neue Liberalismus, eben noch von Döpfners Schreibstube enthusiastisch abgefeiert, ruft nun besorgte Stimmen auf den Plan, die verzweifelt fragen, wo Europa mit seinen Abermilliarden Euros neue Waffensysteme kaufen soll, da den europäischen Generalstäben bewusst wird, dass praktisch alle modernen Waffensysteme ständige Updates benötigen, die im Zweifelsfall die US amerikanischen Hersteller verweigern könnten, wenn die Divergenzen eine bestimmte Fallhöhe erreichen sollten. Die Franzosen setzen seit Jahrzehnten auf eigenständige Waffenentwicklung – und Produktion, was eben noch als postimperialer Größenwahn einer ehemaligen Weltmacht erschien, die spätestens 39 in die reale Bedeutunglosigkeit gefallen war, ist nun der neue Sound der westeuropäischen Aufrüstung. Die Tendenz zum Krieg hat schon vor Jahren die Agenda des grünen Kapitalismus abgelöst, nur eine blasierte kleinbürgerliche deutsche Blase, von der grünen Partei bis in die sogenannten postautonomen Vorfeldorganisationen hat dies immer noch nicht realisiert. Und nein, die Zeitenwende ist nicht der Ausbruch des Ukraine Krieges, sondern die Perspektivlosigkeit des Kapitalismus in seiner Verwertungskrise, die immer neue Blasen produziert, die alle, latent instabil, jederzeit die gesamte soziale Zusammensetzung in den Metropolen innerhalb von Wochen, vielleicht sogar Tagen, zusammenbrechen lassen können, 2008 war im Vergleich dazu nicht mal eine Vorahnung eines Vorbebens, der Absturz an den Tech Märkten am Tage des Triumphes von DeepSeek kommt einer Simulation der kommenden apokalyptischen Reiter der Märkte wohl eher näher, nicht in den Dimensionen, aber in der Geschwindigkeit und dem unvermittelten Aufprall. Im Grunde spielt es keine Rolle ob Trump die Strafzölle für kanadische oder mexikanische Importe beibehält, reduziert, oder wieder ganz zurücknimmt – ob und wie lange er seinen Hofnarren Musk noch an seiner Tafel Platz nehmen lässt, der es sich in Verkennung der wirklichen Machtverhältnisse schon innerhalb von wenigen Wochen mit der Hälfte der Regierungsmitglieder verscherzt hat (in den Führungsetagen von BlackRock & Co lacht man sich eh scheckig über die neuen libertären Pausenclowns Musk, Milei und Co mit ihren Marsbesiedlungsplänen und Kettensägenmassakern, billiger Unterhaltungstrash der von den wirklichen strategischen Entscheidungen der wirklichen Big Player ablenkt, die die eigentliche Politik, auch von Trump, diktieren und diktieren werden) – die wirklich interessanten Fragen sind die Positionierungen im Kräftemessen zwischen China und den USA, in diesem Kontext kommt auch Russland ins Spiel, und das ist auch eine der möglichen Optionen der USA: Russland wieder in den Kreis der Großmächte aufzunehmen und so den Riss zwischen China und Russland zu verbreitern, eine strategische Triangel ist immer ein schwierig zu bespielendes Feld, politisch, wirtschaftlich und militärisch.  „Wurmlöcher des Antagonismus (Part I – Polykrise und Hybris)“ weiterlesen

Freiheit und Glückauf!

Wir, Brüder der Vietnamesen, wir, Schwestern der Indianer, wir, Töchter Kambodschas, wir, Söhne Annams. Wir, mit der Wut im Bauch. Wir, mit dem Hass im Kopf, wir, mit der Liebe zueinander. Wir, die Roten Ratten, die Pinscher, die Ungeheuer, bezahlt aus dem Osten, die Rauschgiftsüchtigen, die Monomanen, wir, die Psychopathen, Terroristen, raubenden, plündernden und brandschatzenden Anarchosyndikalisten. Wir, die jeden Schlag am eigenen Leiber erfahren, der in Huế oder Kent-State ausgeteilt wird….FÜR ALLES REAKTIONÄRE GILT DASS ES NICHT FÄLLT, WENN MAN ES NICHT NIEDERSCHLÄGT! Da sind Wir! 

Peter-Paul Zahl – Die Glücklichen 

An dem gleichen Tag, an dem der Aufruf für eine Demonstration Ende Februar 2025 in Solidarität mit Daniela Klette veröffentlicht wird, macht der Spiegel mit der Schlagzeile auf: “Daniela Klette soll im Untergrund Kontakt zu Christian Klar gehabt haben”. Alles, was dann folgt, ist das Wiederkäuen der Mutmaßungen der Staatsanwaltschaft Verden in der Anklageschrift für den Prozess gegen Daniela, dass sich dies “lebensnah” aus der Tatsache ergeben würde, dass Christian Klar eine Zeit lang “in unmittelbarer Nähe” zu Danielas Wohnung am Moritzplatz gewohnt habe. Wobei “die unmittelbare Nähe” nach den scharfsinnigen Schlußfolgerungen der Staatsanwaltschaft Verden 1,5 km beträgt. Halb Kreuzberg ein Terrornest! Das wusste BILD schon in den 80er. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, aber das ist wirklich das Niveau, auf dem sich die Berichterstattung der bürgerlichen Medien zu dem Ganzen bewegt. Nicht nur der Staatschutzapparat lässt den permanenten Ausnahmezustand des “Krieges der 6 gegen 60 Millionen” der 70er und 80er wiederaufleben, wenn er SEK Kommandos mit MP im Anschlag Ausflugsdampfer entern lässt, auch die Medien überschlagen sich seit der Festnahme von Daniela Klette vor einem knappen Jahr mit ebenso dumpfer wie oberflächlicher Berichterstattung, die sich nicht einmal bemüht zu übertünchen dass es sich im Kern um billigste Propaganda handelt. Man wartet nur auf den ersten Aufruf, sich des Abends auf den Balkonen zu versammeln, um unserer Demokratie und ihren Beschützer, den Helden der Polizei, lautstark Beifall zu zollen. 

Doch wenden wir uns ab von dem intellektuellen Elend unserer Gegner und uns unseren eigenen Versäumnissen und Angelegenheiten zu. Die bewaffneten Gruppen – RAF, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen und Rote Zora – entsprangen nicht den Launen und Befindlichkeiten einer Handvoll von Leuten, sondern konkretisierten sich in einem historischen Kontext und einer Diskussion und Suche von Abertausenden nach einem Weg, erstmalig seit der Zerschlagung der Organisationen der Arbeiterbewegung durch den Nationalsozialismus wieder eine “Gegenmacht” hierzulande zu konstituieren. Der “bewaffnete Weg” war eine Option der damaligen Diskussionen, einige haben ihn dann auch eingeschlagen, begleitet von den besten Wünschen und Sympathien von tausenden von Herzen. Die “Gründungserklärung” der RAF “Die Rote Armee aufbauen” wurde in der ‘883’ veröffentlicht, einem zutiefst undogmatischen Zirkular der langhaarigen Anarchisten West-Berlins. Als Rudi Dutschke 1974 am Grab von Holger Meins mit erhobener Faust “Holger, der Kampf geht weiter” proklamierte, war dies nicht Ausdruck einer melancholische Reminiszenz um “der gemeinsamen alten Zeiten wegen”, sondern die messerscharfe Einordnung einer der klügsten intellektuellen Köpfe, die die Linke hierzulande je hatte, warum und in welchem Kontext der Tod von Holger im Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF von Bedeutung für die gesamte, nicht-reformistische, Linke war. 

Von den Anfängen der bewaffneten Gruppen Anfang der 70er bis zur Selbstauflösung der RAF 1998 war es ein langer Weg und wahrscheinlich hätte er schon viel früher geendet wenn nicht Anfang der 80er die Überreste der RAF mit ihrem “Frontpapier” in der Revolte der Jugend- und Besetzerbewegung einen neuen sozialen Resonanzrahmen gefunden hätten. In diesem von Anfang an schwierigen Spannungsverhältnis fanden nicht nur einige “aus der Bewegung” den Weg zu den Illegalen, sondern die Texte der RAF sowie der “antiimperialistischen Gruppen” wurden ebenso wie unzählige (kritische) Diskussionspapiere aus der autonomen Bewegung zu diesen Texten breit dokumentiert und diskutiert, u.a. in der damals noch “legal” erscheinenden ‘Radikal’ mit einer Auflage von 6.000 Exemplaren und einer vielfachen Leserschaft. Als 1981 die wütenden Kinder der Hausbesetzerbewegung nach der Nachricht, dass Sigurd Debus im Hungerstreik der Gefangenen gestorben sei, in West- Berlin den Kudamm komplett zerlegten, war dies der Beginn einer hochambivalenten, aber von Zuneigung und Verbundenheit getragenen Beziehung der “Bewegung” zu den “Illegalen” und den Gefangenen die aus diesen Kämpfen stammten. Dies drückte sich auch in den Aktionen aus, die den Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF Ende 1984, Anfang 1985 begleiteten. Neben unzähligen Besetzungen, Demonstrationen und eingeworfenen Fensterscheiben bei Banken etc. zählte der Staatsschutzapparat über 100 (!) Brand- und Sprengstoffanschläge, von denen viele aus der autonomen Bewegung kamen. 

Nicht nur, aber auch deshalb, ist die Geschichte des bewaffneten Antagonismus auch (in Teilen) unser Erbe, die wir aus dem Aufbruch der Jugend- und Hausbesetzerbewegung, aus dem kommen, was später als “die Autonomen” bezeichnet wurde. Die Bedingungen und Begrenzungen, die alle erfahren, die sich in grundsätzlicher Opposition zu den herrschenden Verhältnissen setzen, lange bevor sich die Frage von “Legalität” und “Illegalität” überhaupt stellt. Das Verhältnis der Macht zu jeder Revolte, die sich nicht integrieren lässt, ist immer das, diese auszulöschen, zu vernichten, bevor sie zu einem grundsätzlichen sozialen Antagonismus heranreifen kann, in dem sich relevante Teile der Unterdrückten wiedererkennen. Es gibt zwei Bedingungen, die innerhalb der Logik der Wertschöpfung nicht verhandelbar sind: Die Besitzverhältnisse und das Gewaltmonopol, um diese aufrechtzuerhalten. Deshalb die unerbittliche Repression selbst gegen scheinbar gesellschaftlich unbedeutende Akteure wie die hierzulande noch existierenden militanten antifaschistischen Zusammenhänge. Deshalb die unerbittliche Hatz auf ehemalige Militante, und dies betrifft nicht nur Genoss*innen aus der RAF, sondern z.B. auch ehemalige Weggefährten aus der autonomen Szene in Berlin, die 1995 versucht haben (sollen), einen Neubau eines Abschiebeknastes in Berlin-Grünau in die Luft zu sprengen und gegen die Anfang des Jahres die Bundesanwaltschaft Anklage erhoben hat, obwohl selbst Interpol mittlerweile den internationalen Haftbefehl ausgesetzt hat und die beiden noch lebenden Gefährten mittlerweile als politische Flüchtlinge in Venezuela registriert sind. 

Seit Jahrzehnten gab es nicht mehr so viele Genoss*nnen im Knast oder in ‘aufgezwungener’ Illegalität hierzulande. Und angesichts der Ermittlungen der Staatsschutzbehörden in den diversen Verfahren gegen antifaschistische Zusammenhänge droht dies noch mehr Menschen. Zugleich gibt es zwar zahlreiche solidarische Aktionen und natürlich ist das jahrelange Wegtauchen (auch wenn sich jüngst sieben Menschen nach 2 Jahre Illegalität gestellt haben) von den Beschuldigten in den “Antifa-Verfahren” ohne “solidarische Netzwerke” nicht denkbar, aber der letzte Versuch, dieser staatlichen Repression etwas grundsätzlich Offensives entgegenzusetzen, war die Mobilisierung zum “Tag X” im “Antifa-Ost” Verfahren im Juni 2023, die in einem Desaster endete. Zahlreiche strategische und taktische Fehler führten am Ende dazu, dass über 1000 Menschen in Leipzig in einem Bullenkessel landeten und von nächtlichen Scharmützeln in Connewitz abgesehen, der Repressionsapparat alles im Griff hatte. Die noch größere und politische Katastrophe aber ist, dass das Desaster dieses Tages, zu dem 1,5 Jahre lang mobilisiert wurde, nicht ansatzweise aufgearbeitet wurde. Man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen, welche Lähmungen solche nicht verarbeitenden Niederlagen hervorrufen. Die Geschichte der “Niederlage von Leipzig” schließt so gewissermaßen den Kreis dieser kurzen Anmerkung zu der geplanten Demonstration am 22. Februar in Berlin. 

In Verbindung mit der Verschiebung der Ängste hat die Trauer eine Art, die lineare Zeit zu verzerren. Die Sekunden brauchen Jahre, um zu vergehen, und man hat das Gefühl, jede Zelle im Körper zählen zu können. Tage werden in Herzschlägen und Hohlräumen gemessen, in die man fällt oder denen man knapp entgeht. Die Reihenfolge der Ereignisse und die dazwischen liegende Zeitspanne lassen sich kaum noch feststellen. Jahrzehnte alte Erinnerungen drängen sich mit der ganzen Intensität aktiv erlebter Emotionen in Deinen Schädel.

Iganitus – If We Go, We Go On Fire

Wenn wir über uns sprechen, wenn wir über den Ort sprechen, von dem aus wir reden und schreiben, von dem aus wir handeln oder nicht handeln, dann sprechen wir über einen Ort, den wir uns nicht ausgesucht haben und von dem wir wahrscheinlich selbst in unseren schlimmsten Alpträumen keine Vorstellung hatten. Einen Ort, der all unsere Träume, Sehnsüchte und Wünsche auslöscht, einen Ort, an dem wir gezwungen sind, zu leben, obwohl wir die meiste Zeit nicht das Gefühl haben, dass wir wirklich leben. Idris Robinson drückte dies in einem Essay zwei  Jahre nach dem George Floyd Aufstand so aus: Nachdem die Revolte endgültig der Vergangenheit angehört, fällt es mir schwer, etwas Sinnvolles zu sagen. Auch auf die Gefahr hin, melodramatisch zu klingen, wenn Normalität und Stabilität wieder die Oberhand gewinnen, sehe ich ehrlich gesagt keinen Sinn darin, irgendetwas zu tun, und selbst die banale Tätigkeit des Lebens kann sich als ziemlich zäh erweisen. Darüber hinaus würde ich wetten, dass jeder von uns mit diesem Zustand vertraut ist, in dem diese Anstrengung von einem gewissen Maß an Leid begleitet wird, das von leichtem Unbehagen bis hin zu schwersten Qualen reicht.” 

Wenn Widerstand nicht mehr wirklich möglich erscheint, wenn wir uns nur noch im Kreis drehen und uns nur noch durch die Tage schleppen und die Nächte nur noch irgendwie überstehen, wenn alles nur noch das “nackte “Überleben” scheint, von dem Agamben spricht, und das alles im Angesicht der prächtigen Farben jener fernen Revolte, an wir uns umso häufiger und unwillkürlicher erinnern, je unmittelbarer fällt uns jenes “Absurde” an, das das Lebensthema von Camus philosophischen Werks war. 

Ohnmacht, Trauer, Angst

Inmitten des entfesselten Kapitalismus, der alles zerstört und mit sich in den Untergang reißt, inmitten der allgegenwärtigen Tendenz zum Krieg, die sich auch hier mitten in Europa seit über 2 Jahren verwirklicht, inmitten der allgegenwärtigen Faschisierung von Staat und Gesellschaft stehen wir mit leeren Händen vor einem bis an die Zähne bewaffneten Feind. Aber vielleicht sind unsere Hände gar nicht so leer, vielleicht haben wir nur den Umgang mit den den unserer Klasse so allzu vertrauten Werkzeugen nur verlernt. Vielleicht speist sich ein Großteil unser Angst und Ohnmacht aus den nicht verarbeiteten Anteilen unserer Geschichte, vielleicht sind wir vereinzelt und isoliert gar nicht erst in der Lage, all diese Erfahrungen zu verarbeiten und zu analysieren, vielleicht brauchen wir genau dafür einander, all die Militanten aus den verschieden Epochen und Splittern unserer Geschichte. Die Geschichte schreiben die Sieger, so heißt es, aber haben wir es wirklich versucht, unsere Geschichte selbst aufzuschreiben, um wieder Geschichte schreiben zu können? Aufschreiben nicht als anekdotische Notiz, sondern als geteilte und gemeinsame Reflexion. Alles ist besser, als dieser Ort, der nach Verbannung schmeckt. 

Im Herbst 2022 weckte Alfredo Cospito mit seinem Hungerstreik die sich im Tiefschlaf befindliche anarchistische italienische Galaxy wieder auf, die sich selbstbewusst militant auf den Straßen und Plätzen wieder einfand. Im Frühjahr 2021 brach der Hungerstreik von Dimitris Koufontinas das Eis des Corona-Ausnahmezustandes, das das Pflaster von Athen bedeckte, und allabendlich zogen Zehntausende durch die Straßen, um sein Leben zu retten. Der Knast ist der Ort der Entfremdung, was ja auch das eigentliche Ziel jeglichen Wegsperrens ist, den Menschen so von sich selbst zu entfremden, bis er endlich gebrochen ist, „resozialisiert“ in der Sprache des Systems. Aber der Knast, dieser Ort, der auch auch ein “Nicht- Ort” ist, um in den Begrifflichkeiten des derzeitigen mondialen “aufständischen Diskurses” zu sprechen, ist zugleich immer schon ein Ort des Kampfes. Um sich selbst, gegen den Prozeß der aufgezwungenen Entfremdung, gegen das System, das einem diese Entfremdung aufzwingt. Aber zugleich ist der Knast ehrlicher als das Leben hier draußen, in dem wir unser Gefängnis mit uns selbst herumschleppen, unsere Ohnmacht, Trauer und Angst tagtäglich verleugnen, weil sie so schwer zu ertragen ist. “reden wir dazu von uns, von unseren wunden, unserem hass, unserer freiheit. das ist unser blues. werden die brüder und schwestern schon hören und verstehen, der widerspruch zwischen leben wollen und nicht leben können ist explosiv, die lunte dran, marx dran…” schrieb Gudrun Ensslin in einem Kassiber aus der Zelle. 

Vielleicht wäre das der nächste Schritt, uns unsere historische Niederlage selbst und endgültig einzugestehen. Vor uns und allen anderen. Um in den Trümmern endlich nach den Schätzen graben zu können, die unsere Geschichte für uns und alle, die auf der Suche sind nach einem Leben, das Leben meint und ist, bereit liegen. Fangen wir sie an zu bergen. Auf Veranstaltungen, in Diskussionen, in zaghaften und auf dem realen Kräfteverhältnis aufbauenden bescheidenen praktischen Schritten wie z.B. die Demonstration im letzten März in Berlin in Solidarität mit Daniela. Etwas besseres als den Tod werden wir überall finden heisst es bei den Bremer Stadtmusikanten. In diesem Sinne…

Freiheit und Glückauf für alle Gefangenen und Untergetauchten! Kommt zur Demonstration am 22. Februar in Berlin. 18:30 Uhr Oranienplatz. 

 

 

 

 

Freiheit und Glück den alten Weggefährten

Laut Medienberichten vom 7. Januar 2025 hat die BAW nun Anklage gegen Peter Krauth und Thomas Walter wegen des gescheiterten Anschlags auf den Neubau eines Abschiebeknastes im Jahr 1995 erhoben. Der nächste Versuch, die beiden Genossen wegen der Aktion des K.O.M.IT.E.E 30 Jahre später doch noch zu belangen, obwohl das eigentliche Delikt schon verjährt wäre. 

Jenseits der juristischen Details zeigt sich hier, ebenso wie bei der Repression gegen die militanten antifaschistischen Zusammenhänge im Zusammenhang mit dem sogenannten Antifa Ost Verfahren und bei der medialen Hetzjagd auf ehemalige Militante der RAF nach der Festnahme von Daniela Klette das Verhältnis des Staates zu allen ernst gemeinten Versuche, hierzulande Ansätze einer antagonistischen Politik zu entwickeln, die sich nicht integrieren lässt. 

Der Staat und seine ausführenden Organe vergessen und vergeben nicht, auch deshalb ist es so wichtig, die eigene Geschichte lebendig zu halten und zu verteidigen und nicht nur eine melancholische Randnotiz von in die Jahre gekommenen Genossinnen und Genossen.  

Deshalb an dieser Stelle ein Kapitel aus „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ das der Aktion in Berlin Grünau gewidmet ist. Hintergründe zu dem damaligen Ereignissen und der Solidarität mit den verfolgten Genossen, die seit Jahrzehnten in Venezuela im Exil leben findet ihr auf dem Blog ende-aus.net

Dreiundvierzig / April 1995

Ein abgelegener Parkplatz in einem Waldstück am Rande von Berlin. Eine Bullenstreife fährt vorbei, routiniert gelangweilt der Blick vom Beifahrersitz. Etwas macht klick. Der VW Bulli wendet und kommt zurück. Auf dem Parkplatz stehen ein blauer Passat und ein roter Ford Transit, die Ladetüren des Transporters stehen offen. Eine routinierte Meldung über Funk, die beiden Bullen steigen aus. Der Fahrer die rechte Hand am Holster, der Beifahrer in der Linken eine große Stabtaschenlampe.  „Freiheit und Glück den alten Weggefährten“ weiterlesen

In Erinnerung an meinen Freund und Genossen Achim Szepanski

“es ist eine täuschung, zu hoffen, es sei genug, es könne nicht schlimmer mehr kommen”

Christian Geissler: Kamalatta

Es ist erst ein paar Stunden her, dass mich Dellwo – du hast immer von ‘Dellwo’ und nicht von Karl-Heinz gesprochen, obwohl ihr euch doch so nahe standet (was für Details einem immer einfallen…)- angerufen und erzählt hat, dass sie dich heute tot in deiner Wohnung vorgefunden haben. Ich weiß nicht, ob deine Seele nicht mehr wollte, oder der Körper, es spielt auch keine wirkliche Rolle. Ich weiß, dass es dir in letzter Zeit meistens ziemlich dreckig ging, Karl-Heinz und ich haben uns neulich noch am Rande der Veranstaltung zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes in Kreuzberg darüber unterhalten. Ich habe dich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen, wir haben uns nur häufiger geschrieben und ab und zu telefoniert. Wie überraschend weich da deine Stimme immer klang, ich glaube die Wenigsten habe eine Ahnung davon gehabt, wie feinfühlig du warst. Und wir beide wissen, mein Lieber, dass es die Feinfühligen sind, die am meisten verzweifeln über dieses Elend der Welt und das, was Menschen einander antun.  „In Erinnerung an meinen Freund und Genossen Achim Szepanski“ weiterlesen