Birth, School, Work, Covid, Death

Lotzer/ Agamben

Part 1 (Lotzer) 

Been turned around till I’m upside down

Been all at sea until I’ve drowned

And I’ve felt torture, I’ve felt pain

Just like that film with Michael Caine

The Godfathers 

Die Grippe ist gefährlicher, Robert-Koch-Institut relativiert Gefahr durch Coronavirus. (27.01.2020). Niemand hat vor eine Ausgangssperre zu verhängen, es handelt sich um fake news, das Bundesministerium für Gesundheit (14.03.2020). Deutschland plant derzeit keine Maskenpflicht, Bundesgesundheitsminister Spahn (31.03.2020). 

Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!

Es spielt gar keine Rolle mehr, wie dick die Lügen sind, die aufgetischt werden, wie unverhohlen manipuliert wird. Die Massen im Panikmodus, die Linke vorneweg. Tote, Tote, überall Tote. 

“Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.“ … „Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“ (Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen – Strategiepapier des Bundesinnenministeriums)

Das Robert Koch Institut stellte heute eine App vor, die den Schlaf in Bezug auf Unruhe und Körpertemperatur messen und direkt an die staatlichen Gesundheitsbehörden übermitteln soll. Es geht kein Aufschrei durch das Land, alle Medien (von wenigen Ausnahme abgesehen, und die heissen nicht taz oder ND) sind in einer Art und Weise gleichgeschaltet, die dieses Land seit der Entführung eines Arbeitgeberpräsidenten und früheren SS Hauptsturmführers nicht mehr erlebt hatte.  „Birth, School, Work, Covid, Death“ weiterlesen

Ein überfälliger Ausbruchsversuch 

Lotzer/ Anonym

Part 1 (Sebastian Lotzer)

Der Wahnsinn hat die Welt in Besitz genommen. Nun könnte man einwenden, dies sei keine Angelegenheit der Postmoderne, vielleicht erlebe man auch nur die Wiederkehr des Lykurgos, der für seine Untaten wahlweise dem Wahn verfiel und seinen eigenen Sohn und all seine Familie, ja seine ganzen Freundeskreis umbrachte, um sich dann selber zu richten, oder, da gehen die Überlieferungen auseinander, anschließend von den empörten Menschen gefangen genommen und dann gevierteilt worden sei. So oder der so, der Wahn greift um sich, greift nach den dir Nächsten, nach denen, an denen noch gestern dein Herz hing oder in die du Hoffnung gesetzt hast. 

Neu und evident an dem Wahn, der nun durch die Welt eilt, ist die Geschwindigkeit, mit der er durch die Welt eilt, dabei alle Grenzen überwindend und dabei das Virus, dass ihn in die Welt gesetzt (oder das ihn wieder an die Oberfläche gebracht hat, die Meinungen gehen da auseinander) überflügelnd. Man könnte, nein muss sagen, dass die wirkliche Pandemie der Wahn ist, der von den Menschen Besitz ergriffen hat. Die dünne Tünche der Zivilisation bricht innerhalb weniger Tage zusammen, Direktive und Narrative, die scheinbar Diktatoren und Despoten vorbehalten waren, machen sich in den sogenannten westlichen Demokratien breit. Selektion von Kranken, Überwachung aller Bewegungen unter freiem Himmel, Drohnen stehen über den großen Städten, Lautsprecherwagen fahren durch die menschenleeren Straßen, fordern die Bewohner auf in den Häusern zu bleiben. Wer sich an die frische Luft wagt, soweit das überhaupt noch gestattet ist, blickt in panische Augenpartien, notdürftig verhüllte Gesichter, alle gehen gebückt und gehetzt. Wer jetzt noch aufrecht steht, dem werden sie das auch noch austreiben. 

An die frische Luft soll der Mensch ja aber auch noch zum Beispiel in Berlin, in die Arbeit natürlich, aber auch um sich ein wenig zu ertüchtigen oder ein paar Runden im Kreis zu drehen. Genau die Privilegien, die einem in den Knast Geworfenen auch noch verbleiben. Und so dreht man zu zweit seine Runden durch den Knasthof und vergeht vor Rührung, wenn der Senat verkündet, er wolle nicht so sein, man könne sich ruhig in Zukunft ein bisschen auf die Banke setzen. Und alles klatscht und applaudiert dem Großmut der Lenker des Staates und wenn der demnächst sagt, alle sollen jetzt mit einer Maske vor dem Gesicht zum Knastgang erscheinen, die wissenschaftlichen Hypothesen über die Wirksamkeit solcher Maßnahmen hätten sich über Nacht um 180 Grad gedreht (man kennt das ja in der Wissenschaft, eben war die Welt noch eine Scheibe und man hat alle geviertelt, die was anders behauptet haben, aber schwups, sieht die Sache ganz anders aus), dann wird da auch gemacht. Punkt. Und wenn der Staat zu blöde ist, genug von diesen Pfennig Artikeln zu beschaffen oder sich die von den Amis wegschnappen lässt, dann wird halt Zuhause gebastelt was das Zeug hält, vorneweg die Linken, die natürlich ganz vorne dabei waren mit ihren DIY Anleitungen. Kommt ja so oder so aufs selbe raus. Ob man die Dinger nun im Hausarrest selber macht oder eben von den Knackis in den echten, alten Knästen produzieren lässt. „Ein überfälliger Ausbruchsversuch “ weiterlesen

Covid 19 – Aufstand oder Barbarei

Lotzer / Wu Ming

Part 1 (Lotzer) 

Nein sie sind nicht einfach Zuhause geblieben. Haben die Hände in den Schoss gelegt und ängstlich in sich hinein gehorcht. Weil sie sich das einfach nicht leisten konnten. Weil ihre Kinder was zu essen brauchen. Also haben sie sich an die gute alte Zeit erinnern, als sie dem Staat und den Fabrikherren, den Gutsherren ganz schön zugesetzt haben. Die wilden Jahren, “als wir alle Kommunisten waren”, wie der Nanni Balestrini geschrieben hat. Also ab in den Supermarkt und den Einkaufswagen vollgepackt und an der Kasse ein Schulterzucken “Bezahlt wird nicht”. Die Proleten aus dem Süden, auf die man immer ein bisschen hochnäsig herunter geschaut hat. Schon damals. 

Am nächsten Tag standen in Palermo Bullenwagen vor den Supermärkten. Aber das ist ja auch keine Lösung, es gibt einfach zuviele Supermärkte. Und wer weiß, was denen noch einfällt, diesen halben Bauern, auch wenn sie schon seit Generationen in den Städten leben. Also hat Conte mal eben fast 5 Milliarden locker gemacht für den Süden, die sollen über die Gemeinden an die prekär Beschäftigten ausgezahlt werden, weil die sind von dem einen zum anderen Tag nur noch prekär und nicht mehr beschäftigt. Wahrscheinlich wäre er nie selber auf die Idee gekommen, wenn ihm seine Geheimdienste nicht gesteckt hätten, sie würden mit schweren Unruhen im Süden rechnen. Und das mit dem proletarisch einkaufen hat denn ja auch gleich auf andere Städte des Südens übergriffen, in Bari und Napoli haben sie das Zeug auch einfach so raus geschleppt. Übrigens ganz ohne linke Agitatoren. 

Während hierzulande die radikale Linke wahlweise in Schockstarre gefallen ist oder sich auf appellative oder symbolische Handlungen reduziert, entfaltet sich im Windschatten der Corona Pandemie ein sozialer Taifun, dessen Auswirkungen die eigentlichen Folgen der Pandemie noch in den Schatten stellen könnten. Während Teile des weltweiten Staatsapparates des Empires Schritt für Schritt den Übergang in einen faschistischen Krisenmodus vollziehen, wobei nicht ausgemacht ist, ob dieser temporärer oder grundsätzlicher Art sein wird, werden innerhalb kürzester Zeit hunderten von Millionen Menschen jegliche Grundlagen entzogen die Mittel zur Existenzsicherung durch eigene Arbeit zu bestreiten.  „Covid 19 – Aufstand oder Barbarei“ weiterlesen

Der aufkommende Pandemie Faschismus – Splitter der Dissonanz

“Liewer düd aß Slaawe”

Pandemie Magie

In jedem Berliner Park eine Wanne. Die Besatzungen beäugen misstrauisch jede Aktivität Derjenigen, die sich in die Frühlingssonne gewagt haben. Drei Fußball spielende Kinder sind ein Grund einzuschreiten. Wir haben schon vor Jahren gelernt, ab Drei ist man eine terroristische Vereinigung. Nun also auch die Kinder. Völlig willkürliche Größenordnungen werden verkündet und durchgesetzt. Wir erinnern uns, noch vor ein paar Wochen versammelten sich Zehntausende in den Fußballstadien, da waren schon Tausende in China an dem Virus gestorben, der jetzt als Begründung für jegliche Absurdität des Pandemie Ausnahmezustandes herhalten muss. Drei Kinder sind eine Gefahr, fünfzig Menschen in einen S Bahn Waggon auf dem Weg zu gesellschaftlich unsinniger Arbeit sind kein Problem.  

Überhaupt, diese Magie der Zahlen, wie von Zauberhand verändern sich fast täglich die Bezugsgrößen. Zuerst wurden alle Versammlungen über 1000 Menschen verboten, dann alle über 100. Und natürlich betraf dies auch alle Demonstrationen. Dabei hätte man sich die Mühe sparen könne, eine in Ohnmacht und Unterwerfung geübte deutsche Linke sagte schon von sich alle Zusammenkünfte, selbst die der harmlosesten Natur ab. Und der kleine Rest, der abweichend davon sich nicht unterwerfen will, dem schickt man dann in Berlin eben die neue Präsenzeinheit in den ‘Nordkiez’ auf den Hals. Aber kommen wir zu der Magie der Zahlen zurück. Kommen wir überhaupt zu der gesamten Magie zurück, die die politische Klasse tagtäglich zu unserer Unterhaltung aus dem Hut zaubert. So als habe sie jahrelang nur für diese Momente der Magie geübt und gelebt. (Spoiler: Sie hat es. Seit Jahrzehnten finden Notstandsübungen unter wechselnden Szenarien statt.) „Der aufkommende Pandemie Faschismus – Splitter der Dissonanz“ weiterlesen

Die Waffe der Kritik kann nicht die Kritik der Waffen ersetzen

“das in dem milieu, in dem wir kämpfen – postfaschistischer staat, kosumentenkultur. metropolenchauvinismus, massenmanipulation durch die medien, psychologische kriegsführung, sozialdemokratie – dass gegen die repression, mit der wir es hier zu tun haben, empörung keine waffe ist. sie ist stumpf und hohl. wer wirklich empört, also betroffen und mobilisiert ist, schreit nicht, sondern überlegt sich, was man machen kann”

kassiber von ulrike meinhof, märz 1976

Warum schreibt der Mensch, wenn er sich ohnmächtig fühlt? Schreibt Briefe an ferne Freunde oder betrunken Liebesgedichte an verlorene Lieben, schreibt nächtelang Pamphlete gegen die allgegenwärtige Barbarei. Vielleicht weil die Ohnmacht der schlimmste aller schmerzhaften Zustände ist. Weil sich das Bewusstsein nicht damit abfinden kann, das es keine Handlungsoptionen gibt.

Einige Zeit, nachdem ich “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” veröffentlicht hatte, merkte ich, das etwas fehlte. Das da ein alter Schmerz, eine vertraute Melancholie in mir war, dass es noch etwas zu erzählen, zu erinnern gab.

Es war ein Bild, eine Erinnerung, die mich nicht losließ. Ein junger Mann auf den Gleisen eines Bahnhofes irgendwo in der ehemaligen DDR. Der Lockenkopf merkwürdig verrenkt auf den kahlen, nackten Schienen. Liquidiert von den Sondereinheiten des Bundesgrenzschutzes. Eine unendlich scheinende Fahrt ins hessische Wiesbaden, schweigend, wütend. traurig. Eine samstägliche Demonstration in einer völlig ausgestorbenen Innenstadt.

Es ist verrückt, dass man sich in manchen Stunden den Toten umso vieles näher fühlt als all den Lebenden um sich herum. Vielleicht weil sie etwas von einem selber mit sich genommen haben, weil es da ganz tief drin in einem eine Sehnsucht gibt, nicht nur Zuschauer oder Randfigur der Geschichte zu sein, sondern wieder mit ganzen Herzen selber, in aller Bescheidenheit und Demut, ein bisschen Geschichte schreiben zu können.

Wenn man mit den Menschen redet, also mit den Menschen, mit denen man sich nicht ständig aus Gewohnheit umgibt, sondern z.B. mit jenen, die man in einer beliebigen Kneipe bei einem Bier kennen lernt, wird man feststellen, dass es immer noch, nach all den Jahrzehnten, eine unglaubliche Faszination und liebevolle Bewunderung für jene gibt, die hier vor nun mittlerweile über 50 Jahren die revolutionäre Frage, die im Kern immer die Frage nach der Macht, also auch, wenn man ehrlich ist, die Frage nach der bewaffneten Macht, oder besser Gegenmacht, auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Man wird auf soviel Neugier treffen und auf die stille Hoffnung, dass sich eines Tages wieder Menschen finden werden, die bereit sein werden, alles, auch ihr eigenes Leben, in die Waagschale zu werfen. Und wenn wir alle ganz ehrlich mit uns selber sind, werden wir etwas davon auch in uns selber wiederfinden.

Wie auch immer, vor einem knappen Jahr ist nun “Die schönste Jugend ist gefangen” erschienen. Der Versuch einer Annäherung, einer Hommage an die “Bewaffneten Freunde”, wie sie Raul Zelik in einem anderen Zusammenhang genannt hat. Vielleicht ist daraus mehr geworden, vielleicht auch weniger. Das mögen andere entscheiden. Nachdem mich einige Leute darum gebeten haben, dem besseren Verständnis wegen eine Sammlung von Quellen zu erstellen, bin ich dieser Bitte nachgekommen. Aus verschiedensten Gründen hat sich das ganze etwas in die Länge gezogen, aber nun ist die Website zum Buch online gegangen.

Über 100 Texte, Erklärungen, Zeitungsartikeln, Büchern und Filme zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes, der antiimperialistischen Front, aber auch zum Aufstand in Syrien und dem Elend in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Den Kapiteln des Buches entsprechend und der Natur nach unvollständig, obwohl ich erstaunt war, wie viel doch den Weg in die digitale Welt gefunden hat. Ich möchte betonen, dass mir jegliches kommerzielles Interesse fern ist, wenn ich in der investierten Zeit Toiletten geputzt hätte, was ich eine sehr ehrenhafte und ehrliche Art finde, sein Geld zu verdienen, wäre ich heute wohl fast das, was man einen gemachten Mann nennt.

Die website zum Buch “Die schönste Jugend ist gefangen” findet Ihr unter bahoebooks.net/jugend

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 25. März 2020 auf Autonomie Magazin 

 

Danach

Part 1 Lotzer / Part 2 Anonym

Part 1 (Lotzer) 

Wir werden das schaffen. Wir bleiben Zuhause. Wir alle müssen Verantwortung übernehmen. Das Wir hat dieser Tage, in den Zeiten eines grassierenden Pandemie Totalitarismus Konjunktion. Ein Großteil der Linken sublimiert sich unter diesem Wir. 

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Man erinnert sich, die Zustimmung der SPD 1914 zu den Kriegskrediten bei nur 2 (!) Enthaltungen in erster Lesung im Reichstag. Die Zeit des “Burgfrieden” in Deutschland im ersten imperialistischen Weltkrieg. Alle Gewerkschaften, auch die sozialdemokratischen, setzten jegliche Form der Unterstützung der Kämpfe der werktätigen Klasse aus. In Frankreich nannte sich der Burgfrieden “Union sacrée”. Jetzt also soll wieder Burgfrieden herrschen. Jetzt geht es nicht mehr um die Rettung der Natur, gibt es keinen friday for future mehr, sondern nur noch ein diffuses Wir. Das es zu retten gilt. Koste es, was es wolle. Und sei es ein Leben auf dem Todesstern. 

Wir befinden uns im Krieg. Tönt es von Frankreich bis in die USA. Im Krieg gibt es unschuldige Opfer, Kollateralschäden werden sie neudeutsch genannt. Die Depressiven, die jetzt isoliert, auf dem Balkon stehen und nicht wissen, ob sie noch eine rauchen oder springen sollen. Die Obdachlosen, die man zu hunderten in Unterkünften zusammenpfercht, bei Verdachtsfällen gegen ihren Willen. Auf unbestimmte Zeit.  „Danach“ weiterlesen

Bologna in Zeiten des Corona Virus – Das Wu Ming-Tagebuch

Part 1 Lotzer / Part 2 Wu Ming 

Part 1 (Lotzer)

Schon länger spüre ich in mir das Bedürfnis nach einem gesunden Abstand (was für ein Euphemismus dieser Tage) zu dem Großteil dessen, was sich in diesem Lande die radikale Linke nennt. Und überfiel mich nach Chemnitz, nach Halle, nach Hanau tiefe Scham, wenn ich jene Pflichtübungen besuchte, die sich frei von Hass und ehrlicher Trauer durch die “Szenebezirke” hindurchschlängelten, nichts hinterlassend als eine kurze Meldung in den Regionalnachrichten, so stellte ich am Abend des 19. Februar das erste Mal fest, dass die ganze Angelegenheit mich zu ekeln begann. 

Zehn Menschen waren nur wenige Stunden zuvor von einem Faschisten niedergemetzelt worden und ich war nach der Arbeit nach Neukölln geeilt. So stand ich da am Rande und ließ die Demonstration an mir vorbeiziehen, auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Ich sah in diese Gesichter, unter den es auch ehrliche gab, dies gilt es zu benennen, der Gerechtigkeit wegen, und um nicht endgültig dem Wahnsinn zu verfallen, aber ich sah auch so viele mit einem Lächeln im Gesicht Freunde und politische Gefährten grüssen, umarmen, in einen spontanen smalltalk verfallend, dass mir geradezu körperlich übel wurde. Kurz darauf traf ich einen alten Genossen, der eigentlich um einiges jünger ist als ich, aber in meinem Alter hat man schnell alte Genossen. Wir schauten uns nur kurz an und wechselten wenige Worte. Wozu auch. Es war alles so offensichtlich.  „Bologna in Zeiten des Corona Virus – Das Wu Ming-Tagebuch“ weiterlesen

„Wir wollen alles“ – Zum Tod von Nanni Balestrini

Es gibt Angelegenheiten, die sind so unmittelbar, so unvermeidlich, dass sie schon irreal scheinen. Noch am Sonntagnachmittag sass ich im Kreuzberger Mehringhof am Rande der Linken Buchtage mit meinen Verlegern von Bahoe Books zusammen und wir haben über Nanni Balestrini gesprochen. Ich hatte ihn gemeinsam mit einem Genossen angeschrieben, ob er sich vorstellen könne, einen Beitrag zu der Geschichte des antagonistischen Widerstandes in Italien für unseren geplanten Sammelband zu schreiben. Er hatte zu meiner Überraschung geantwortet, dass er sich das gut vorstellen könne, es ihm aber zurzeit gesundheitlich nicht so gut gehe.
Ich wusste darum, dass er angeschlagen war, hatte nicht einmal damit gerechnet, dass er uns überhaupt antworten würde. Die vage Vorstellung, einen Beitrag von Nanni in unserem Buchprojekt veröffentlichen zu dürfen, trieb mir schon die Tränen in die Augen. Heute Vormittag, nur einige Stunden nach dem Gespräch im schattigen Innenhof in Kreuzberg, erreichte mich dann die Nachricht, dass Nanni gestorben ist.
Ich habe in meinem Leben nicht besonders viele Bücher besessen. Mir schien es immer unnötiger Ballast, die vielen Bücher, die ich gelesen habe, fein säuberlich aufgereiht in Regalen in meinen Wohnungen zu stapeln. Viele der Bücher, die ich mir dann doch gekauft habe, befinden sich nicht mehr in meinem Besitz. Ich habe sie irgendwann verliehen, ganz vergessen, dass ich sei einmal besessen habe. Bei dem einem oder anderen Buch fällt mir das Fehlen dann nach Jahren auf, weil ich mich an etwas erinnere und das Buch dann vergeblich in meinem Bücherregal suche. Im Allgemeinen ist es dann aber ganz in Ordnung, wenn ich es nicht finde, weil ich davon ausgehe, dass es jemanden anderes dienlich ist.
 

Unter den Büchern, die sich noch oder wieder in meinem Besitz befinden, weil sie den Weg zu mir zurückgefunden haben, gibt es ein Buch, dass sich in einem bedauerlichen Zustand befindet. Es ist völlig abgegriffen, wenn man es aufschlägt, fallen einem lose Blätter entgegen. Ich habe dieses Buch nur ein einziges Mal verliehen und diese Tatsache an keinem der Tage vergessen, an denen es sich nicht in meinem Besitz befand. Manchmal, wenn ich etwas schreiben oder recherchieren will und mich Ohnmacht oder Ratlosigkeit überkommt, gehe ich zum Bücherregal und hole „Die goldene Horde“ von Nanni Balestrini und Primo Moroni hervor und lese darin.

Vielleicht, nein sogar sicherlich, hätte ich mein erstes Buch „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ ohne Nanni Balestrini nie geschrieben. Nicht dass ich über die sprachliche Brillanz oder gar die politische und analytische Tiefe von Nanni verfügt hätte. Und doch wollte ich mit meinen bescheidenen Mitteln dafür sorgen, dass nicht in Vergessenheit gerät, wer wir einmal waren, wie viele wir waren und wie es sich damals angefühlt hatte, als wir nach den Sternen griffen. Nanni besaß die Fähigkeit, einen teilnehmen zu lassen an der Unmittelbarkeit der Kämpfe. Er erzählte u.a. in „Wir wollen alles“ von der umfassenden Revolte der Jugend im Italien der 70iger, die nicht länger bereit war, ihr Leben sinnlos an einem Fließband des industrialisierten Nordens zu fristen, er ließ uns teilhaben an der Revolte der Stadtindianer und Frauen, die sich auch und gerade gegen all die leninistischen Parteien und Organisationen der radikalen italienischen Linken richtete.

Später dann folgte die Erzählung „Die Unsichtbaren“, ein Versuch, die Härte der Niederlage der 77iger Bewegung in Worte zu fassen. Nach der Entführung und Hinrichtung von Aldo Moro, dem damaligen Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten durch die Roten Brigaden, brach eine unglaubliche Repressionswelle über die radikale Linke herein, die damals hunderttausende von Anhänger hatte. Über 20.000 Menschen wurden inhaftiert, Tausende mussten ins Ausland fliehen, unter ihnen Nanni Balestrini.

Viele der Inhaftierten schworen im Knast ab, einige wurden auch zu Verrätern. Unter den Gefangenen herrschte eine unglaubliche Härte, Einige, die Aussagen gemacht oder abgeschworen hatten, wurden im Knast von den eigenen Leuten umgebracht. Von all dem, aber auch dem Versuch im Knast Mensch zu sein, von Solidarität und Revolte erzählte Nanni Balestrini wie kein anderer. Auch von der Leere und der Einsamkeit, die auf die Jahre der Revolte folgten, die sich hinter Gittern noch umso so trostloser und grausamer anfühlten.

Nanni Balestrini hat später einmal in einem Interview gesagt, er verstehe sich nicht mehr als politischer Aktivist, sondern als Schriftsteller und Chronist. Er experimentierte mit Sprache wie kaum ein anderer, in seinem 1992 auf Deutsch erschienenen Buch „Der Verleger“ verzichtete er konsequent auf Satzzeichen, spielte mit den Erwartungen an Grammatik und Satzbau. Nun wird er keine Erzählungen und Gedichte mehr veröffentlichen, wird keine Interviews mehr geben, wird auf keinen Veranstaltungen mehr auftreten, nicht mehr bei Kaffee und Wein mit Genoss*innen diskutieren und berichten.

Er hat uns allein gelassen mit all unseren gescheiterten Träumen und Hoffnungen. Aber er wird uns immer daran erinnern, dass wir glücklich waren, in jenen Jahren, als wir jeden Tag revoltierten, als wir Supermärkte geplündert haben und ohne Eintritt zu zahlen ins Kino gegangen sind. Als wir nicht wehrlos unseren Todfeinden gegenüberstanden. Er wird immer ein Teil von uns bleiben, weil diese Leerstelle, die er hinterlässt, nicht und niemals gefüllt werden kann. Ciao Nanni.

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 21. Mai 2019 auf untergrund blättle

Another Lovesong

Christian Geissler hat es sich und seinen Lesern nie leicht gemacht. Davon kündet nicht zuletzt der Versuch, in seinem Roman kamalatta einen Bogen zu spannen von den Kämpfen der arbeitenden Klasse, von der Widerstandslinie gegen den Nationalsozialismus hin zum bewaffneten Aufbruch im postfaschistischen Deutschland.
Seine Haltung war dabei ebenso kompromisslos fordernd an sich selbst und an uns wie sein Ringen um eine Sprache, die der scheinbaren Anmaßung unseren Feinden bewaffnet gegenüber zu treten, gerecht wird.
kamalatta liest sich nicht leicht weg, darf sich nicht leicht weg lesen, weil es mehr war als eine biografische Fußnote aus sicherer Distanz. Der Stoff war eine Intervention, der Versuch eines alten Kommunisten eine Brücke zwischen den Widerstandsgenerationen zu schlagen.
Veröffentlicht Ende der 80er arbeitet sich das Buch entlang des von der RAF 1982 vorgelegten Grundsatzpapiers „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ an der Frage ab, wie all Jene, die es wirklich ernst mein(t)en mit ihren Versuchen dieses System aus den Angeln zu heben, zusammen kommen und ihre Kämpfe gemeinsam bestimmen können.
Aus heutiger Sicht mögen viele der damals vertretenden Sichtweisen und ideologischen Versatzstücke befremden oder sogar abstoßen. Seien dies die Anleihen im Fundus der Leninismus oder Maoismus, seien es die Fixierung auf die „US-Staatenkette“, die Ungenauigkeiten in der Differenzierung zwischen Antiimperialismus und Antiamerikanismus. Wie so vieles kann und muss genau Jenes aber im konkreten historischen Kontext und politischen Diskurs verstanden und beurteilt werden, um den Protagonist*innen jener antagonistischen Organisierungsansätze gerecht werden zu können.
Doch im Grunde genommen handelt kamalatta gar nicht davon. Christian Geissler nähert sich der Fragestellung des bewaffneten Antagonismus aus der Haltung heraus an, wie aus dem Bemühen, all Jenen beizustehen, die bedrängt und in Not sind, mehr als eine appellative Handlung folgen kann. Und trägt in sich, als Nebenstrang und Subtext aus dem Wissen der Lektüre der beiden zuvor erschienenen Werke ‚Das Brot mit der Feile‘ und ‚Wird Zeit das wir leben‘, die Erinnerung daran, dass jegliche ernst zunehmende Opposition zu den bestehenden Verhältnissen letztendlich sich gemein machen muss mit Jenen, die allzeit ausgebeutet und geknechtet, nach Wegen der Rebellion suchen.Die Gründer*innen der RAF wussten im Übrigen am Anfang genau darum. Einige, die zum ersten Kern der Stadtguerilla zählten, hatten zuvor im Märkischen Viertel, einem Neubauquartier in Berlin, gemeinsame Sache mit den dortigen Mieter*innen gemacht, die erste Hausbesetzung in Berlin fand dann auch folgerichtig genau dort statt , andere hatten sich der Arbeit mit Jugendlichen auf Trebe verschrieben.
Was Christian Geissler in Bezug auf kamalatta als einziges vorzuhalten wäre, ist das diese Intervention zu spät kam. Zwar hatte er seit den 70er wiederholt Gefangene aus dem bewaffneten Kampf besucht und mit ihnen die politische Diskussion gesucht und sich gegen die Haftbedingungen der Genoss*innen engagiert. Doch jenes kurze Zeitfenster, in dem es sowohl von Seiten der neuen sozialen Bewegungen wie z.B. der Hausbesetzerbewegung in Westberlin als auch von Seiten der RAF und den antiimperialistischen Gruppen einen offenen Prozess der Diskussion um die Möglichkeiten eines realen Zusammenkommens gegeben hatte, war Ende der 80iger schon lange Geschichte.

Doch genauso wie die RAF sich immer weiter von ihrem ursprünglichen Anspruch, bewaffnete Fraktion im Klassenkampf zu sein, entfernte, so sehr fiel auch die „soziale Frage“ in den Wurmfortsetzungen „der Bewegung“ hinten runter, verlor sie ihre Anziehungskraft für jugendliche, proletarische Rebell*innen, verkam sie zur identitären, selbstreferenziellen Szeneblase.

Wenn also dieser Tage der ‚Verbrecherverlag‘ eine Neuauflage von Christian Geisslers kamalatta veröffentlicht, mag dies eine Gelegenheit sein, die Fäden der ursprünglichen Diskussion wieder aufzunehmen. Gerade die aktuellen Entwicklungen, das Erstarken einer völkischen Rechten, die Bündnispartner bis hinein in den Staatsapparat aufzuweisen hat, die weitgehende Ohnmacht linksradikaler und antifaschistischer Akteure, setzt die Fragestellung nach der Organisierung von ‚Gegenmacht‘ notwendigerweise auf die Tagesordnung. Das diese nur in Zusammenhang mit „der sozialen Frage“ gedacht werden kann, will sie sich nicht in einer nicht ernstzunehmenden Postulierung erschöpfen, ergibt sich aus sich selbst heraus.

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 5. November 2018 auf untergrund blättle

Alèssi Dell’Umbria: Wut und Revolte

Wenn in diesen tristen politischen Zeiten die Frage die Runde macht, wo denn die Situation ein wenig weniger trist sein könnte, fällt der Blick unwillkürlich über den Rhein.

Dass die Situation für eine radikale Linke dort nicht ganz so desperat erscheinen mag, ist u.a. auch dem Umstand geschuldet, dass dort im Gegensatz zu hier die Figur des Intellektuellen, der dem antagonistischen Spektrum zuzurechnen ist, noch nicht gänzlich ausgestorben erscheint.
Zu ihnen gehört ohne Zweifel auch Aléssi Dell’Umbria, dessen Texte und Bücher bisher praktisch nicht auf Deutsch erschienen sind. Dem kleinen Verlag Edition Contra-Bass gebührt die Ehre, hier endlich Abhilfe geschaffen zu haben. Er veröffentlichte jüngst „Wut und Revolte“, eine überarbeitete Fassung eines Essays, das Aléssi Dell’Umbria unmittelbar nach den landesweiten Unruhen in den französischen Vorstädten im Herbst 2005 verfasste.Gleich zu Anfang seiner Ausführungen stellt Dell’Umbria sympathischerweise sowohl seinen Sprechort („Zu behaupten, die Intensität der erlebten Situation wiederzugeben, ohne sie direkt empfunden zu haben, wäre ein Betrug gewesen, wie ihn die ‚radikale‘ Literatur gewohnt ist“) als auch seine grundsätzliche Komplizenschaft („Doch der Schreibende weiss auch, dass er sie in anderen Zeiten und an anderen Orten empfand“) mit den rebellischen Jugendlichen klar.

Im Weiteren spannt Dell’Umbria den historischen Bogen von den Rockern, die sich im Mai 1968 aus den Vorstädten zu den revoltierenden Student*innen gesellten, zu den extralegalen Hinrichtungen durch den Repressionsapparat, die in 80igern begannen und deren Opfer ausnahmslos Bewohner*innen der Banlieues waren. Und die nur in einigen wenigen Fällen zu späteren Verurteilungen der beteiligten Polizisten, meist zu lächerlichen Bewährungsstrafen, führten. Vor allem aber zeigt er gegen alle gängigen Klischees den sozialen Gehalt der Revolte im Herbst 2005 auf, die sich nicht notwendigerweise emanzipatorisch gebärdete, sondern auch in allen Schattenseiten die Brutalität der Verhältnisse widerspiegelte.

Schon in der Bezeichnung des Ortes, den diese Revoltierenden bewohnen, der Banlieue, ist der Bann, die Verbannung aus den Innenstädten sprachlich eingeschrieben. Folglich blieb und bleibt den Jugendlichen gar kein anderer Ort der Revolte, der demonstrativen Aktion, da ihnen der Zugang in die Innenstädte weitgehend versperrt bleibt. (Nicht umsonst wurde in Paris während des Finales der Fussball WM 2018 der gesamten ÖPNV von den Vorstädten in die Innenstadt eingestellt. Trotzdem fanden sich noch genügend Jugendliche ein, die mitten auf den Champs-Élysées einen veritablen Riot veranstalteten.)

Da die Stärke der Revoltierenden im Allgemeinen nicht ausreichend war und ist, um sich in eine direkte Konfrontation mit dem hochgerüsteten Repressionsapparat zu begeben, beschränken sich ihre Aktionen meistens auf Hinterhalte, Zerstörungen von öffentlichen Institutionen (einschliesslich von Schulen und Kindergärten), sowie der Inbrandsetzung der Autos ihrer Nachbarn. Aber auch dieser Seite der Agonie dieser Revolte wohnt eine Entwicklung inne, die Dell’Umbria dankenswerterweise nachzeichnet.

Noch während der ersten Welle der Revolten der Vorstädte 1981, war es z.B. in Lyon Usus, sich in die Innenstädte zu begeben, um dort Luxusschlitten zu „erbeuten“, die dann feierlich auf „eigenem“ Terrain in Brand gesetzt wurden. Im eigenen Viertel wurden nur die Fahrzeuge Jener abgefackelt, die als Rassisten oder Denunzianten bekannt waren. Doch jene erste Generation, die vielleicht über „mehr“ (oder ein anderes) politisches Bewusstsein verfügte, wurde in den Folgejahren zwischen in die Viertel gepumpten Drogen und paternalistischen Übernahmeaktionen durch etablierte linke und humanistische Organisationen aufgerieben.

Vielleicht war auch jene Revolte von 2005 der Ausgangspunkt für eine Tendenz zum nihilistischen Aufstand der Prekären, die im Wissen um ihre eigentliche Situation keine Forderungen mehr stellen, über keine Visionen mehr verfügen jenseits der Leidenschaft sich als Subjekte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wieder sichtbar zu machen. Nicht umsonst bezogen sich z.B. Teile der jungen albanischen Community, die sich an den wochenlangen Unruhen 2008 in Griechenland nach dem Tod von Alexis Grigoropoulos beteiligten, positiv auf die Unruhen von 2005 in Frankreich.

Die Aktualität Dell’Umbrias „Wut und Revolte“ schien nicht zuletzt erst vor wenigen Tagen auf, als in Schweden in einer konzertierten Aktion öffentlichkeitswirksam zeitgleich in mehreren Grossstädten aberdutzende von Autos in Brand gesetzt wurden. Eine antagonistischen Linke, der Marxsches „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ ein ernstzunehmendes Anliegen bleiben soll, wird nicht umhinkommen, sich mit dem Wesensgehalt jener „Revolten der Vorstädte“ auseinanderzusetzen. Das Studium der empathischen Ausführungen von Alèssi Dell’Umbria wäre dabei hilfreich, den Protagonist*innen dieser Aktionen auf Augenhöhe zu begegnen.

Sebastian Lotzer

Alèssi Dell’Umbria: Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten, ca. 17.00 SFr  ISBN 978-3943446296

 

Sebastian Lotzer
Erstveröffentlichung am 11. September 2018