Freiheit und Glück den alten Weggefährten

Laut Medienberichten vom 7. Januar 2025 hat die BAW nun Anklage gegen Peter Krauth und Thomas Walter wegen des gescheiterten Anschlags auf den Neubau eines Abschiebeknastes im Jahr 1995 erhoben. Der nächste Versuch, die beiden Genossen wegen der Aktion des K.O.M.IT.E.E 30 Jahre später doch noch zu belangen, obwohl das eigentliche Delikt schon verjährt wäre. 

Jenseits der juristischen Details zeigt sich hier, ebenso wie bei der Repression gegen die militanten antifaschistischen Zusammenhänge im Zusammenhang mit dem sogenannten Antifa Ost Verfahren und bei der medialen Hetzjagd auf ehemalige Militante der RAF nach der Festnahme von Daniela Klette das Verhältnis des Staates zu allen ernst gemeinten Versuche, hierzulande Ansätze einer antagonistischen Politik zu entwickeln, die sich nicht integrieren lässt. 

Der Staat und seine ausführenden Organe vergessen und vergeben nicht, auch deshalb ist es so wichtig, die eigene Geschichte lebendig zu halten und zu verteidigen und nicht nur eine melancholische Randnotiz von in die Jahre gekommenen Genossinnen und Genossen.  

Deshalb an dieser Stelle ein Kapitel aus „Begrabt mein Herz am Heinrichplatz“ das der Aktion in Berlin Grünau gewidmet ist. Hintergründe zu dem damaligen Ereignissen und der Solidarität mit den verfolgten Genossen, die seit Jahrzehnten in Venezuela im Exil leben findet ihr auf dem Blog ende-aus.net

Dreiundvierzig / April 1995

Ein abgelegener Parkplatz in einem Waldstück am Rande von Berlin. Eine Bullenstreife fährt vorbei, routiniert gelangweilt der Blick vom Beifahrersitz. Etwas macht klick. Der VW Bulli wendet und kommt zurück. Auf dem Parkplatz stehen ein blauer Passat und ein roter Ford Transit, die Ladetüren des Transporters stehen offen. Eine routinierte Meldung über Funk, die beiden Bullen steigen aus. Der Fahrer die rechte Hand am Holster, der Beifahrer in der Linken eine große Stabtaschenlampe.  „Freiheit und Glück den alten Weggefährten“ weiterlesen

Unsere Leichen leben noch

I have changed my name so often

I′ve lost my wife and children

But I have many friends

And some of them are with me

Leonard Cohen, The Partisan

Ein kühler Samstagabend in Kreuzberg. Das niedersächsische SEK lungert mittlerweile in Bereitstellungsräumen herum, in den Medien jeden Tag neue RAF Pornos, in denen der Voyeurismus der stumpfen Massen mit intimen Details über schmuddelige Sofaüberwürfe und schlechten Möbelgeschmack gefüttert wird. Der Ausnahmezustand, der im Corona Modus zum permanenten wurde, erlebte seine Wiederauferstehung im besiegten Nachfolgestaat des NS in den 70er Jahren bei der Killfahndung nach den Kadern der Stadtguerilla, bzw. im polizeilichen Kreuzfeuer, dass das Leben von etlichen Unbeteiligten forderte, die fälschlicherweise für solche gehalten wurden. Dass der Prozess der Staatsfaschisierung eben auf jeden fundamentalen Widerstand zielte, erlebte im Herbst 1977 auch die Anti-AKW Bewegung, als bundesweit über 10.000 Bullen, teilweise mit Maschinenpistole im Anschlag um die 75.000 (!) Fahrzeuge durchsuchten, um eine Demonstration gegen den schnellen Brüter in Kalkar zu verhindern, die dann trotz Verbot und Ausnahmezustand mit 50.000 Menschen direkt am Bauzaun stattfand. „Unsere Leichen leben noch“ weiterlesen

Menschenjäger, Schreibtischtäter

“Und jetzt lag er hier, gute zehn Jahre später und wusste um all die Zusammenhänge, sah den roten Faden, der sich durch sein Leben zog. Wusste alles und doch nichts. Dachte an alle, die da noch draußen in Illegalität unterwegs waren. Die untergetaucht waren, weil sie etwas grundsätzlich Anderes gesucht hatten oder einfach nur weil ihnen die Bullen dicht auf den Fersen waren. Es machte keinen Unterschied. Für sie alle gab es keinen Weg zurück mehr. Nicht in absehbarer Zeit.”

Die schönste Jugend ist gefangen, S. Lotzer 2019

Blendschockgranaten auf dem Wagenplatz, im Minutentakt überschlagen sich die Meldungen der Medien von der Menschenhatz in der Stadt, die ihre Seele schon vor langer Zeit an den Meistbietenden verkauft hat. Ein paar Worte der Liebe und Verbundenheit auf einer alten Sperrmüllmatraze eine Staatsaffäre. Das System wird jenen, die es gewagt hatten, aufzuzeigen, das der Kaiser wirklich nackt ist, wenn mensch es ernst meint mit dem “alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”, genau dieses Bloßstellung niemals verzeihen.

Die Hybris der Allmacht angekratzt, man kann eine unendliche Anzahl an Buchseiten mit den Verirrungen, Irrtümern, den Unmenschlichkeiten, auch und gerade unter denen, die aufgebrochen waren in den bewaffneten Antagonismus, später in den Frontprozess, füllen, aber da bleibt diese klammheimliche oder sogar offene Freude über die Sprünge im Panzerglas.  „Menschenjäger, Schreibtischtäter“ weiterlesen

B.1.1.529

Dunkle Nächte, die die grauen Tage ablösen, der erste Schnee, der vergeblich fällt, kein weißes Leuchten in der Nacht, nur Matsch grau in grau. Eine Zigarette vor der Haustür, die nasse Kälte kriecht durch die dicke Jacke. Die alte Nachbarin wieder zurück, ein dreiviertel Jahr war sie weg, niemand wusste genaueres in diesem Haus, in dem man die Briefkästen nicht zählen mag, so viele sind es. Kerzengerade steht sie da im Hausflur, die mädchenhafte Figur, die graublauen Augen, die schon ein Schleier bedeckt. Hüftbruch sagt sie, dachte schon man werde sie ins Heim abschieben. Du erinnerst dich an den Sommer, der schon so lange her scheint, sie rauchend auf der Bank vor dem Haus, “der Arzt sagt ja, ich soll nicht mehr”. Und dann hast du in 20 Minuten mehr über das Leben gelernt, als wenn du es jahrelang studiert. Nur einfach durchs Lauschen. Nun also ist sie wieder da, dein Herz schlägt schneller, als du sie da vor ihrer Wohnungstür stehen siehst, läuft über vor Zärtlichkeit, als ob eine alte, große Liebe zurückgekehrt ist. Vorsichtig nimmst du sie in den Arm, willst sie da für immer halten, so zerbrechlich scheint sie dir. 

Und ist immer noch ungeimpft, was sollst du ihr erzählen von mRNA, sie wird dich anschauen wie einen Außerirdischen. Aber jetzt ist sie Abschaum, der weg kann, kann nirgends mehr hin, selbst wenn sie wollte und könnte. Der Seniorentreff im Haus war lange zu, jetzt erst 3 G, dann 2 G. Verschlossen für sie, ein weiterer Winter Einsamkeit. “Es muss jetzt ungemütlich werden für Ungeimpfte”, “Geiselnehmer”, “Tyrannen”, wer aber wird ihre Tränen zählen, wenn sie wieder alleine in der Wohnung ist, die Dämonen kommen und sie umkreisen. Und du kannst sie nicht ewig im Arm halten, um die Geister zu bannen, eigentlich kennst ihr Euch nicht wirklich, aber du darfst sie trotzdem kurz halten. Was für eine Ehre. Dann lässt du sie zurück, du musst. Arbeit. Weitere Schicksale, so viel Einsamkeit, so viel Schmerz, aber kaum eine Träne. Warum weint eigentlich fast nie einer, warum immer nur das treten nach unten, die hohlen Phrasen, wo jeder doch nur für sich und seine Blase, genetisch oder sozial, gerade steht.  „B.1.1.529“ weiterlesen

Ghost Town

Die ersten etwas wärmeren Nächte in Kreuzberg, kurz vor Beginn der Ausgangssperre. Die Gehwege sind ausgestorben, aus einem vorbeifahrenden Auto dröhnen traurige türkische Schmachtfetzen in vollem Bass, trotzig aufreizend. Ein Fuchs patrouilliert durch das Hochhausghetto als sei es das selbstverständlichste der Welt. Ein paar türkische Jungs huschen um die Ecke, nicht allzu eilig, niemand soll auf falsche Gedanken kommen. Ein Schlenker in die Oranienstraße, fast wie früher am 1. Mai um drei Uhr Nachts, nur Türken und Outlaws. Bloß die Punks fehlen. Und die Bullen. Man sieht praktisch keine Bullen. Das ist das, was am meisten irritiert. Sie sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie sich gar nicht mehr zeigen müssen. Vor einem hell erleuchteten Laden, der türkische Spezialitäten verkauft, stehen zu zweit oder dritt ein paar Jungs Anfang Dreißig, quatschen ein bisschen, hängen ab. Stehen da im hellen Licht, jeden Abend, wir sind noch da, kommt doch. Vielleicht gibt es etwas Streit, oder auch ein bisschen Bußgeld, das dürfte es ihnen wert sein, auf Schlägerei ist hier keiner aus, einfach nur ein bisschen zeigen, dass sie noch da sind. Sich und den Bullen. Die kommen aber nie, nehmen einfach keine Notiz. Fast schon kränkend.

In den dunklen Ecken am Urbanhafen sitzen sie dann doch, ein paar Jugendliche, reden leise, trinken, kiffen. Zuhause ist es voll und langweilig. Hier kommen kaum Bullen vorbei, manchmal ein paar Zivis mit Taschenlampen, aber das ist die Ausnahme. Das fällt am meisten auf. Das der Sommer langsam am Horizont auftaucht und man kaum junge Pärchen Hand in Hand die Straßen entlang schlendern sieht. Wie geht das. Wie hält man das aus, wenn man jung ist und die Zeit ganz andere Dimensionen hat. Sechs Wochen Sommerferien ein Versprechen der Ewigkeit sind. Lange Tage oder Abende am Badesee, durchgetanzte Nächte, alles ausprobieren, sich selber spüren, erkunden, den anderen, die andere erkunden. Verschwitzte Haut, schamesrote Gesichter, forsche Gesten, die alles überspielen sollen. Alle so hart, und doch alle so weich, so schimmernd durchlässig in ihren Sehnsüchten. Wie geht das, wie hält man das aus, wenn es das alles nicht gibt. Immer nur Pixel um Pixel, Homeschooling, keine Sprüche, keine Kippen auf den Schülertoiletten. Kein Spicken und abschreiben, die schönste Klassenarbeit ist die, für die man nicht gelernt hat, aber sich den richtigen Nachbarn ausgesucht hat. Man hält es nicht aus. Man zieht sich zurück, man wird wütend, aber da gibt es kein Ventil mehr, keinen Ort, wo man mit sich und seiner Wut hin kann. Die einen ritzen sich, die anderen knallen sich alles rein, was sie bekommen können. Manche stecken sich den Finger so oft in den Hals  bis sie alles rausgekotzt haben, was sie nicht schlucken wollen, nicht schlucken können. Kriegt eh keiner mit, jeder mit sich selbst beschäftigt. Wenn du Glück hast, hast du deine Clique, die ist Sternenstaub, kannste alle Sozialarbeiter, Kinder-und Jugendpsychologen, die ganzen Vertrauenslehrer in die Tonnen kloppen dagegen. Weil da welche sind die dich wirklich verstehen und denen du auch nichts vormachen kannst, weil sie selber so ticken. Aber Clique ist schwierig geworden. X Personen aus 2 Haushalten. Was soll das sein. Haushalte. Wer denkt sich sowas aus. Wer lebt denn in dem Alter in Kategorien wie Haushalte.  „Ghost Town“ weiterlesen

Räumungsblues in Berlin

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben

Hermann Hesse

Der erste Abend im August in Berlin. Dies sind die Abende wo das Licht gelbgülden in die Nacht fällt. Auf einem kleinen Platz im Berliner Bezirk Neukölln haben sich rund um eine Kirche gut tausend Menschen eingefunden. Viele sind ganz in schwarz gekleidet, vielleicht gibt es auch etwas zu betrauern, von etwas Abschied zu nehmen, vielleicht gibt es aber auch noch ganz andere Gründe. Doch bevor wie auf die Motive der Anwesenden zu sprechen kommen, ist es vielleicht an der Zeit, ein wenig über die Vergangenheit des Ortes zu berichten, an dem die folgende Erzählung spielt.

Der Platz und die Kirche liegen im sogenannten Schillerkiez, eigentlich ein Arme-Leute Viertel, in dem bis vor wenigen Jahren die Wohnungen relativ bezahlbar waren, was zum einen daran lag, dass mit der Gegend nicht viel Staat zu machen war und zum anderen die Häuser in der Einflugschneise des mittlerweile stillgelegten Flughafen Tempelhof standen. Doch wenn ein Übel geht, in diesem Fall der Fluglärm, kommt häufig ein anderes. So ist es jedenfalls häufig im Leben der armen Leute.

Doch greifen wir nicht vor. Früher, also richtig früher, war es nämlich nicht so ein Arme-Leute Viertel. Im Gegenteil. Neukölln, dass damals noch Rixdorf hieß, sollte seinen Ruf als bloßer Proletenbezirk loswerden und so baute man entlang der Schillerpromenade schmucke Mehrfamilienhäuser für das Bürgertum und verlegte auf der Promenade sogar echten englischen Rasen. Das nahe Vergnügungsviertel rund um die Hermannstraße, wo jeden Abend, aber vor allem am Wochenende der Bär steppte, lockte zusätzlich besser Betuchte in das Viertel und so entstand ein Stadtquartier in dem für damalige Verhältnisse sensationelle 90% der Wohnungen über Bad und Toilette in der Wohnung verfügten. Den Malochern durfte dann noch der Bauhaus Architekt Bruno Taut in der Oderstraße eine sonnige und luftige Wohnanlage errichten und fertig war das Schmuckkästchen Schillerkiez.

Dann kam der Faschismus und der zweite Weltkrieg, der aber das Viertel weitgehend unzerstört hinterließ. Aber die Besserbetuchten zogen weiter und weg und der Zerfallsprozess der Baustruktur nahm seinen Lauf, was sich erst Anfang der 90iger änderte, als das Viertel zum Sanierungsgebiet erklärt wurde.

Die neuen Linken und die, die man früher die Alternativen nannten, waren schon seit Ende der 60iger im Viertel heimisch geworden, wenn auch die Gegend sowohl für die 68iger als auch für die Hausbesetzer Bewegung Anfang der 80iger keine große Rolle spielte, obwohl ein Stadtteilladen und ein Urgestein der linken Kneipenszene im Kiez schon lange heimisch geworden waren. Doch auf letzteres kommen wir erst später zu sprechen. Noch vor gut zehn Jahren konnte man im Viertel noch jene typische Ansammlung von 4 Proleteneckkneipen an mancher Straßenkreuzung bewundern, wenn auch die Stammkundschaft so langsam ausdünnte. Man lebte im allgemeinen in friedlicher Koexistenz, wenn auch die demonstrativ zu jeder Fußball Weltmeisterschaft heraus gehängten Deutschlandfahnen das gute Verhältnis etwas trübten.

Doch dann verschwanden die Flugzeuge und die Aufwertungspioniere hielten Einzug. Galerien und hippe Lokalitäten entstanden, das obligatorische Quartiersmanagement eröffnete ein Büro, die Mieten fingen an zu steigen und konnten eher von Wohngemeinschaften als von Arbeiterfamilien aufgebracht werden. Farbflaschen und der eine oder andere Pflasterstein fanden ihren Weg an die Fassaden und in die Schaufenster der Akteure der Aufwertung, allerdings hielt sich diese Form des Widerstandes in Grenzen. Stattdessen fanden sogenannte Kiezspaziergänge statt, eine Stadtteilzeitung entstand, in der Intellektuelle für sich selber schrieben, die eine oder andere kurzfristige Besetzungsaktion schufen Öffentlichkeit, mehr aber auch nicht. Das vielleicht vielversprechendste Projekt im Versuch, den Verdrängungsprozess aufzuhalten, waren Mieterberatungen, die von linken Aktivisten organisiert und die regelmäßig gut besucht wurden von den Bewohner*innen des Viertels, die sich nun zunehmend mit Mieterhöhungen und Modernisierungen konfrontiert fanden. (1)

In einem wahren Moment von Weitsicht und Mut wurden nun doch tatsächlich die Mieterberatungen und Informationsveranstaltungen zum Thema Wohnen in einige der Eckkneipen verlegt wo sie durchschlagenden Erfolg hatten, vollgefüllte Säle erwarteten die Referenten und Mietberater, in Gesprächen mit den Alteingesessenen stellte sich heraus, dass diese teilweise unter sich schon Solidarstrukturen geschaffen hatten, von denen die Linken nur träumen konnten. Doch da das Leben kein Märchen ist und den Linken die realen Subjekte des Klassenkampfes schon immer suspekt waren (Haupt-und Nebenwidersprüche und sowieso die ganzen nicht so korrekten Verhaltens-und Redensweisen) zog man sich dann doch schleunigst wieder in seine identitäre Höhle zur Beratung unter und für sich zurück und der Moment, wo ein gemeinsamer Kampf am Horizont erschien, ward Geschichte.

Einige Jahre später, und nun kehren wir ins hier und jetzt und zur oben schon erwähnten linken Szenekneipe zurück, ist der Prozess der Gentrifizierung im Schillerkiez weit fortgeschritten und irreversibel. Und nun, wo schon so viele der alten Nachbarn gezwungen waren zu gehen, ereilt dieses Schicksal nun auch jenes Urgestein der linken Kneipenszene, das Syndikat. Und wenn man sonst die Anzahl der Teilnehmer*innen an Aktionen gegen Verdrängung im Viertel mit viel Glück im niedrigsten dreistelligen Bereich verorten konnte, sind nun hier und heute, an jenem ersten Abend im August sogar aus dem ganzen Bundesgebiet Menschen angereist um “Aus der Defensive zu kommen”.

Wobei dieses Anliegen eher taktisch-pragmatischer Natur zu sein scheint, haben doch die dazu veröffentlichten Texte nichts Neues zu der Erzählung von Aufwertung und Verdrängung beizutragen, bzw. weisen sie auch nicht wirklich einen Bezug auf jene wegweisende Texte auf, die vor einigen Jahren entstanden sind, die einiges an Resonanz, wenn auch leider nichts an Konsequenz zur Folge hatten. (2) (3) (4) Im Gegenteil, die aktuelle Erzählung von der Verteidigung von Freiräumen fällt hinter jegliche Diskussion der letzten 10 Jahre zurück.

Doch lassen wir uns nun dennoch zunächst auf das vorgegebene taktisch-pragmatische Vorgehen ein und erzählen aus dieser simplifizierenden Perspektive. Auch weil der Erzähler ein Herz für alles hat, was qualmt und knirscht und spittert.

Wenige Minuten nach der festgelegten Zeit nun, und das ist für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich pünktlich, weil hier jede unbedeutende Latschdemo mit wenigen hundert Leuten grundsätzlich erst nach einer Stunde nerviger Warterei losläuft ( Der 1. Mai in manchen Jahren sogar erst nach 2 h, soviel hatte die selbsternannte Avantgarde dem rebellischen Pöbel zu verklickern, dem die Gunst zuteil wurde, dem Riesenbummbumm Truck des Revolutionären 1. Mai Bündnis hinterher laufen zu dürfen), setzen sich nun die gut tausend Leute vom Herrfurthplatz aus in Bewegung.

Schnellen Schrittes und scheinbar frohen Mutes. Vorneweg ein black bloc, der auch auf dem zweiten Blick dem Anspruch des kritischen Betrachters gerecht zu werden scheint und nicht nur, wie leider so oft in Berlin, eine Mogelpackung oder ein Haufen von ein paar dutzend Leuten war, die im Ernstfall, vom Rest der Demo im Stich gelassen, von den Bullen verprügelt und/oder eingesackt wird. In Windeseile erreicht man die Herrmannstraße, so schnell können die Bullen gar nicht ihr Spalier aufziehen. Das JobCenter in der Mainzer bekommt was ab, die Bullen davor auch, die Demo immer noch geschlossen, vor der Demo werden hektisch Bulleneinheiten umgruppiert. Nach einem Schlenker geht die Demo zurück auf die Herrmannstraße. Nun wird ein Luxus Neubau ins Visier genommen, Farbe findet den Weg an die Fassade und die Berliner Bullen machen das was sie am besten können. Laut schreien und losrennen. Der Frontblock wankt, aber er fällt nicht, zerfällt in zwei Teile, aber die bleiben zusammen, passen untereinander auf. Der Rest der Berliner Schwarzgekleideten macht, was er am besten kann. Laut schreien und wegrennen. Der ehemalige Frontblock sich muss jetzt auch in Richtung Schillerkiez zurückziehen, sonst ist mensch nur noch mit den Bullen alleine. Ab und zu fliegen Steine und Flaschen, etwas Gerümpel landet auf den engen Straßen des Schillerkiezes, schön auch zu sehen, wie Berliner Greiftrupps von einer Handvoll Genoss*innen mit entsprechender Entschlossenheit in Schach gehalten werden kann. Ein kurzer Ausfall erneut auf die Hermannstraße, wieder gehen Scheiben zu Bruch, noch ein bisschen Krempel auf den Asphalt, dann ist sie vorbei, die Offensive. Das Raus aus der Defensive. Am Abend dann noch eine kleinere Aktion im Prenzlauer Berg. Dann Warten. (5)

Oh wie schön ist Panama

Die Bullen halten sich nicht an die Regeln. Empörung macht sich breit. Als wenn eine Räumung durch die Bullen eine Angelegenheit des Fair Plays darstellt. Natürlich besetzen die Bullen die Straßen rund um das Syndikat schon am Vorabend des angesagten Räumungstages. Womit das eigentlich der Friedensbewegung zugeschriebene Konzept der Sitzblockade im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist. Trotzdem finden sich in der Nacht vor der Räumung noch in der Spitze bis zu 2000 Menschen in den Straßen rund um das Syndikat ein. Stehen an den Absperrungen, stehen im Flutlicht der Bullen, stehen und holen sich irgendwann das erste Bier. Später noch ein bisschen Gerangel an der Herrmannstraße, ein paar Bierflaschen fliegen, die Bullen kassieren locker Leute ein. Am frühen Morgen eine symbolische brennende Barrikade, dann ist das Syndikat Geschichte. Am Nachmittag eine kurzfristige Demo die eigentlich eine Demo der Nachbar*innen sein soll und mit ein paar hundert Leute durch Neukölln zieht.

Dann ist Tag X 21:00. Seit Wochen angekündigt, bundesweit beworben. Fünf Stunden vorher wird der Treffpunkt bekannt gegeben. Am Abend dann vielleicht um die 800 Leute am Richardplatz in Neukölln. Es wird dunkel, der Frontblock läuft los, dreht nach 30 m an der ersten Bullensperren um, kommt 50 m in die nächste Querstraße, trifft auf die nächste Bullenkette. 20 Bullen. Reicht für Berlin. Die Demo steht. Durch die Demo durch stoßen die nächsten Bullen Richtung Frontblock, keiner versucht sie aufzuhalten, jetzt sind 200 Leute von beiden Seiten gekesselt. Es folgen zwei Durchbruchsversuche, beide erfolgreich, über die Hälfte des Frontblocks entkommt dem Kessel. Steht aber im nächsten Kessel. Denn mittlerweile ist praktisch die gesamte Demo in den enge Gassen rund um den Richardplatz gekesselt. Das bleibt auch solange so, bis die Bullen einen auf generös machen, und den Abzug in kleinen Gruppen gestatten. Nach zwei Stunden ist alles vorbei. Die Nacht bleibt ruhig in Berlin. Wahrscheinlich alle am Bier holen. (6)

Nach der Niederlage ist vor der Niederlage – Oder in Berlin: In der Offensive bleiben

Die Berliner Szene gilt jeher als großmäulig und unbeirrbar. Das war schon in den 80igern so. Unvergessen zum Beispiel der unabgesprochene Angriff auf die Bullen in Kleve, der dazu führten, dass der gesamte Konvoi nach Brokdorf (1986) aufgeraucht wurde. (7) Nun konnte mensch den Berliner*innen in früheren Jahren zugute halten, dass hier nicht nur das Herz auf der Zunge getragen wird, sondern hinter den markigen Sprüchen auch eine gewisse Substanz steckte. Diesen Standortvorteil muß mensch nun aber der Berliner Szene aberkennen. Zeugnis davon wurde in den letzten Jahren wirklich zur Genüge abgelegt, unvergessen die aberdutzenden von Aufzügen von Faschisten, die ungehindert durch die Berliner Innenstadt marschieren konnten, schon lange, bevor sie wie die Fische im Wasser in der Corona Querfront mitschwimmen durften.

Das Syndikat also nun Geschichte, das alte Drugstore sowieso, jetzt also das Räumungsurteil für die Liebig 34. Am letzten Samstag, also noch vor diesem Urteil war erneut zu einer “kämpferischen Demo für die bedrohten Projekte” nach Kreuzberg mobilisiert worden. Standesgemäß mit einem Video mit Ausschnitten aus den dreitägigen Straßenschlachten rund um die besetzten Häuser in der Mainzerstraße. Darunter macht es mensch nicht in Berlin. Und da wir Corona Zeiten haben, kann mensch auch auf jeder Demo komplett vermummt herumlaufen, sich dabei großartig fühlen und bekommt nicht, wie sonst üblich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dafür von den Bullen was auf die Fresse.

Es sollte also “pünktlich und geschlossen” losgehen, mensch sollte “vorbereitet und in Gruppen” am Samstagabend am Wassertorplatz in Kreuzberg erscheinen. Dort erwarteten dann einem aber erstmal jede Menge Bullen, zu meiner Überraschung ein Lautsprecherwagen und dann doch fast eine halbe Stunde Wartezeit. Irgendwann ging es dann los, wie in Berlin üblich mit Pyroshoweinlagen, bevorzugt von Hausdächern und aus Hausprojekten, die Bullen schauten sich das alles an und zogen nach und nach ihr Spalier auf, bis die gesamte Demo als Gefangenentransport ihre Runde durch Kreuzberg drehte, sich dabei brandgefährlich vorkam um am Ende im Kessel von Bullen Gnaden in der Köpenicker sich selber auflöste. Die Bullen hatten ein Einsehen und gewährten freien Abzug in kleinen Gruppen und die Szene feierte sich anschließend in den sozialen Netzwerken selber als wäre Connewitz jetzt ein Stadtteil von Berlin.

Freedom just another world for nothing left to lose

Verlassen nun wir nun aber langsam das vorgegebene Terrain der taktisch-pragmatischen Ausrichtung, denn hier ist einfach kein Blumentopf zu gewinnen. Wer immer noch nicht begriffen hat, welche Machtverhältnisse auf den Berliner Straßen seit Jahren herrschen, oder dies einfach nicht wahrhaben will, dem ist einfach nicht mehr in seiner oder ihrer Borniertheit beizukommen. Die vorsichtig selbstkritische Bilanzierung der Demo am 1.8 und der Tag X 21:00 Geschichte wird tagtäglich übertönt, so lässt sich nicht wirklich neu aufbauen, so wird man keine auswärtigen Genoss*innen nach Berlin mobilisiert bekommen. Wenn alles, was mensch einzubringen hat, Verbalradikalismus à la “In der Offensive bleiben” und der Mythos vergangener Kämpfe in dieser Stadt ist, besteht wenig Hoffnung.

Wenden wir uns deshalb den wirklichen Notwendigkeiten zu. Der realen Situation in dieser Stadt, die aus allen Wunden blutet, dem ganzen Abgefuckten, dem allgegenwärtigen Schmerz, der in der Hybris des Pandemie Ausnahmezustandes aufscheint, den trostlosen Gesichtern hinter den Masken in den Bahnen und Bussen. Begreifen wir, das #staythefhome eine Falle war, dass es dem System nie um die Schwachen und Kranken gegangen ist, dass das Narrativ des Unvermeidlichkeit des Ausnahmezustand auf der einen Seite von der Unfähigkeit der politische Klasse zeugt, mit dieser Situation umgehen zu können und auf der anderen Seite ein Generalmanöver ist in dem sich die Macht für die kommenden sozialen Verwerfungen angesichts der weltweiten Krisen wappnet. Es wird keine Stadt von unten geben, keine solidarischen Nachbarschaften und wenn, dann braucht es dafür als letztes die selbstbezogene Berliner Szene. Es gilt zu bilanzieren, sich schmerzhaft den eigenen historischen Niederlagen zu stellen und zu versuchen, sich ein reales Bild von den Gegenwärtigkeiten zu verschaffen. Die Zeit der Halbherzigkeiten ist vorbei. Es nutzt nichts, darauf hinzuweisen, dass mensch es nicht geschafft habe, ein eigenes Narrativ in der Pandemie zu erarbeiten, um dann zu Geschichten wie “Wer hat der gibt” zu mobilisieren. (8)

Die Räumung der Liebig 14 vor neun Jahren war tagelang DAS Stadtgespräch. Das hatte nicht nur mit dem Level der damaligen Militanz zu tun, die Übrigens überwiegend eine dezentrale war, sondern auch damit, dass sich viele auch außerhalb der Szene in diesem Konflikt wiedergefunden haben, ihn als eine Auseinandersetzung in der “Umkämpften Stadt”, als eine im Kern soziale Auseinandersetzung und nicht als eine identitäre begriffen haben. Das dieser Kampf um die Liebig 14 eingebettet schien in die damaligen Auseinandersetzungen um Miete und Wohnraum. Dies ist heute nicht mehr der Fall, davon zeugt auch die zahlenmäßig überschaubare Beteiligung an den zahlreichen demonstrativen Aktionen zur Verteidigung der bedrohten Szeneprojekte. In einer Stadt wie Berlin, in der innerhalb weniger Stunden 10.000 Menschen zu spontanen Demos zu mobilisieren sind, sind die Größenordnungen der letzten Monate bei den “Interkiezionalen” Demos ein bedenkliches Zeichen. Die Frage ist, ob und wann denn endlich über all das diskutiert werden soll und darf. Oder ob mensch weiter sich in der Szeneblase selbst über die eigene gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit hinweg leugnen will.

Fußnoten:

  1. Eine sehr umfangreiche Sammlung zu Umstrukturierung und Widerstand im Schillerkiez bei NK 44 http://nk44.blogsport.de/informationen/
  2. “Sozialrevolutionäres Stadtentwicklungsprogramm” Berlin 2010 http://urbanconflicts.blogsport.de/texte/stadtentwicklungsprogramm/
  3. “Rauschen”- Beiträge zur ”Umkämpften Stadt” Berlin 2011 http://lesci.blogsport.eu/files/2012/08/LesCI_Circular_No1_Web.pdf
  4. “Die Eigentumsfrage stellen – Stadt Übernehmen” – Strategiepapier aus anarchistischer Sicht Berlin 2013 http://urbanconflicts.blogsport.de/texte/die-eigentumsfrage-stellen-stadt-uebernehmen/
  5. Auswertungspapier zum 1.8.20 https://interkiezionale.noblogs.org/post/2020/08/17/01-08-2020-raus-aus-der-defensive-demo-taktische-auswertung/
  6. Auswertungstext zur 21:00 Mobilisierung Tag X https://interkiezionale.noblogs.org/post/2020/09/01/auswertung-der-syndikat-tag-x-sponti/
  7. Eine sehr ausführliche Dokumentation zu Brokdorf, Kleve 1986 https://www.nadir.org/nadir/initiativ/sanis/archiv/brokdorf/kap_00.htm
  8. “Die fetten Jahre sind vorbei” Positionspapier aus Berlin https://de.indymedia.org/node/102413

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 21. September 2020 auf Sunzi Bingfa

Der aufkommende Pandemie Faschismus – Splitter der Dissonanz

“Liewer düd aß Slaawe”

Pandemie Magie

In jedem Berliner Park eine Wanne. Die Besatzungen beäugen misstrauisch jede Aktivität Derjenigen, die sich in die Frühlingssonne gewagt haben. Drei Fußball spielende Kinder sind ein Grund einzuschreiten. Wir haben schon vor Jahren gelernt, ab Drei ist man eine terroristische Vereinigung. Nun also auch die Kinder. Völlig willkürliche Größenordnungen werden verkündet und durchgesetzt. Wir erinnern uns, noch vor ein paar Wochen versammelten sich Zehntausende in den Fußballstadien, da waren schon Tausende in China an dem Virus gestorben, der jetzt als Begründung für jegliche Absurdität des Pandemie Ausnahmezustandes herhalten muss. Drei Kinder sind eine Gefahr, fünfzig Menschen in einen S Bahn Waggon auf dem Weg zu gesellschaftlich unsinniger Arbeit sind kein Problem.  

Überhaupt, diese Magie der Zahlen, wie von Zauberhand verändern sich fast täglich die Bezugsgrößen. Zuerst wurden alle Versammlungen über 1000 Menschen verboten, dann alle über 100. Und natürlich betraf dies auch alle Demonstrationen. Dabei hätte man sich die Mühe sparen könne, eine in Ohnmacht und Unterwerfung geübte deutsche Linke sagte schon von sich alle Zusammenkünfte, selbst die der harmlosesten Natur ab. Und der kleine Rest, der abweichend davon sich nicht unterwerfen will, dem schickt man dann in Berlin eben die neue Präsenzeinheit in den ‘Nordkiez’ auf den Hals. Aber kommen wir zu der Magie der Zahlen zurück. Kommen wir überhaupt zu der gesamten Magie zurück, die die politische Klasse tagtäglich zu unserer Unterhaltung aus dem Hut zaubert. So als habe sie jahrelang nur für diese Momente der Magie geübt und gelebt. (Spoiler: Sie hat es. Seit Jahrzehnten finden Notstandsübungen unter wechselnden Szenarien statt.) „Der aufkommende Pandemie Faschismus – Splitter der Dissonanz“ weiterlesen

Die Waffe der Kritik kann nicht die Kritik der Waffen ersetzen

“das in dem milieu, in dem wir kämpfen – postfaschistischer staat, kosumentenkultur. metropolenchauvinismus, massenmanipulation durch die medien, psychologische kriegsführung, sozialdemokratie – dass gegen die repression, mit der wir es hier zu tun haben, empörung keine waffe ist. sie ist stumpf und hohl. wer wirklich empört, also betroffen und mobilisiert ist, schreit nicht, sondern überlegt sich, was man machen kann”

kassiber von ulrike meinhof, märz 1976

Warum schreibt der Mensch, wenn er sich ohnmächtig fühlt? Schreibt Briefe an ferne Freunde oder betrunken Liebesgedichte an verlorene Lieben, schreibt nächtelang Pamphlete gegen die allgegenwärtige Barbarei. Vielleicht weil die Ohnmacht der schlimmste aller schmerzhaften Zustände ist. Weil sich das Bewusstsein nicht damit abfinden kann, das es keine Handlungsoptionen gibt.

Einige Zeit, nachdem ich “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” veröffentlicht hatte, merkte ich, das etwas fehlte. Das da ein alter Schmerz, eine vertraute Melancholie in mir war, dass es noch etwas zu erzählen, zu erinnern gab.

Es war ein Bild, eine Erinnerung, die mich nicht losließ. Ein junger Mann auf den Gleisen eines Bahnhofes irgendwo in der ehemaligen DDR. Der Lockenkopf merkwürdig verrenkt auf den kahlen, nackten Schienen. Liquidiert von den Sondereinheiten des Bundesgrenzschutzes. Eine unendlich scheinende Fahrt ins hessische Wiesbaden, schweigend, wütend. traurig. Eine samstägliche Demonstration in einer völlig ausgestorbenen Innenstadt.

Es ist verrückt, dass man sich in manchen Stunden den Toten umso vieles näher fühlt als all den Lebenden um sich herum. Vielleicht weil sie etwas von einem selber mit sich genommen haben, weil es da ganz tief drin in einem eine Sehnsucht gibt, nicht nur Zuschauer oder Randfigur der Geschichte zu sein, sondern wieder mit ganzen Herzen selber, in aller Bescheidenheit und Demut, ein bisschen Geschichte schreiben zu können.

Wenn man mit den Menschen redet, also mit den Menschen, mit denen man sich nicht ständig aus Gewohnheit umgibt, sondern z.B. mit jenen, die man in einer beliebigen Kneipe bei einem Bier kennen lernt, wird man feststellen, dass es immer noch, nach all den Jahrzehnten, eine unglaubliche Faszination und liebevolle Bewunderung für jene gibt, die hier vor nun mittlerweile über 50 Jahren die revolutionäre Frage, die im Kern immer die Frage nach der Macht, also auch, wenn man ehrlich ist, die Frage nach der bewaffneten Macht, oder besser Gegenmacht, auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Man wird auf soviel Neugier treffen und auf die stille Hoffnung, dass sich eines Tages wieder Menschen finden werden, die bereit sein werden, alles, auch ihr eigenes Leben, in die Waagschale zu werfen. Und wenn wir alle ganz ehrlich mit uns selber sind, werden wir etwas davon auch in uns selber wiederfinden.

Wie auch immer, vor einem knappen Jahr ist nun “Die schönste Jugend ist gefangen” erschienen. Der Versuch einer Annäherung, einer Hommage an die “Bewaffneten Freunde”, wie sie Raul Zelik in einem anderen Zusammenhang genannt hat. Vielleicht ist daraus mehr geworden, vielleicht auch weniger. Das mögen andere entscheiden. Nachdem mich einige Leute darum gebeten haben, dem besseren Verständnis wegen eine Sammlung von Quellen zu erstellen, bin ich dieser Bitte nachgekommen. Aus verschiedensten Gründen hat sich das ganze etwas in die Länge gezogen, aber nun ist die Website zum Buch online gegangen.

Über 100 Texte, Erklärungen, Zeitungsartikeln, Büchern und Filme zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes, der antiimperialistischen Front, aber auch zum Aufstand in Syrien und dem Elend in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Den Kapiteln des Buches entsprechend und der Natur nach unvollständig, obwohl ich erstaunt war, wie viel doch den Weg in die digitale Welt gefunden hat. Ich möchte betonen, dass mir jegliches kommerzielles Interesse fern ist, wenn ich in der investierten Zeit Toiletten geputzt hätte, was ich eine sehr ehrenhafte und ehrliche Art finde, sein Geld zu verdienen, wäre ich heute wohl fast das, was man einen gemachten Mann nennt.

Die website zum Buch “Die schönste Jugend ist gefangen” findet Ihr unter bahoebooks.net/jugend

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 25. März 2020 auf Autonomie Magazin 

 

Bologna in Zeiten des Corona Virus – Das Wu Ming-Tagebuch

Part 1 Lotzer / Part 2 Wu Ming 

Part 1 (Lotzer)

Schon länger spüre ich in mir das Bedürfnis nach einem gesunden Abstand (was für ein Euphemismus dieser Tage) zu dem Großteil dessen, was sich in diesem Lande die radikale Linke nennt. Und überfiel mich nach Chemnitz, nach Halle, nach Hanau tiefe Scham, wenn ich jene Pflichtübungen besuchte, die sich frei von Hass und ehrlicher Trauer durch die “Szenebezirke” hindurchschlängelten, nichts hinterlassend als eine kurze Meldung in den Regionalnachrichten, so stellte ich am Abend des 19. Februar das erste Mal fest, dass die ganze Angelegenheit mich zu ekeln begann. 

Zehn Menschen waren nur wenige Stunden zuvor von einem Faschisten niedergemetzelt worden und ich war nach der Arbeit nach Neukölln geeilt. So stand ich da am Rande und ließ die Demonstration an mir vorbeiziehen, auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Ich sah in diese Gesichter, unter den es auch ehrliche gab, dies gilt es zu benennen, der Gerechtigkeit wegen, und um nicht endgültig dem Wahnsinn zu verfallen, aber ich sah auch so viele mit einem Lächeln im Gesicht Freunde und politische Gefährten grüssen, umarmen, in einen spontanen smalltalk verfallend, dass mir geradezu körperlich übel wurde. Kurz darauf traf ich einen alten Genossen, der eigentlich um einiges jünger ist als ich, aber in meinem Alter hat man schnell alte Genossen. Wir schauten uns nur kurz an und wechselten wenige Worte. Wozu auch. Es war alles so offensichtlich.  „Bologna in Zeiten des Corona Virus – Das Wu Ming-Tagebuch“ weiterlesen

Schanzenblues

Am Ende wurde aufgeräumt und geputzt. Wie immer in Deutschland. Die Bürger und Bürgerinnen kamen aus der Stadt und den noblen Vororten, beseitigten die Trümmer, kehrten die Gehwege. Die Ordnung war wiederhergestellt. Doch nicht nur den Bürgern und Bürgerinnen war ihre Ordnung verloren gegangen. Auch Teile des über Jahrzehnte gewachsenen außerparlamentarischen Netzwerkes in Hamburg echauffierten sich über die Geschehnisse im Schanzenviertel während des G20-Gipfels in Hamburg. Vorzeigefiguren und selbsternannte Sprecher der »Politszene« sonderten empörte und die »Krawallmacher« diffamierende Sprechblasen in die gierig hingestreckten Mikrophone der Massenmedien ab. In der Zuspitzung war sogar von »Ausländern, über die man keine Kontrolle habe« die Rede. Letztendlich blieb es einem Gastwirt aus der Schanze überlassen, dessen Eltern vor der Pinochet-Diktatur geflohen waren, das wilde Treiben des siebten Juli im Schanzenviertel in einen angemessenen soziologischen und politischen Kontext zu rücken. 

Alle Protagonisten und Protagonistinnen eint das Trauma des Kontrollverlustes. 

Der hochgerüstete Sicherheitsapparat, der den reibungslosen Ablauf der G20-Tagung inmitten der Millionenstadt garantieren sollte, hatte es trotz über 30.000 eingesetzten Bullen nicht geschafft, die Ordnung komplett aufrechtzuerhalten. Es fing schon mit der von vornherein geplanten Zerschlagung der autonomen »Welcome to Hell«-Demo an. Die einsatztaktische Vorgabe, den Frontblock vom Rest der Demo abzutrennen, konnte trotz eines für den Repressionsapparat günstigen Terrains nicht erfolgreich umgesetzt werden. Während Teile des Frontblockes dem massiven Angriff der Bullen passiv untergehakt Widerstand entgegensetzten, erklommen Hunderte einfach die Flutschutzmauer und wurden dabei von den über ihnen befindlichen Menschen unterstützt, die ihnen die Hände entgegen reichten bzw. die immer wieder anrennenden Bulleneinheiten mit Steinen, Flaschen und Pyrotechnik eindeckten. So beschränkten sich die Bullen schließlich darauf, aberdutzende Menschen einfach niederzuknüppeln, später ging die Hetzjagd mit Wasserwerfer-Unterstützung quer über den Fischmarkt weiter. Als sich im Anschluss an die Räumung des Fischmarkts um die 10.000 Menschen zu einer Spontandemo formierten, kam es am Rande dieses Aufzuges zu direkten Aktionen und Angriffen auf die Bullen. Auch im weiteren Stadtgebiet kam es zu militanten Aktionen. So wurde in Hamburg-Horn ein Bullenrevier angegriffen, das Wohnhaus des Innensenators bekam ungebetenen Besuch und das Amtsgericht Altona büßte Scheiben ein, um nur ein paar Beispiele zu nennen.  „Schanzenblues“ weiterlesen