stuttgart zwanzigsiebenundsiebzig – fragmente

grüß ihn von uns. aber verdeckt. und sage ihm noch etwas: die mystifizierung des kollektivs hat zu ihrer voraussetzung die resignation gegenüber der klasse.

christian geissler – kamalatta

über stuttgart gibt es im allgemeinen nicht viel zu berichten. die größte gesellschaftliche aufregung der letzten jahrzehnte waren die pläne zur errichtung eines neuen bahnhofes was zehntausende von braven oder weniger braven schwaben in der stadt, aber auch überall in der diaspora auf die straße trieb und dann in einem finalen showdown im schlosspark endete, wo sich wasserwerfer und kastanien werfende wutbürger eine surreale schlacht lieferten.

nun erscheint es aber, als wenn sich ausgerechnet in diesem talkessel zwei historische linien auf eine ganz merkwürdige art und weise begegnen würden. für eine ganze generation von militanten in europa, ja vielleicht sogar für mehr als nur eine generation, war stuttgart nur in einer doppelnennung bekannt und kenntlich. stuttgart stammheim. der ort an dem den historischen gründern der raf der prozeß gemacht wurde, wo sie eingesperrt und isoliert wurden, wo sie siebenundsiebzig “zu tode kamen”. „stuttgart zwanzigsiebenundsiebzig – fragmente“ weiterlesen

Pandemie Kriegstagebücher – First of May Edition (1.Mai 2020 Berlin)

 „Das Desaster ist ja, dass es wirklich absolut keine Linke gibt….Da ist nur Leere… Da ist nichts, überhaupt nichts mehr.“ 

Nanni Balestrini

Fangen wir damit an, was als einziges überhaupt noch Sinn macht, weil alles jenseits davon, all die verpufften Affekte, all die ohnmächtige Wut, Trauer, all die überbordende Angst sich wie in einer Versuchsanordnung in der völligen Agonie der Isolation und Vereinzelung auflösen, als hätte es sie nicht gegeben. Fangen wir also mit der Hoffnung an, von der es an anderer Stelle heißt, ein Mensch könne einen Monat ohne Essen, eine Woche ohne Trinken, aber keine vier Sekunden ohne sie überleben. Reden wir also von der Hoffnung. 

Reden wir davon, wie sich die trostlosen Straßen Kreuzbergs wieder gefüllt haben, reden wir davon in all die Gesichter zu schauen, in die das Leben zurückgekehrt schien. Reden wir davon, wir wir unser Lächeln wiederfanden, wenn wir alten Genossinnen und Genossen wieder begegneten, reden wir von unserem Zögern, uns wirklich zu umarmen, reden wir von dem Schmerz, den wir verspürten, wenn wir unsere instinktiven Bewegungen aufeinander zu unter Kontrolle brachten und verlegen halbherzig, ja geradezu tollpatschig ungelenke Bewegungen vollzogen. Reden wir von unserer Scham, den Menschen, mit dem wir so viele Gefahren geteilt haben, der uns in vielen Momenten Bruder, Schwester geworden war, nicht von vollem Herzen zu umarmen.  „Pandemie Kriegstagebücher – First of May Edition (1.Mai 2020 Berlin)“ weiterlesen

Alèssi Dell’Umbria: Wut und Revolte

Wenn in diesen tristen politischen Zeiten die Frage die Runde macht, wo denn die Situation ein wenig weniger trist sein könnte, fällt der Blick unwillkürlich über den Rhein.

Dass die Situation für eine radikale Linke dort nicht ganz so desperat erscheinen mag, ist u.a. auch dem Umstand geschuldet, dass dort im Gegensatz zu hier die Figur des Intellektuellen, der dem antagonistischen Spektrum zuzurechnen ist, noch nicht gänzlich ausgestorben erscheint.
Zu ihnen gehört ohne Zweifel auch Aléssi Dell’Umbria, dessen Texte und Bücher bisher praktisch nicht auf Deutsch erschienen sind. Dem kleinen Verlag Edition Contra-Bass gebührt die Ehre, hier endlich Abhilfe geschaffen zu haben. Er veröffentlichte jüngst „Wut und Revolte“, eine überarbeitete Fassung eines Essays, das Aléssi Dell’Umbria unmittelbar nach den landesweiten Unruhen in den französischen Vorstädten im Herbst 2005 verfasste.Gleich zu Anfang seiner Ausführungen stellt Dell’Umbria sympathischerweise sowohl seinen Sprechort („Zu behaupten, die Intensität der erlebten Situation wiederzugeben, ohne sie direkt empfunden zu haben, wäre ein Betrug gewesen, wie ihn die ‚radikale‘ Literatur gewohnt ist“) als auch seine grundsätzliche Komplizenschaft („Doch der Schreibende weiss auch, dass er sie in anderen Zeiten und an anderen Orten empfand“) mit den rebellischen Jugendlichen klar.

Im Weiteren spannt Dell’Umbria den historischen Bogen von den Rockern, die sich im Mai 1968 aus den Vorstädten zu den revoltierenden Student*innen gesellten, zu den extralegalen Hinrichtungen durch den Repressionsapparat, die in 80igern begannen und deren Opfer ausnahmslos Bewohner*innen der Banlieues waren. Und die nur in einigen wenigen Fällen zu späteren Verurteilungen der beteiligten Polizisten, meist zu lächerlichen Bewährungsstrafen, führten. Vor allem aber zeigt er gegen alle gängigen Klischees den sozialen Gehalt der Revolte im Herbst 2005 auf, die sich nicht notwendigerweise emanzipatorisch gebärdete, sondern auch in allen Schattenseiten die Brutalität der Verhältnisse widerspiegelte.

Schon in der Bezeichnung des Ortes, den diese Revoltierenden bewohnen, der Banlieue, ist der Bann, die Verbannung aus den Innenstädten sprachlich eingeschrieben. Folglich blieb und bleibt den Jugendlichen gar kein anderer Ort der Revolte, der demonstrativen Aktion, da ihnen der Zugang in die Innenstädte weitgehend versperrt bleibt. (Nicht umsonst wurde in Paris während des Finales der Fussball WM 2018 der gesamten ÖPNV von den Vorstädten in die Innenstadt eingestellt. Trotzdem fanden sich noch genügend Jugendliche ein, die mitten auf den Champs-Élysées einen veritablen Riot veranstalteten.)

Da die Stärke der Revoltierenden im Allgemeinen nicht ausreichend war und ist, um sich in eine direkte Konfrontation mit dem hochgerüsteten Repressionsapparat zu begeben, beschränken sich ihre Aktionen meistens auf Hinterhalte, Zerstörungen von öffentlichen Institutionen (einschliesslich von Schulen und Kindergärten), sowie der Inbrandsetzung der Autos ihrer Nachbarn. Aber auch dieser Seite der Agonie dieser Revolte wohnt eine Entwicklung inne, die Dell’Umbria dankenswerterweise nachzeichnet.

Noch während der ersten Welle der Revolten der Vorstädte 1981, war es z.B. in Lyon Usus, sich in die Innenstädte zu begeben, um dort Luxusschlitten zu „erbeuten“, die dann feierlich auf „eigenem“ Terrain in Brand gesetzt wurden. Im eigenen Viertel wurden nur die Fahrzeuge Jener abgefackelt, die als Rassisten oder Denunzianten bekannt waren. Doch jene erste Generation, die vielleicht über „mehr“ (oder ein anderes) politisches Bewusstsein verfügte, wurde in den Folgejahren zwischen in die Viertel gepumpten Drogen und paternalistischen Übernahmeaktionen durch etablierte linke und humanistische Organisationen aufgerieben.

Vielleicht war auch jene Revolte von 2005 der Ausgangspunkt für eine Tendenz zum nihilistischen Aufstand der Prekären, die im Wissen um ihre eigentliche Situation keine Forderungen mehr stellen, über keine Visionen mehr verfügen jenseits der Leidenschaft sich als Subjekte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wieder sichtbar zu machen. Nicht umsonst bezogen sich z.B. Teile der jungen albanischen Community, die sich an den wochenlangen Unruhen 2008 in Griechenland nach dem Tod von Alexis Grigoropoulos beteiligten, positiv auf die Unruhen von 2005 in Frankreich.

Die Aktualität Dell’Umbrias „Wut und Revolte“ schien nicht zuletzt erst vor wenigen Tagen auf, als in Schweden in einer konzertierten Aktion öffentlichkeitswirksam zeitgleich in mehreren Grossstädten aberdutzende von Autos in Brand gesetzt wurden. Eine antagonistischen Linke, der Marxsches „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ ein ernstzunehmendes Anliegen bleiben soll, wird nicht umhinkommen, sich mit dem Wesensgehalt jener „Revolten der Vorstädte“ auseinanderzusetzen. Das Studium der empathischen Ausführungen von Alèssi Dell’Umbria wäre dabei hilfreich, den Protagonist*innen dieser Aktionen auf Augenhöhe zu begegnen.

Sebastian Lotzer

Alèssi Dell’Umbria: Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten, ca. 17.00 SFr  ISBN 978-3943446296

 

Sebastian Lotzer
Erstveröffentlichung am 11. September 2018

 

 

Schanzenblues

Am Ende wurde aufgeräumt und geputzt. Wie immer in Deutschland. Die Bürger und Bürgerinnen kamen aus der Stadt und den noblen Vororten, beseitigten die Trümmer, kehrten die Gehwege. Die Ordnung war wiederhergestellt. Doch nicht nur den Bürgern und Bürgerinnen war ihre Ordnung verloren gegangen. Auch Teile des über Jahrzehnte gewachsenen außerparlamentarischen Netzwerkes in Hamburg echauffierten sich über die Geschehnisse im Schanzenviertel während des G20-Gipfels in Hamburg. Vorzeigefiguren und selbsternannte Sprecher der »Politszene« sonderten empörte und die »Krawallmacher« diffamierende Sprechblasen in die gierig hingestreckten Mikrophone der Massenmedien ab. In der Zuspitzung war sogar von »Ausländern, über die man keine Kontrolle habe« die Rede. Letztendlich blieb es einem Gastwirt aus der Schanze überlassen, dessen Eltern vor der Pinochet-Diktatur geflohen waren, das wilde Treiben des siebten Juli im Schanzenviertel in einen angemessenen soziologischen und politischen Kontext zu rücken. 

Alle Protagonisten und Protagonistinnen eint das Trauma des Kontrollverlustes. 

Der hochgerüstete Sicherheitsapparat, der den reibungslosen Ablauf der G20-Tagung inmitten der Millionenstadt garantieren sollte, hatte es trotz über 30.000 eingesetzten Bullen nicht geschafft, die Ordnung komplett aufrechtzuerhalten. Es fing schon mit der von vornherein geplanten Zerschlagung der autonomen »Welcome to Hell«-Demo an. Die einsatztaktische Vorgabe, den Frontblock vom Rest der Demo abzutrennen, konnte trotz eines für den Repressionsapparat günstigen Terrains nicht erfolgreich umgesetzt werden. Während Teile des Frontblockes dem massiven Angriff der Bullen passiv untergehakt Widerstand entgegensetzten, erklommen Hunderte einfach die Flutschutzmauer und wurden dabei von den über ihnen befindlichen Menschen unterstützt, die ihnen die Hände entgegen reichten bzw. die immer wieder anrennenden Bulleneinheiten mit Steinen, Flaschen und Pyrotechnik eindeckten. So beschränkten sich die Bullen schließlich darauf, aberdutzende Menschen einfach niederzuknüppeln, später ging die Hetzjagd mit Wasserwerfer-Unterstützung quer über den Fischmarkt weiter. Als sich im Anschluss an die Räumung des Fischmarkts um die 10.000 Menschen zu einer Spontandemo formierten, kam es am Rande dieses Aufzuges zu direkten Aktionen und Angriffen auf die Bullen. Auch im weiteren Stadtgebiet kam es zu militanten Aktionen. So wurde in Hamburg-Horn ein Bullenrevier angegriffen, das Wohnhaus des Innensenators bekam ungebetenen Besuch und das Amtsgericht Altona büßte Scheiben ein, um nur ein paar Beispiele zu nennen.  „Schanzenblues“ weiterlesen