Die ersten etwas wärmeren Nächte in Kreuzberg, kurz vor Beginn der Ausgangssperre. Die Gehwege sind ausgestorben, aus einem vorbeifahrenden Auto dröhnen traurige türkische Schmachtfetzen in vollem Bass, trotzig aufreizend. Ein Fuchs patrouilliert durch das Hochhausghetto als sei es das selbstverständlichste der Welt. Ein paar türkische Jungs huschen um die Ecke, nicht allzu eilig, niemand soll auf falsche Gedanken kommen. Ein Schlenker in die Oranienstraße, fast wie früher am 1. Mai um drei Uhr Nachts, nur Türken und Outlaws. Bloß die Punks fehlen. Und die Bullen. Man sieht praktisch keine Bullen. Das ist das, was am meisten irritiert. Sie sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie sich gar nicht mehr zeigen müssen. Vor einem hell erleuchteten Laden, der türkische Spezialitäten verkauft, stehen zu zweit oder dritt ein paar Jungs Anfang Dreißig, quatschen ein bisschen, hängen ab. Stehen da im hellen Licht, jeden Abend, wir sind noch da, kommt doch. Vielleicht gibt es etwas Streit, oder auch ein bisschen Bußgeld, das dürfte es ihnen wert sein, auf Schlägerei ist hier keiner aus, einfach nur ein bisschen zeigen, dass sie noch da sind. Sich und den Bullen. Die kommen aber nie, nehmen einfach keine Notiz. Fast schon kränkend.
In den dunklen Ecken am Urbanhafen sitzen sie dann doch, ein paar Jugendliche, reden leise, trinken, kiffen. Zuhause ist es voll und langweilig. Hier kommen kaum Bullen vorbei, manchmal ein paar Zivis mit Taschenlampen, aber das ist die Ausnahme. Das fällt am meisten auf. Das der Sommer langsam am Horizont auftaucht und man kaum junge Pärchen Hand in Hand die Straßen entlang schlendern sieht. Wie geht das. Wie hält man das aus, wenn man jung ist und die Zeit ganz andere Dimensionen hat. Sechs Wochen Sommerferien ein Versprechen der Ewigkeit sind. Lange Tage oder Abende am Badesee, durchgetanzte Nächte, alles ausprobieren, sich selber spüren, erkunden, den anderen, die andere erkunden. Verschwitzte Haut, schamesrote Gesichter, forsche Gesten, die alles überspielen sollen. Alle so hart, und doch alle so weich, so schimmernd durchlässig in ihren Sehnsüchten. Wie geht das, wie hält man das aus, wenn es das alles nicht gibt. Immer nur Pixel um Pixel, Homeschooling, keine Sprüche, keine Kippen auf den Schülertoiletten. Kein Spicken und abschreiben, die schönste Klassenarbeit ist die, für die man nicht gelernt hat, aber sich den richtigen Nachbarn ausgesucht hat. Man hält es nicht aus. Man zieht sich zurück, man wird wütend, aber da gibt es kein Ventil mehr, keinen Ort, wo man mit sich und seiner Wut hin kann. Die einen ritzen sich, die anderen knallen sich alles rein, was sie bekommen können. Manche stecken sich den Finger so oft in den Hals bis sie alles rausgekotzt haben, was sie nicht schlucken wollen, nicht schlucken können. Kriegt eh keiner mit, jeder mit sich selbst beschäftigt. Wenn du Glück hast, hast du deine Clique, die ist Sternenstaub, kannste alle Sozialarbeiter, Kinder-und Jugendpsychologen, die ganzen Vertrauenslehrer in die Tonnen kloppen dagegen. Weil da welche sind die dich wirklich verstehen und denen du auch nichts vormachen kannst, weil sie selber so ticken. Aber Clique ist schwierig geworden. X Personen aus 2 Haushalten. Was soll das sein. Haushalte. Wer denkt sich sowas aus. Wer lebt denn in dem Alter in Kategorien wie Haushalte. „Ghost Town“ weiterlesen