Am Ende wurde aufgeräumt und geputzt. Wie immer in Deutschland. Die Bürger und Bürgerinnen kamen aus der Stadt und den noblen Vororten, beseitigten die Trümmer, kehrten die Gehwege. Die Ordnung war wiederhergestellt. Doch nicht nur den Bürgern und Bürgerinnen war ihre Ordnung verloren gegangen. Auch Teile des über Jahrzehnte gewachsenen außerparlamentarischen Netzwerkes in Hamburg echauffierten sich über die Geschehnisse im Schanzenviertel während des G20-Gipfels in Hamburg. Vorzeigefiguren und selbsternannte Sprecher der »Politszene« sonderten empörte und die »Krawallmacher« diffamierende Sprechblasen in die gierig hingestreckten Mikrophone der Massenmedien ab. In der Zuspitzung war sogar von »Ausländern, über die man keine Kontrolle habe« die Rede. Letztendlich blieb es einem Gastwirt aus der Schanze überlassen, dessen Eltern vor der Pinochet-Diktatur geflohen waren, das wilde Treiben des siebten Juli im Schanzenviertel in einen angemessenen soziologischen und politischen Kontext zu rücken.
Alle Protagonisten und Protagonistinnen eint das Trauma des Kontrollverlustes.
Der hochgerüstete Sicherheitsapparat, der den reibungslosen Ablauf der G20-Tagung inmitten der Millionenstadt garantieren sollte, hatte es trotz über 30.000 eingesetzten Bullen nicht geschafft, die Ordnung komplett aufrechtzuerhalten. Es fing schon mit der von vornherein geplanten Zerschlagung der autonomen »Welcome to Hell«-Demo an. Die einsatztaktische Vorgabe, den Frontblock vom Rest der Demo abzutrennen, konnte trotz eines für den Repressionsapparat günstigen Terrains nicht erfolgreich umgesetzt werden. Während Teile des Frontblockes dem massiven Angriff der Bullen passiv untergehakt Widerstand entgegensetzten, erklommen Hunderte einfach die Flutschutzmauer und wurden dabei von den über ihnen befindlichen Menschen unterstützt, die ihnen die Hände entgegen reichten bzw. die immer wieder anrennenden Bulleneinheiten mit Steinen, Flaschen und Pyrotechnik eindeckten. So beschränkten sich die Bullen schließlich darauf, aberdutzende Menschen einfach niederzuknüppeln, später ging die Hetzjagd mit Wasserwerfer-Unterstützung quer über den Fischmarkt weiter. Als sich im Anschluss an die Räumung des Fischmarkts um die 10.000 Menschen zu einer Spontandemo formierten, kam es am Rande dieses Aufzuges zu direkten Aktionen und Angriffen auf die Bullen. Auch im weiteren Stadtgebiet kam es zu militanten Aktionen. So wurde in Hamburg-Horn ein Bullenrevier angegriffen, das Wohnhaus des Innensenators bekam ungebetenen Besuch und das Amtsgericht Altona büßte Scheiben ein, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Als sich am nächsten Morgen im Hamburger Stadtgebiet diverse »Finger« mit jeweils einigen hundert Leuten in Bewegung setzten, entglitt den Bullen erneut die Kontrolle. Um die dreihundert Leute eines »schwarzen Fingers« zogen über die Elbchaussee in Richtung Altona, konnten über eine halbe Stunde lang Fahrzeuge in Brand setzen, diverse Scheiben einschmeißen und sogar Fahrzeuge der Bundespolizei am Bahnhof Altona angreifen, ohne dass es der Einsatzleitung gelang, relevante Einsatzkräfte an diese Gruppe heranzuführen. Nach diversen Geplänkeln am Rande der roten Zone der G20-Tagung versammelten sich im Laufe des Abends dann etliche tausend Menschen, zuerst auf St. Pauli, später dann im Schanzenviertel. Aus einer Initiative von einigen wenigen hundert Menschen heraus entwickelten sich dann jene Stunden des Aufruhrs im Schanzenviertel, die weltweit im TV gesendet wurden und die die polizeiliche Einsatzleitung erst nach geraumer Zeit unter Zuhilfenahme von schwer bewaffneten Sondereinsatzkommandos beenden konnte. Wobei die schwerbewaffneten Einheiten bei der Räumung der Straßen des Schanzenviertels dann weitgehend ins Leere stießen und im Wesentlichen nur noch Anwohner*innen und Schaulustige antrafen.
Was aber nun bewog die verschiedensten gesellschaftlichen Akteure dazu, geradezu hysterisch auf jenen Abend während der G20-Tagung in der Schanze zu reagieren?
Das Ausmaß der Gewalt kann es nicht gewesen sein. Wer den 1. Mai 1989 in Westberlin oder die Schlacht um die besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Ostberlin Anfang der 1990er Jahre erlebt hat oder sich an die Verbarrikadierung der Hafenstraße 1987 erinnert, der mag für die Geschehnisse in der Schanze nur ein müdes Lächeln übrig haben. Die Antwortsuche kann differenziert oder auch banalisierend ausfallen. Im letzteren Fall ist davon auszugehen, dass wir einfach mittlerweile in anderen Zeiten leben. Die Austragung gesellschaftlicher Konfliktualität beschränkt sich heute in diesem Land weitgehend auf die Realisierung symbolischer Kampagnen und Aktionen. Politische Militanz gibt es nur noch als Randnotiz, und sie wird meist von Kleingruppen im Schutz der Nacht ausgeübt. Die Rollen von Täter und Opfer, von Jäger und Gejagten sind klar benannt und verteilt. Wenn ein Bullenapparat seit Jahrzehnten fast nur noch Angriff und Draufhauen kennt, wohnt dem Zusammenstoß mit einem ernstzunehmenden Gegner eine gewisse Singularität inne. Für beide Seiten.
Wenn wir aber nun versuchen, uns den Reaktionen auf andere Art und Weise anzunähern und uns dabei auf den sozialen Gehalt der ganzen Angelegenheit fokussieren, so wird vielleicht sowohl das weitgehende »Schweigen« der Akteure der militanten Aktionen als auch die geschwätzigen Distanzierungen von Teilen der politischen »Szene« erklärbarer. Seit Jahren schon explodieren die sozialen Verhältnisse weltweit immer und immer wieder zu völlig unvorhersehbaren Zeitpunkten und zu scheinbar völlig beliebigen Anlässen. Vielleicht fing alles mit den Brotunruhen Anfang, Mitte der 1980er Jahre in Nordafrika an. Vielleicht ist das aber auch nur eine völlig willkürliche Behauptung, weil es unter uns geradezu einen Zwang zum Einordnen und Historisieren gibt.
Wie auch immer, der »arabische Frühling«, der keiner war – weder arabisch, noch Frühling – flammte ebenso völlig unerwartet auf. Als es hieß, der Fall der Regime in Tunesien und Ägypten sei noch nachvollziehbar, aber Syrien sei sehr stabil, gingen die Massendemonstrationen in Syrien los, deren blutige Unterdrückung in einen Bürgerkrieg mündete, der bis heute anhält. Die sozialen Unruhen im ehemaligen Ostblock vor wenigen Jahren kamen ebenso völlig unerwartet wie die jüngsten Unruhen im Iran. Wenn wir ehrlich zu uns selber sind, gibt es keine Blaupausen für erfolgreiche Aufstände, geschweige denn für Revolutionen. Lenin war sich sicher
dass nach der russischen Revolution Deutschland an der Reihe sei. Der Che versuchte, das Modell der kubanischen Revolution nach Afrika und später nach Bolivien zu überführen und scheiterte. Im Grunde genommen sollten wir eigentlich zufrieden damit sein, dass sich Bewegungen und Aufstände nach ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten ereignen und verhalten und wir so wenig Zugriff darauf haben. Denn wenn es anders wäre, könnten wir davon ausgehen, dass unser Gegner, der uns in fast allen Bereichen weit überlegen ist, in der Lage wäre, solche Bewegungen von vornherein zu verhindern oder zumindest schleunigst abzuwürgen.
Was aber nun hat dies alles mit jenem siebten Juli in der Schanze zu tun?
Das besondere jenes Abends war eben nicht das Ausmaß der Gewalt, die auf den Sicherheitsapparat zielte, oder das überschaubare Ausmaß an Plünderungen. Auch nicht die Tatsache, dass sich etliche Jahre nach dem Ende der Globalisierungsbewegung Linksradikale aus verschiedensten Ländern Europas in Hamburg zu Aktionen vereinten. Das Bemerkenswerte und von eigentlichem Interesse war der Ablauf des Abends selber. Auch viele der zu den Protesten und Aktionen Angereisten befanden sich nach den Aktionen des Morgens und des Tages in den Quartieren, als über die Kanäle der Nachrichtensender die Bilder aus dem Schanzenviertel aufliefen, sich über die sozialen Netzwerke die Meldungen über das Geschehen im Schanzenviertel verbreiteten.
Was nun geschah, war, dass sich überall in der Stadt Einzelne und kleine Grüppchen in Richtung Schanzenviertel aufmachten, an den Straßenkreuzungen auf weitere Gruppen trafen, sodass sich am Ende Tausende im Viertel zu einer widerständigen, aktionsbereiten Menschenmasse vereinigten. Wer sich an den Aufstand gegen das Mubarak-Regime erinnert, hat vielleicht noch die Bilder jenes historischen Freitagnachmittags im Kopf, als Hunderttausende über die Nilbrücken in Richtung Tahrir-Platz strömten und damit das endgültige Ende des Regimes besiegelten. Auch wenn diese Analogie in Bezug auf die Größenordnung und gesellschaftliche Bedeutung hinken mag, so finden sich hier doch ähnliche Bilder, ähnliche Dynamiken und Motivationen wieder. Da die Hamburger Einsatzführung von der Politik als oberste Priorität die Sicherung der Roten Zone, der Abendveranstaltung in der Elbphilharmonie sowie der Wegstrecken der Delegierten vorgegeben bekommen hatte und von den vorausgegangenen stadtweiten militanten Aktionen sichtlich beeindruckt war, verzichtete sie am Freitagabend darauf, das Schanzenviertel komplett abzuriegeln. Ein Vorgehen, dass sie bei anderer Gelegenheit und mit wesentlich weniger zur Verfügung stehenden Einsatzkräften durchexerziert hatte. So gelangten die Leute in die Schanze hinein und am späten Abend, beim polizeilichen Vorrücken, wieder hinaus. Was immer die Einsatzleitung bewogen haben mag, die anfänglich erfolgreichen Angriffe (über die Seitenstraßen waren Wasserwerfer am Nachmittag bis fast zur Roten Flora vorgerückt) auf die Menschen in der Schanze einzustellen, ab einem bestimmten Zeitpunkt war der Zugriff auf die Situation in dieser Form nicht mehr möglich. Oder zu mindestens nur um den Preis einer völlig unüberschaubaren Lage. Nun aber fanden wir eben jene Situation vor, die so vielen Menschen offensichtlich (teilweise bis heute) Kopfschmerzen bereitet(e). Der der Kern des massiven politischen Angriffs der diversen Interessenverwalter*innen gilt. Von den gelaufenen hirnrissigen Aktionen an dieser Stelle zu reden, wäre töricht. Nicht weil es sie nicht gegeben hätte oder sie zu verteidigen wären, sondern weil es eine reale Erfahrung ist, dass es in den unkontrollierten Abläufen eines Krawalls oder riots eben fast immer zu solchen Handlungen kommt. Diese sind, soweit möglich, einfach zu unterbinden, zur Not auch ganz handfest. Punkt.
Was sich nun aber an jenem Abend in der Schanze manifestierte, um endlich auf das Wesentliche zu kommen, war, dass sich ein politisches Geschehen in ein soziales Geschehen verwandelte, oder, um es besser und bildhafter auszudrücken, jenes die politische Sphäre verließ und in den sozialen Raum diffundierte.
Nicht durch irgendwelche Veränderungen in den Vorgehensweisen oder Handlungen, sondern durch die soziale Neuzusammensetzung der Akteure und Akteurinnen. Es ging nicht mehr um eine wie auch immer geartete (militante) Skandalisierung der bestehenden Verhältnisse, sondern darum, den durch die Brutalität der bestehenden sozialen Verhältnisse auftretenden Affekten endlich Raum geben zu können, sich für Momente der aufgezwungenen Ohnmacht entledigen zu können. Eine Erfahrung, die in diesem Land, in dem der Klassenkampf von unten faktisch eingestellt ist, sonst gar nicht mehr gemacht werden kann.
Hier bricht sich nun das Erschrecken der Gralshüter*innen der »Politszene« Bahn. Mittlerweile völlig unfähig darin, sich mit der sozialen Realität jenseits der eigenen sozialen und kulturellen Blase auseinanderzusetzen (sofern sich das Geschehen nicht in fernen Ländern abspielt), muss sich nun geradezu zwangsweise vom konkreten Geschehen distanziert werden. Gilt es doch die eigene Deutungshoheit um jeden Preis zu verteidigen, weil diese, moralisch aufgeladen, die letzte ideologische Zufluchtsbastion einer gesellschaftlich völlig marginalen Szene darstellt. Was ist aber nun mit Jenen, die gemeinsam mit den »Jugendlichen aus der Vorstadt«, den »Krawalltouristen«, den »betrunkenen Schaulustigen« Barrikaden gebaut und verteidigt, die Bullen mit Steinen und Flaschen beworfen, Schaufensterscheiben zerstört und geplündert haben? Wieso ist von ihnen so wenig wirklich Relevantes zu hören? Wieso fehlt es hier an Einordnungen und Interventionen? Wieso bleibt die Unterstützung der zahlreichen Gefangenen an so Wenigen hängen? Wieso gab und gibt es zu den repressiven Schlägen nach dem G20-Gipfel (Indymedia-linksunten-Verbot, Hausdurchsuchungen, massenhafte Öffentlichkeitsfahndung) so wenig praktisches Verhalten? Im Wesentlichen fehlt es wohl einfach an wirklichem Bewusstsein, an analytischen Fähigkeiten, an geschichtlichem Wissen. Vielleicht auch einfach an echtem Selbstvertrauen. Vor allem aber an dem Willen, sich genau jenes anzueignen. Ohne diese Anstrengung auf sich zu nehmen, werden die Tage in Hamburg nicht mehr als eine Anekdote bleiben. Erst wenn es gelingt, aus den Erfahrungen etwas zu schöpfen, was darüber hinaus weist, wenn sich der Mühe unterworfen wird, das Geschehen in seinen sozialen Dimensionen einzuordnen, könnten diese Tage jenseits des Spektakels fort wirken. Wenn wir unsere Komfortzonen, unsere Nischen verlassen, uns auf die Anstrengung einlassen, uns auf die wirklichen sozialen Realitäten mit allen schmerzhaften Widersprüchlichkeiten einlassen, mag etwas gelingen, etwas Neues möglich sein. Wenn wir uns wieder in uns selbst zurückziehen, werden wir dem gesellschaftlichen Winter, der sich am Horizont abzeichnet, nichts entgegenzusetzen haben.
Sebastian Lotzer
Erstveröffentlichung im Buch RIOT – Was war da los in Hamburg?: Theorie und Praxis der kollektiven Aktion im April 2018