Wenn in diesen tristen politischen Zeiten die Frage die Runde macht, wo denn die Situation ein wenig weniger trist sein könnte, fällt der Blick unwillkürlich über den Rhein.
Im Weiteren spannt Dell’Umbria den historischen Bogen von den Rockern, die sich im Mai 1968 aus den Vorstädten zu den revoltierenden Student*innen gesellten, zu den extralegalen Hinrichtungen durch den Repressionsapparat, die in 80igern begannen und deren Opfer ausnahmslos Bewohner*innen der Banlieues waren. Und die nur in einigen wenigen Fällen zu späteren Verurteilungen der beteiligten Polizisten, meist zu lächerlichen Bewährungsstrafen, führten. Vor allem aber zeigt er gegen alle gängigen Klischees den sozialen Gehalt der Revolte im Herbst 2005 auf, die sich nicht notwendigerweise emanzipatorisch gebärdete, sondern auch in allen Schattenseiten die Brutalität der Verhältnisse widerspiegelte.
Schon in der Bezeichnung des Ortes, den diese Revoltierenden bewohnen, der Banlieue, ist der Bann, die Verbannung aus den Innenstädten sprachlich eingeschrieben. Folglich blieb und bleibt den Jugendlichen gar kein anderer Ort der Revolte, der demonstrativen Aktion, da ihnen der Zugang in die Innenstädte weitgehend versperrt bleibt. (Nicht umsonst wurde in Paris während des Finales der Fussball WM 2018 der gesamten ÖPNV von den Vorstädten in die Innenstadt eingestellt. Trotzdem fanden sich noch genügend Jugendliche ein, die mitten auf den Champs-Élysées einen veritablen Riot veranstalteten.)
Da die Stärke der Revoltierenden im Allgemeinen nicht ausreichend war und ist, um sich in eine direkte Konfrontation mit dem hochgerüsteten Repressionsapparat zu begeben, beschränken sich ihre Aktionen meistens auf Hinterhalte, Zerstörungen von öffentlichen Institutionen (einschliesslich von Schulen und Kindergärten), sowie der Inbrandsetzung der Autos ihrer Nachbarn. Aber auch dieser Seite der Agonie dieser Revolte wohnt eine Entwicklung inne, die Dell’Umbria dankenswerterweise nachzeichnet.
Noch während der ersten Welle der Revolten der Vorstädte 1981, war es z.B. in Lyon Usus, sich in die Innenstädte zu begeben, um dort Luxusschlitten zu „erbeuten“, die dann feierlich auf „eigenem“ Terrain in Brand gesetzt wurden. Im eigenen Viertel wurden nur die Fahrzeuge Jener abgefackelt, die als Rassisten oder Denunzianten bekannt waren. Doch jene erste Generation, die vielleicht über „mehr“ (oder ein anderes) politisches Bewusstsein verfügte, wurde in den Folgejahren zwischen in die Viertel gepumpten Drogen und paternalistischen Übernahmeaktionen durch etablierte linke und humanistische Organisationen aufgerieben.
Vielleicht war auch jene Revolte von 2005 der Ausgangspunkt für eine Tendenz zum nihilistischen Aufstand der Prekären, die im Wissen um ihre eigentliche Situation keine Forderungen mehr stellen, über keine Visionen mehr verfügen jenseits der Leidenschaft sich als Subjekte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung wieder sichtbar zu machen. Nicht umsonst bezogen sich z.B. Teile der jungen albanischen Community, die sich an den wochenlangen Unruhen 2008 in Griechenland nach dem Tod von Alexis Grigoropoulos beteiligten, positiv auf die Unruhen von 2005 in Frankreich.
Die Aktualität Dell’Umbrias „Wut und Revolte“ schien nicht zuletzt erst vor wenigen Tagen auf, als in Schweden in einer konzertierten Aktion öffentlichkeitswirksam zeitgleich in mehreren Grossstädten aberdutzende von Autos in Brand gesetzt wurden. Eine antagonistischen Linke, der Marxsches „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ ein ernstzunehmendes Anliegen bleiben soll, wird nicht umhinkommen, sich mit dem Wesensgehalt jener „Revolten der Vorstädte“ auseinanderzusetzen. Das Studium der empathischen Ausführungen von Alèssi Dell’Umbria wäre dabei hilfreich, den Protagonist*innen dieser Aktionen auf Augenhöhe zu begegnen.