Vielleicht lassen Sie meine Gedanken doch besser meine eigene Sache sein, Mr. Potter. Sie sind nicht sonderlich wichtig, natürlich nicht, aber sie sind alles, was ich habe.
Der lange Abschied, Raymond Chandler
Es ist nun fast ein Jahr her, mein lieber Achim, dass Du uns zurückgelassen hast. Zurückgelassen. Denn all unsere Trauer gilt doch immer auch und vielleicht vor allem uns selber, dem was wir verloren haben, jenem Teil von uns, den wir nicht mehr unser eigen nennen. Ich habe Dir schon direkt nach deinem Tod geschrieben, wie unersetzlich Du bist, wie groß und schmerzhaft die Lücke ist, die deine Abwesenheit in unser Leben webt. Nun also dachte ich, dass ich Dir schreibe und berichte was passiert ist in diesem Jahr, all die Niederlagen und Irrwege, das wenige Licht im Kerker des “Kapitalismus im Zeitalter der Katastrophe” wie Du ihn so treffend benannt hast. Und da einem immer so viel einfällt, nachdem man einen Brief geschrieben und versandt hat, dachte ich, ich schreibe Dir in mehreren Akten. Nicht, dass deshalb alles nur annähernd gesagt wäre, aber immerhin hoffe ich so zumindest ein paar Gedanken zu Ende zu bringen.
Zuallererst will ich Dir von der Gedenkveranstaltung im November letzten Jahres berichten, die wir hier in Berlin organisiert haben. Dellwo war da – und Lain, und Clover hat uns eine Videobotschaft geschickt, kluge, poetische Worte, die Dir bestimmt gefallen hätten. Dellwo und Lain haben lange und klug geredet, bei Lain habe ich die Hälfte nicht verstanden, und da hatte ich ein Déjà-vu, das zum Abend passte, weil ich ja bei Dir auch meistens nur die Hälfte verstanden habe. Ich habe mal wieder den Pausenclown als Moderator gegeben, bei so viel klugen Leuten ist man da auf der sicheren Seite. Anschließend wurde noch deine Musik aufgelegt und ziemlich viel getrunken. Also ein Abend, der zu Dir gepasst hat. In all dem Schmerz war da auch so viel Kluges und Schönes, und all das wäre ohne dich nicht zustande gekommen.
Clover ist dann im April dieses Jahres genauso überraschend wie Du gestorben. Sie haben seinen Namen an den Mauern von Los Angeles während der Riots gegen Trumps Offensive gegen die migrantische Community hinterlassen, aber dazu komme ich noch. Ich habe in den letzten Jahren so viele Nachrufe übersetzt, Negri, Tronti, Quadrelli, so viele Lücken, die nicht zu schließen sind… weißt Du eigentlich, dass Du der Einzige und Letzte warst, der aus diesem Land überhaupt international wahrgenommen wurde, der etwas zu sagen hatte, das einzigartig und wertvoll für all Jene war, die in den letzten 10, 15 Jahren nach einer grundsätzlichen aufständischen Perspektive suchen? Jetzt ist hier nur noch Wüste, eine intellektuelle Provinz, selbst ChatGPT dürfte an der Schlichtheit der Texte aus dem deutschsprachigen Raum verzweifeln und sein Mitwirken verweigern, sofern diese mittlerweile nicht eh von einem KIK-Klon für (geistig) Arme geschrieben werden. (Es gibt wie immer einige wenige Ausnahmen, aber dafür reichen die Finger einer Hand). Also lese ich eigentlich nur noch Texte aus den anderen Teilen dieser Welt, ich meine Deutschland ist seit 3 Jahren Teil des gar nicht mehr so indirekten Krieges mit Russland und es gibt einfach keine Analyse dazu auf der Höhe der Zeit, man muss schon bei italienischen Genossen nachschauen, um was gescheites zu finden.
Da wir gerade bei den italienischen Genossen sind, gestern habe ich ein Text von dort über die Akkumulationskrise und die Tendenz zum Krieg und die Zusammenhänge übersetzt und der hätte dir sicherlich gefallen und deshalb habe ich ihn auf deinen Blog gepackt, um den sich Genossen kümmern. Sie haben ihn ein bisschen umgestaltet, um deine politischen und musikalischen Geschichten zusammenzufassen, aber ich bin mir sicher, das neue Outfit würde Dir gefallen. Und ab und zu posten ein paar Leute neue Geschichten, von denen wir denken, dass sie dir gefallen würden und auf deinen Blog passen.
Aber kommen wir zu den Niederlagen, Irrtümern und wenigen Lichtblicken, wie angekündigt. Denn Du willst ja auf dem Laufenden bleiben, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo Du gerade bist, und ob es sowas wie einen Ort überhaupt gibt, an dem Du sein könntest. Aber Du hast mich ja schon lange durchschaut, wie meistens schreibe ich vor allem für mich selber, aber wer macht das nicht… Der Herbst war unendlich traurig und das nicht nur wegen deinem Tod. Nach all den vollen, prallen, teilweise ekstatischen Jahren der Riots, Revolten, Aufstände und unvollendeten Revolutionen, die über den Globus in einer Geschwindigkeit rasten, das einem ganz schwindlig wurde, all den klugen, mitreißenden Texten und Analysen, die dazu verfasst wurden, implodierte nach der heißen Sommerglut, die sich durch Frankreich nach dem Mord an Nahel fraß, alles so urplötzlich das ich immer noch fassungslos davor stehe. Das Schlimmste aber ist, dass sich ein Schweigen über diesen Stillstand gelegt hat, niemand diese plötzliche Agonie thematisiert und versucht, eine Antwort oder zumindest eine Erklärung dafür zu finden. Und wie gerne würde ich mich darüber mit dir austauschen, denn das haben wir ja beide ja all die letzten Jahre getan, uns ständig geschrieben dazu was los ist oder auch nicht, wie wir das sehen und einschätzen, fragmentarisch und unvollständig, sicherlich, aber nun ist das nicht mehr möglich und ich realisiere erst jetzt wirklich, wie wichtig und wertvoll mir das war. Und was mir auch fehlt, ist deine Weigerung, sich dem allgemeinen Determinismus zu unterwerfen, diesem Hang zur selbstzerfleischenen Ohnmachtshaltung, deine Weigerung, sich keinen revolutionären Horizont vorzustellen. Die meisten haben Dich bestimmt für einen geschichtlich depressiven Intellektuellen im Elfenbeinturm gehalten, aber Du hast den Sound der Straße und den ganz eigenen Geruch der Eckpinte geliebt, da wo das Leben dreckig und oftmals auch elendig ist, aber auch immer voller Träume und Sehnsüchte, und seien sie im Rausch. Deshalb das Glühen für die Gilets Jaunes und die Rache des Surplus Proletariats an Silvester in Berlin. Deshalb hast du dafür gesorgt, dass Clovers Riot.Strike.Riot auf deutsch erschien, um diese Leidenschaft analytisch zu untermauern, sich die theoretischen Waffen anzueignen, um auf der Höhe der Zeit eine revolutionäre Theorie zu entwickeln. Ich habe dein „Ekstase der Spekulation” viele mal angefangen und bin immer wieder gescheitert. (was nun wirklich ausschließlich an mir liegt). Aber was man wirklich verstehen muss, ist, dass das nicht nicht die Ergüsse irgendeines Intellektuellen sind, der sicher versorgt an der Uni langweilige Vorträge hält und nebenbei überflüssige Schriften verfasst, sondern die leidenschaftlichen Überlegungen eines Menschen, der nun mal das tat, was er am besten konnte und sich dabei treu blieb und sich immer weigerte, sich in irgendeiner Art und Weise zu arrangieren. Deshalb all dein Schmerz und deine Einsamkeit, denn wer konnte schon auf deinem Niveau mit dir mithalten. Manche Begabungen machen uns ganz schön einsam.
Aber ich wollte Dir ja noch mehr von dem berichten, was seit deinem Tod alles passiert ist, aber damit werde ich im nächsten Brief fortfahren, denn nun muss ich über Dinge nachdenken, die mir gerade beim Schreiben eingefallen sind und dazu werde ich einen auf dich trinken gehen, mein Freund.
Bis bald,
dein Thomas