The Long Goodbye – Umrisse

„Also muss man dahin gehen, wohin sie einem nicht folgen können.“ 

Raymond Chandler


Mein lieber Achim, nun also, wie angekündigt, mein zweiter Brief an Dich – ein Jahr nachdem Du uns verlassen hast. Es war ein schlechtes Jahr, denn nicht nur der Herbst war bitter, wie ich Dir schon im ersten Brief geschrieben habe, auch der Winter war lang und grau, und selbst das migrantische Surplus Proletariat ließ zu Silvester in Berlin nur die Sektkorken knallen. Der Frühling war ein gebrochenes Versprechen auf bessere Zeiten und nun, da sich der verregnete Sommer dem Ende zuneigt, haben wir ein ganzes Jahr verloren, ohne dass wir einen Schritt weiter wären. Ich hatte gehofft, Dir heute ein paar aufmunternde Zeilen schreiben zu können, denn für den 10.September hatten sie in Frankreich für ein “Alles blockieren” getrommelt, und es gab einen riesigen Hype, nicht nur auf den einschlägigen Seiten in Frankreich, sogar in der intellektuellen Grundversorgung der anspruchslosen deutschen Denker und Dichter, dem Deutschlandfunk, war das ganze Thema. Aber da sich dem diffusen Aufruf in den sozialen Netzwerken schnell die üblichen Verdächtigen angeschlossen hatten, von “Les Soulèvements de la Terre” bis hin zu “La France insoumise” und in den Versammlungen schnell die Milieus das große Wort führten, hatte ich irgendwie schon befürchtet, dass die ganze Nummer eine Sackgasse sein würde. Und so kam es dann auch. Einige hübsch anzuschauende Materialblockaden am frühen Morgen auf einigen wichtigen Straßen, danach folgten dann aber nur die gleichen Aufmärsche, wie sie die Gewerkschaften seit Jahrzehnten veranstalten. Ein bißchen Tränengasfolklore, jede Menge Prügel durch die Bullen und natürlich kein “unreiner Aufstand”, sondern allerorten “Siamo Tutti Antifascisti” und viel Ohnmacht und Perspektivlosigkeit. Ob es nun eine viertel oder ein halbe Million auf den Straßen waren, spielt da keine Rolle, der “Sieg” der “Volksfront” gegen Le Pen bei den Wahlen, die Mobilisierung gegen das “große Übel”, hat den Diskurs dort auf das Niveau runter gebrochen, wo wir in Deutschland mit “Wir sind mehr” schon länger sind. Also keine Gilets Jaunes 2.0 wie es viele schon herbeischrieben. Keine Bullen, die durch die Straßen gejagt wurden, keine geplünderten Luxusläden, keine maßlose Wut, keine Raserei, kein Excess. Und seitdem Schweigen.

Das Schweigen. Das gleiche Schweigen, das sich überall ausbreitet. Kein Schweigen, das Stille bedeutet, Einkehr und Reflexion, sich sammeln und fokussieren, sondern ein riesiges Vakuum, das alles aufsaugt und über das niemand redet. Denn wenn geredet wird, so über alles außer das Eigentliche. Das war etwas, was ich auch an Dir so geschätzt habe, dass Du immer um Wörter, um eine Begrifflichkeit gerungen hast, selbst in den dunkelsten Stunden unseres politischen Seins. Gegen die Mauer andenken, das Aussprechen, was notwendig ist, scheiß drauf was andere davon halten. Ich glaube, eine neue Generation (im Westen) ist mittlerweile zu großen Teilen so sehr in ihren selbstreferentiellen Gedankengebäuden, Codes und Blasen gefangen, dass sie sich kein Jenseits davon überhaupt vorstellen können. Sofern sie sich nicht eh schon in ihrer ewigen Opferrolle und Ohnmacht eingerichtet haben, ich meine in Deutschland veranstalten die Zero Covid Apologeten bezeichnenderweise “Klima-Kollaps-Camps”, in denen die Kleinbürger sich fest an den Händen halten und vor lauter Empowerment tränenreich ihre Neurosen pflegen. Eine Welt, die als verloren proklamiert wird und nicht als eine Welt, die es zu gewinnen gilt. Wo soll der revolutionäre Horizont auch herkommen, wenn jegliches geschichtliches Erbe des historischen Materialismus entsorgt wird, oder als Pappmache Replikat der neuen K-Gruppen daherkommt. Und wieder dieses Schweigen, über diese Zumutung, über die objektiv konterrevolutionäre Funktion dieser Seelensammler, von den Resten der sich selbst überlebten IL und Ums Ganze über die Letzte Generation bis hin zu dieser Klima-Kollaps-Bewegung, die nun, nebenbei, alles, nur keine Bewegung ist. 

In Nepal haben sie bei den jüngsten Protesten der Generation Z (auch so eine Endzeit-Metapher) einfach mal reingehalten und zwei Dutzend Menschen abgeknallt. Am nächsten Tag haben im ganzen Land die Villen der politischen Elite gebrannt, der Sitz des PM gleich mit. Aberdutzende von Bullen wurden gefangengenommen, ihre Wachen zerstört, politische Führer wurden durch die Straßen gejagt, ein paar konnten sich noch per Hubschrauber von den Dächern ihrer belagerten Gebäude evakuieren lassen. Saigon Vibes. Die unmittelbare Reaktion, es brauchte keine Aufrufe, kein Programm, nur die Wahl – Es geschehen zu lassen – Oder zurückzuschlagen. Der Sommer in Frankreich nach dem Mord an Nahel, die Parallelen sind so offentsichtlich. “Die historische Partei agiert selbst auf einer Ebene, die am besten als Unterbewusstsein der Klasse beschrieben werden kann“ schrieb jüngst Phil A. Neel in “Theorie der Partei”. Ein Text, den hierzulande bezeichnenderweise fast niemand wahrnehmen wird, geschweige denn sich darauf beziehen. Ich hätte ihn gerne mit Dir diskutiert. Die Enteignung, die der Existenz des Proletariats zugrunde liegt und sich in den alltäglichen Existenzkämpfen zeigt, sowie die Möglichkeit der proletarischen Macht, die sich in den politischen Exzessen des ‘Ereignisses’ manifestiert, verbinden sich zu einem potenziellen, virtuellen oder spektralen Bild des Kommunismus, das aufgrund einer Kombination aus Umständen und Temperament für bestimmte Beteiligte sichtbar ist, für andere jedoch nicht.”“Aus dem gleichen Grund öffnen Ereignisse direkt eine bestimmte Dimension des Absoluten und verbinden Aufstände aus sehr unterschiedlichen Zeiten und Orten zu derselben Ewigkeit, die selbst eine Reflexion der potenziellen kommunistischen Zukunft in der Gegenwart ist.” (ebd.) Wir hätten die Folien übereinander legen können, Neel, Clover, Quadrelli, die ersten Umrisse einer revolutionären Theorie auf der Höhe der Zeit und auf der Grundlage der realen Klassenkämpfe. Vielleicht ein paar Veranstaltungen dazu organisiert. Aber Du bist nicht mehr da. Trauer ist ein komplexer Prozess, so heißt es. Und da wir beide immer getrieben das Leben verstehen mußten (und weiter müssen, in meinem Fall), sei es im Getümmel der Straßenschlacht oder bei der letzten Runde im Eck, schreibe ich auch, um zu verstehen, was ich damit anfangen soll, dass Du nicht mehr da bist. Dass Du ein Stück meiner (uneingestandenen) Hoffnungen und Sehnsüchte mit Dir genommen hast. Dass das alles so endlich ist. Dass dein Tod eine Mauer ist, gegen die ich nicht andenken kann. Kurz gesagt, ich vermisse Dich wie Hölle. Vielleicht besuchst Du mich ja mal in meinen Träumen und hilfst mir diese ganzen Fragmente, die durch meinen Kopf geistern, zu ordnen. Denn Du warst von uns beiden eindeutig der besser Organisierte, was das Denken und Verstehen angeht. 

Ich lasse wieder von mir hören, 

dein Thomas