Nichts ist widerlicher, als wenn das Pech in Strähnen kommt
Der lange Abschied, Raymond Chandler
Nun also ein Jahr ohne Dich. Einsam bist Du gestorben, man sagt, wir alle sterben alleine, aber ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Wahrscheinlich hat es einen Trost, wenn jemand unsere Hand hält, wenn wir diese unbekannte Reiseroute in Angriff nehmen. Vielleicht spielt es auch nicht wirklich eine Rolle bei all dem Gewitter an Botenstoffen, die unser Gehirn fluten. Ich hätte es Dir auf jeden Fall gewünscht, dass jemand bei Dir gewesen wäre, auch wenn ich nicht weiß, ob das Deine Wahl gewesen wäre. Ich habe nochmal in unserem Chat geschaut, unser letzter Austausch handelte von der Veranstaltung zur Geschichte des bewaffneten Kampfes in Kreuzberg, bei der Dellwo auch war und Dir wohl hinterher davon erzählt hat. Dann habe ich wochenlang nichts von Dir gehört, was ungewöhnlich war, dann mein letzter Anruf, der Dich nicht erreicht hat. Worüber hätten wir geredet? Keine Ahnung, unsere Kommunikation war immer sehr sprunghaft, das hatte wohl mit uns beiden zu tun. Nun müssen meine einsam zu Papier gebrachten Worte unseren Austausch ersetzen, und das ist nicht annähernd das Gleiche. Häufig ist alleine die Möglichkeit des Austausches das Entscheidende und gar nicht die gewechselten Wörter, die Reflexion, die Spiegelung des Gedachten durch einen Freund, einen Genossen, allein die Vorstellung davon, verleiht unseren Worten erst jene Schärfe, der jegliche revolutionäre Syntax bedarf.
“muss man das noch auswalzen? dass die isolation das politische kernproblem der revolutionären linken ist, überall, auf allen ebenen, in jedem einzelnen, im ganzen und allgemeinen.” Gudrun Ensslin, Kassiber Juni 1973
Schon irre, obwohl sich diese politische und menschliche Nähe zu den ‘brothers and sisters in arms’ durch unser beider Leben zieht, gezogen hat, haben wir ausgerechnet darüber fast nie geredet. Vielleicht weil es für uns beide eine Selbstverständlichkeit war, auch wenn wir andere politische Wege gegangen sind…
Nun, um den Faden der beiden letzten Briefe an Dich aufzugreifen, ich wollte Dir ja berichten, was in dem Jahr so passiert ist, seitdem Du nicht mehr bei uns bist. Daniela hält sich tapfer in dem Mammutprozess gegen sie, auch wenn die anfängliche Unterstützung fast gänzlich eingeschlafen ist. Klar schmücken sich die trotzkistischen Hobby-Revolutionäre des 1. Mai in Berlin mit dem Glanz eines verlesenen Grußwortes von ihr, aber ganz praktisch sieht es sehr mau aus. Ein kleiner Kreis, der regelmäßig Infos streut, ab und zu eine eher überschaubare Veranstaltung, zu der breit beworbenen Demo im Februar in Berlin sind gerade mal 200 Leute gekommen, die dann als Gefangenentransport mit gesenkten Kopf durch die Straßen zogen. Burkhard Garweg hat dann im März eine Reflexion von 70 Seiten zur Geschichte der drei Buchstaben veröffentlicht, aber vom medialen Reflux in den bürgerlichen Medien abgesehen kamen nur einige ganz wenige Stellungnahmen von Genoss*innen dazu. Auch da wieder das Schweigen, dieses verfluchte Schweigen, das so laut in den Ohren nachhallt, dass man direkt einen Tinnitus davon bekommt. Ich frage mich, wie die Leute alle so mit diesem Piepen im Ohr klar kommen, aber wahrscheinlich ballern sich die meisten mit allem möglichen Schrott von Tinder bis TikTok zu, damit sie sich mit diesem Schweigen nicht auseinandersetzen müssen. Meine Briefe an Dich, die ja öffentliche Briefe sind, sind vielleicht auch mein Versuch, mit diesem Schweigen umzugehen, es zur Sprache zu bringen, wer will kann dann ja mal darüber nachdenken, obwohl ich da seit der freiwilligen Unterwerfung der ganzen linken, anarchistischen und sonstwas Blase unter den Corona Ausnahmezustand hierzulande eigentlich nichts erwarte. Es waren wenige, die sich in offener Feindschaft dazu positionierten, und ich weiß, auch du musstest viel an Zumutungen und mit Dreck beworfen werden aushalten in dieser Zeit. Schon irre, dass die alle einfach so weitermachen, als wenn es das alles gar nicht gegeben hätte. Na ja, etwas ist ja dran am spezifisch deutschen, und diesem Hang zur grenzenlosen Generalamnesie.
Doch kommen wir zu erfreulicheren Dingen. Ich hatte Dir ja im letzten Brief von der Tristesse des antagonistischen Lagers in den Metropolen geschrieben, aber man muss das schon differenzieren, es ist vor allem eine Tristesse die sich in den Wohlstandsinseln breit gemacht hat, wenn man von dem wunderbaren Feuer des Aufruhrs in Los Angeles gegen die Razzien von ICE gegen die Latino Community im Juni absieht. Aber diese Revolte ging eben von der Community selbst aus, die brauchten nicht dieses ganze ‘Lass-uns-vernetzen-und organisieren’ Gehabe der Linken und Anarchisten. Die waren einfach schon vernetzt und organisiert. Durch ihren sozialen Alltag und ihre sozialen Beziehungen. Jede Bewegung des Gegners wurde in Echtzeit in den Chats bei Whatsapp und Co geteilt, die Bullen wurden sofort und unmittelbar angegangen, um ihre rassistische Praxis zu verunmöglichen, häufig mussten sie sich dann in einem Hagel von Wurfgeschossen zurückziehen. Als die Linken und Anarchisten dann draufsattelten und einen ‘langen, heißen Sommer’ proklamierten (das wievielte, gebrochene ‘große Versprechen’?) war der Drops eigentlich schon gelutscht. Die alte Geschichte, wirkliche Bündnisse entstehen unmittelbar aus einer geteilten sozialen/militanten Realität und nicht durch Proklamation.
Doch verlassen wir die Tristesse der Metropole. Kommen wir zu den sozialen Explosionen der Peripherie, einem realen ‘heißen Sommer’. Schwerste Unruhen in Indonesien, nachdem die Bullen einen Lieferkurier während einer Demonstration mit einem gepanzerten Wagen tot gefahren hatten. Hunderttausende auf den Straßen, Bullenwachen und die Villen der politischen Elite brennen. Nur eine Woche später explodiert die Situation in Nepal, nach einem Massaker durch Schusswaffeneinsatz der Bullen bei einer Demo werden auch hier die Bullenreviere und Villen der politisch Verantwortlichen geplündert und niedergebrannt, ebenso der Präsidentenpalast. Die nihilistischen Aufstände des 21. Jahrhunderts verweigern sich der Versuchung, Machtzentren zu erstürmen, um diese zu übernehmen, die grundsätzliche Negierung der Repräsentanz lässt nur das Feuer als Perspektive gelten. Wieder eine Woche später: In Ecuador finden landesweiten Blockaden und Demonstrationen statt, es kommt zu massiven Auseinandersetzungen mit den Bullen. Auslöser ist die Abschaffung der Subventionierung von Diesel, was massive Preiserhöhungen für Güter des täglichen Lebens bedeutet. Heute wurde ein sechzigtägiger (!) Ausnahmezustand für acht Provinzen, darunter die Hauptstadtprovinz, verhängt, um die Revolte einzudämmen. Auf dem Malaiischen Archipel springt Mitte September der Funke auf Osttimor über. Dreitägige Proteste und Unruhen, nachdem sich die Parlamentarier neue Dienstwagen und höhere Pensionen gegönnt hatten. Mehr als die Hälfte der Menschen leben in bitterster Armut, jeder zweite hat nicht einmal Zugang zu Elektrizität.
Du siehst – mein alter marxistischer Freund: “Brav gewühlt, alter Maulwurf”. Kommen wir an dieser Stelle und am wohl letzten Sommerabend hier in dieser Stadt also zum Epilog meiner Briefe an Dich.
Vielleicht könnte man die derzeitige weltweite Situation mit Lin Piao begreifen: „Sich auf die Bauern verlassen, Stützpunkte auf dem Lande errichten, die Städte durch die Dörfer einkreisen und schließlich die Städte erobern: das war der Weg zum Sieg, den die chinesische Revolution einschlug.“ Ohne den Maoismus wieder aufleben zu lassen (das tun tatsächlich schon andere, sic) sehe ich eine gewisse geschichtliche Analogie. Während sich in den Metropolen die kapitalistische Krise in der allgemeinen Tendenz zum Krieg und in der faschistischen Option ausdrückt, die Klasse gefangen zwischen Unorganisiertheit und Abwehrkämpfen – und – zunehmend gespalten in Zuge der allgemeinen identitären Polarisierungen, ist, werden Revolten fast ausschließlich von rassistisch ausgegrenzten prekarisierten Minderheiten getragen, was ihre Begrenzungen implementiert – während sich in der Peripherie die Tendenz des Non verstetigt. “Ein wütender Aufstand von Jugendlichen, ausgelöst durch steigende Steuern und ein repressives Militär. Es gibt keine Organisation. Die Anführer der Revolte sind junge Anarchisten, Nihilisten und unkontrollierbare Kräfte.” – So schreiben Gefährten aus Indonesien. Es gibt nur noch Revolution und Konterrevolution, diese kann ebenso als wirtschafts-libertäre Kraft wie in Argentinien oder als reformistisches Projekt wie in Chile auftreten. Im Kern aber können beide Optionen kein langfristiges Projekt zur Befriedung der explodierenden sozialen Widersprüche anbieten. Die Unterdrückten in der Peripherie haben die Aufstände und Niederlagen der letzten 10,15 Jahre sehr genau verstanden, das macht jede Option jenseits des revolutionären Horizonts obsolet. Was als Option bleibt, ist das Militär auf den Straßen, wie jetzt auch in Indonesien und Nepal. Aber das bürgt als Herrschaftsmittel enorme Risiken, in der revolutionären Zuspitzung neigen Truppenteile historisch gesehen zur Fraternisierung mit den Aufständischen, insofern sind die wirklichen Begrenzungen der Aufstände in der Peripherie die Landesgrenzen, die nationalen Begrenzungen. Wenn es gelingt, die Aufstände in wirkliche regionale Bewegungen zu überführen, wird das nächste geschichtliche Kapitel aufgeschlagen, und die “Dörfer fangen an, die Städte einzukreisen”. Von da aus gilt es dann weiter zu denken und zu schauen. Was das für uns hier heißt, wie der revolutionäre Horizont in der Metropole wieder aufgezeichnet werden kann. Gegen den allgemeinen Defätismus, gegen die selbstverordnete Ohnmacht und Machtlosigkeit. Geschichte ist immer ein offener Prozess, selbst im Endgame des Kapitalismus, wem sage ich das, mein Lieber…
So weit für heute mein lieber Achim. Danke im Voraus für deine Geduld für meine mäandernden fragmentarischen Überlegungen. Es gäbe so vieles, was ich Dich gerne fragen würde, wo ich deinen Rat bräuchte, aber nun muss ich schauen, wie ich ohne Dich weiter komme mit unserem nächsten Sturm auf den Himmel. Ich schreibe Dir in einem Jahr wieder, so die Umstände es gestatten.
Dein Thomas