
Der Ausgangspunkt folgender Überlegungen ist der Quantenphysik entliehen und wie folgt kurz zusammengefasst: Es gibt kleine Teilchen, die sich an mehreren Orten gleichzeitig befinden oder trotz weiter Entfernungen und bewiesener Unmöglichkeit Signale auszutauschen, miteinander agieren, wobei z.B. ihre Entfernung voneinander Lichtjahre betragen kann und sie trotzdem zeitgleich reagieren und sie somit gegen einige von Einsteins Gesetzmäßigkeiten verstoßen (z.B. die maximal denkbare Geschwindigkeit), weshalb er noch spöttisch von „spukhafter Fernwirkung“ sprach. Diese ‘Nichtlokalität’ oder ‘Verschränkung’, die Tatsache, dass diese real getrennten Teilchen (in diversen Versuchsanordnungen nachgewiesen) messbar interagieren, bzw. gleichzeitig verschiedene Koordinaten im Raum besetzen, beschäftigt die Quantenphysik seit langem wie kaum ein anderes Phänomen. Wir können uns diese Beobachtungen zunutze machen, wenn wir über die derzeitigen Fragestellungen der revolutionären Galaxie nachdenken. Fast alle bisherigen Theorien oder analytischen Beschreibungen der weltweiten Aufstände und revolutionären Bewegungen der letzten 60 Jahre haben in Fronten, Erweiterungen von Raumgewinnen, in staatlicher oder regionaler, auf jeden Fall territorialer Begrenzung gedacht. Die “linke” Dominotheorie, die z.B. benutzt wurde, um die Kämpfe in Mittelamerika Ende der 70er, Anfang der 80er zu beschreiben: nach Nicaragua fällt El Salvador, Guatemala und so weiter, machte sich die gleiche Vorstellungswelt von Machteroberung zu eigen, wie die “rechte” Dominotheorie: Erst fällt Kuba, dann… Die einen finanzierten die Schweinebucht und die Kontra in Nicaragua, die anderen sammelten Geld für “Waffen für El Salvador”. Im Grunde wiederholte sich im Niedergang des Ansturms von 68, der der erste aussichtsreiche Ansturm seit 1917 war, immer wieder die gleiche Erzählung. Der globale Süden befreit sich sukzessive und kreist die Metropolen ein, hier gilt es “im Herzen der Bestie” die revolutionäre Fackel trotz aller Begrenzungen zu tragen, in der Zuspitzung auch als militante, bewaffnete Intervention. Je nach politischer-ideologischer Präferenz waren dabei die staatskapitalistischen Staaten Verbündete, Feind des Feindes, Transitland oder logistischer Partner bis hinein in die Zusammenarbeit mit dem MfS hierzulande.
Auch nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes änderte sich zunächst wenig, die Anti-Globalisierungsbewegung war auch nur alter Wein in neuen Schläuchen, lediglich Negris schräge Vorstellungen einer Multitude sprengte die üblichen Konzepte, wobei dieser Raumgewinn wahrlich nicht als revolutionärer Expansionismus interpretiert werden konnte und dabei ist nicht nur die taktische Niedertracht der Tute Bianche gemeint. Selbst die jüngste Theoriebildung um die “Non-Bewegungen” und Clovers Riot.Strike.Riot bleibt bei aller lobenswerter Aktualisierung revolutionärer Vorstellungswelten verhaftet im territorialen Denken. Selbst die “Nicht-Orte” bleiben Orte, der Kreisverkehr der Gilets Jaunes ist ebenso eine territoriale Kategorie wie die “Nicht-Orte” der urbanen Peripherie, die Banlieues ebenso wie die Slums von Medellin oder Johannesburg. Der “revolutionäre Kipppunkt”, der revolutionäre Horizont, bleiben ebenso unsichtbar wie unerreichbar, weil sie gar nicht erst vorstellbar sind, wenn am Ende alles nur auf die Addition von “Geländegewinnen” hinausläuft. Die Gilets Jaunes konnten in einem Überraschungsangriff in die noblen Innenstadtviertel von Paris eindringen und dort einen hohen Sachschaden in Millionenhöhe und eine “traumatisierte” Bourgeoisie hinterlassen, die Rächer von Nahel Marzouk konnten den Sachschaden des Mai 68 und der Gilets Jaunes um ein vielfaches potenzieren (der französische Arbeitgeberverband sprach von über 1 Milliarde ! Schäden und Verlusten), am Ende bleibt immer nur der finale taktische Rückzug, weil auf dem Terrain der Territorialität dem Gegner nicht wirklich Paroli geboten werden kann. Die Riots gegen die Totalität des Corona Ausnahmezustandes blieben ebenso Strohfeuer wie die Erhebungen der letzten 3 Jahre, die sich über den halben lateinamerikanischen Kontinent, größere Teile Afrikas bis in asiatischen Raum ausweiteten, weil sie nicht in der Lage waren, sich sich selbst in anderen Kategorien als den Begrenzungen der territorialen Auseinandersetzung vorzustellen.
Vielleicht geht es aber gar nicht darum, sich den revolutionären Horizont, den “revolutionären Kipppunkt” als eine strategischen “Zugewinn” vorzustellen, als ein Machtverhältnis, das in den bekannten Kategorien des sozialen Antagonismus beschrieben wird. Vielleicht ist die Unbestimmtheit der “Orte des Konfliktes”, dieses ständige “Flippern”, der schnelle, atemlose Wechsel der Schauplätze, die unerklärbare Zeitgleichheit von Geschehnissen, die eigentliche Dynamik, vielleicht spielt sich vor unser aller Augen eine grundlegende Unterminierung dessen ab, was diesen Todeskolloss noch auf den Beinen hält. “Die größte List des Teufels besteht bekanntlich darin, den Menschen glauben zu machen, dass es ihn nicht gäbe”. Man könnte die allgemeine “Tendenz zum Krieg” nicht als omnipotente Geste des Kapitalismus interpretieren, sondern als verzweifelte Fluchtbewegung angesichts fallender Profitraten und multipler Verwertungskrisen. Schon jetzt sind die “Superreichen” dieser Welt im Dauerkrisenmodus: Nur noch ein Drittel des Vermögens wird reinvestiert, der Rest fließt in Exit-Strategien und dauerhafte, vermeintlich krisensichere Geldanlagen. Das System will uns glauben machen, es sei unantastbarer als jemals zuvor und wir niemals so ohnmächtig gewesen seit den Zeiten der französischen Revolution. Unaufhörlich prasseln im medialen Dauerfeuer “die Krisen” auf die Menschen ein, die Linke und die Umweltbewegung feuern aus allen Rohren mit – Endzeitstimmung soll Handlungsunfähigkeit, innere Immigration, Ohnmachtsgefühle, Hoffnungslosigkeit, Depression und Rückzug auslösen, vor den Faschisten rettet uns nur die “demokratische Erzählung”, die es zu verteidigen gäbe, in Wirklichkeit stehen aber sie und ihr System mit dem Rücken zur Wand. Die größte List des Kapitalismus besteht darin, den Menschen glauben zu machen, dass er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befände.
In Wirklichkeit steckt er in seiner größten Krise, all seine Erzählungen von Wohlstand und ehrlicher Arbeit, von Wachstum und Sicherheit sind auserzählt, die Superrechner, die das große technologische Wunder vollbringen sollen, um das Ruder noch rumzureißen, werden einen Strombedarf haben, dass in manchen Regionen der Welt Atomkraftwerke in einer Dichte entstehen müssten wie heutzutage die Windräder in den ländlichen Regionen Brandenburgs. Wir aber sollten uns auf uns besinnen. Wir sollten verstehen, dass die eigentliche revolutionäre Aufgabe der Epoche ist, jeden entstehenden Konflikt sofort zu generalisieren und zu eskalieren. Die jüngsten Gen Z Aufstände haben es uns vorgemacht. Die Proteste und Demonstrationen gelten nur der Sammlung, auf die unvermeidliche Repression folgt der sofortige Rachefeldzug, schnell und unmittelbar wird zurückgeschlagen, Parteizentralen, Polizeizentralen, die Villen der Verantwortlichen, ihre Banken und Unternehmen gehen in Flammen auf. Es geht nur darum als Teilchen überall unvermittelt aufzutauchen, nicht vorhersehbar, immer in Gleichklang mit den anderen Teilchen, jede Bewegung eines Teilchens führt zur sofortigen Mobilisierung eines anderen Teilchens an einem ganz anderen Ort der Welt. Was hat Osttimor mit Marokko zu tun, wieso brennt es auf einmal zeitgleich in Ecuador? Die ‘Verschränkung’ der Teilchen beruht nicht auf dem Austausch von Signalen, von Informationen, sie agieren aber synchron und tauchen an unvorhersehbaren Orten auf. Diese ‘Verschränkung’ kann nicht wirklich “künstlich” reproduziert werden, nur Annäherungen sind möglich, gehen aber mit massiven Verzerrungen und “Leistungsverlusten” einher. Die neue Generation der Aufstände entziehen sich jeglicher Aufstandskontrolle. Sie gehorchen nur ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und niemand kann ihren Quellcode entschlüsseln. Sie gehören nur sich selbst. Sie schreiben Geschichte, auf ihre eigene Art und Weise. Deshalb können sie weder von Avantgarden kontrolliert noch von Geheimdiensten unterwandert werden. Sie täuschen mit ihrem Anime Habitus sowohl das System wie auch die dumme Linke. Sie sind die neuen Sternschnuppen an unserem Horizont. Und vielleicht vollziehen sie gerade eine Kurskorrektur im Sonnenschatten, unsichtbar für alle Satelliten und Teleskope der Macht.
