In meinem Garten, in meinem Garten

Zusätzlich zu den üblichen tausend Bullen, die in Berlin zu Silvester auf den Straßen unterwegs sind, werden also auch dieses Jahr über 3000 zusätzliche Kräfte aus dem gesamten Bundesgebiet in die Hauptstadt geordert, zusätzliche Verbotszonen für das Abbrennen von Pyrotechnik, die diesmal “flexibel überwacht” werden sollen, um mehr Kräfte zum spontanen Verlegen zur Verfügung zu haben. Dazu das übliche Paket: “Gefährderansprache”, “Hausbesuche” bei den vermeintlichen „Delinquenten“, das ganze “Präventionsprogramm” (so konnte z.B. beobachtet werden, dass Jugendzentren in Neukölln in den letzten Jahren zu Silvester mitten in der Nacht geöffnet hatten, um “kritische Massen” an den Orten zu binden, während sonst die Jugend – und Sozialarbeit unter den Kürzungswellen des Berliner Senats ächzt (allein im Haushalt 2025 50 Millionen).

Die von den Bullen nicht zu kontrollierenden Ausschreitungen zum Jahreswechsel 22/23 sitzen der politischen Klasse noch immer im Nacken, in großen Teilen des Stadtgebiets wurden Barrikaden errichtet und zum Teil angezündet, die Bullen selbst wurden in den diversen proletarischen Quartieren zum Ziel zahlloser Attacken, Schwerpunkte waren auch sonst völlig “unauffällige” Großsiedlungen wie die Gropiusstadt im südlichen Neukölln oder die Themometersiedlung im südlichen Lichterfelde. (Zu den Geschehnissen der Nacht siehe ‘Berlin grüsst Athena’)  

Die massive Repression, die Bullen Armada zum Jahreswechsel (inklusive medialer Begleitochestrierung), muss im selben Kontext wie die vom Bundeskanzler angestoßene “Stadtbild-Debatte” verstanden und eingeordnet werden. Es handelt sich dabei mitnichten “nur” um eine rassistische Ausgrenzung im Zuge der Faschisierungstendenzen in Teilen des Staatsapparates und der Gesellschaft, sondern sie muss verstanden werden im globalen Kontext der Offensive gegen die ‘überflüssigen” Teilen des Proletariats, die für den Verwertungsprozess nicht mehr von Bedeutung sind und die sich in verzweifelten Revolten zu behaupten versuchen. In dem Maße, wie die Prekarisierung immer größere Teile des Proletariats erfasst, im Zuge der Schleifung der noch existierenden industriellen Produktionsbereiche in den westlichen Zentren selbst bekommen die instinktiven und unmittelbaren Revolten des Surplus Proletariats eine strategische Bedeutung, die Konfliktualität spielt sich nicht mehr ausschließlich “am Rande der Gesellschaft” ab, sondern strahlt in den Kern der gesellschaftlichen Zusammensetzung selbst aus.

“Wir sind keine Soziologen, aber es ist klar, dass sich ein Teil des so genannten desintegrierten Proletariats bewegt hat, das Proletariat ohne Reserven, das nur Ketten zu zerstören hat. Angesichts dieser Explosion proletarischer Gewalt ist es sinnlos zu sagen, dass die Polizei scheiße ist, oder zu sagen, dass die Jugend der Vorstädte der hauptsächliche Teil des neuen Arbeitersubjekts und des Proletariats ist… jeder weiß das sehr gut, aber das Problem ist nicht das, sondern die ganze Macht, die im neuen Arbeitersubjekt liegt, in eine politisch-militärische Kraft zu verwandeln!”

Emilio Quadrelli und Lidia Triossi in ‘Athena auf Erden’ über die Unruhen nach dem Mord an Nahel im Sommer 2024 in Frankreich

So schwierig es ist, in den konkreten Kämpfen vor Ort WIRKLICH zusammen zu kommen, eine Erfahrung die in den letzten Jahren ebenso in Berlin gemacht wurde wie es auch französische Gefährten berichten, weil zusammenkommen eben nicht heisst nebeneinander am gleichen Ort Steine auf die Bullen zu werden. (Das mag manchmal sogar möglich sein, denken wir an den Riot vor dem Gericht von Bobigny 2017, wo Antifas aus dem Zentrum von Paris Seite mit den Jugendlichen aus den Vororten kämpften, oder die Beteiligung von “Autonomen” an den Riots in der Stuttgarter Innenstadt im Sommer 2020, was später zu einem, leider völlig unpolitisch geführten, Gerichtsverfahren führte.)

Zusammenzukommen bedeutet zwangsläufig mehr, als bei einer Action am gleichen Ort zu sein. Es bedeutet auch nicht sich wie die neotrotzkistischen und neoleninistischen Sekten auf Beutefang im Kontext der Palästina-Aktionen oder der “revolutionären 1. Mai Demo” zu begeben um aktionsbereite subproletarische Gruppen oder Grüppchen für kurzfristige Aktionsbündnisse “abzufischen”. Erstens, weil es sich immer um ein funktionales Verhältnis im Dienste der “größeren Sache” handelt, etwas was diese Neosozialisten wirklich nicht erfunden haben, man denke nur an die kruden Aufmärsche der MLPD, die aufgepimpt durch sechsstellige Spenden von “Millionärserben”, im Gefolge der Proteste gegen die sogenannten Hartz-Reformen regelmäßig tausende von “Betroffenen” nach Berlin karten, wo sie in unglaublich traurigen Prozessionen durch das am Wochenende ausgestorbenen Regierungsviertel zogen. Und zweitens, weil es sich in der Regel, von sich daraus ergebenden längerfristigen persönlichen Verbundenheiten abgesehen, immer nur um zeitlich sehr begrenzte “Bündnisse” handelt. Ein Schicksal, das auch das “Bündnis” von den Freunden und der Familie von ‘Jockel’ mit Berliner Autonomen befiel. ‘Jockel’ war am Silvesternachmittag 2008 von Zivilfahndern in der Nähe von Berlin, unbewaffnet in seinem Auto regelrecht hingerichtet worden. In der Folge kam es zu einigen militanten Demos und nächtlichen Angriffen auf Polizei Institutionen in Berlin. Aber nach einigen Monaten waren da nur einige wenige neue Freundschaften übrig geblieben, aber nichts, worauf man eine militante Theorie oder Praxis aufbauen konnte. 

Wie aber könnte hier etwas wirklich zusammenkommen? Etwas, was von Langfristigkeit und ausbleibender Funktionalität im Verhältnis zueinander geprägt ist. 

Zuerst heisst das wohl: “Schuster bleib bei deinen Leisten”. Das (überwiegend, aber nicht ausschließlich) migrantische Surplus Proletariat braucht für seine Revolten keine “politischen Aktivisten“. Das hat es sowohl mit seinen Revolten gegen den Corona-Ausnahmezustand als auch mit den Riots zum Jahreswechsel 22/23 bewiesen, die alles in den Schatten stellten, was die Hauptstadt Szene in der letzten Dekade auf die Beine stellte, einschließlich der recht erfolgreichen Mobilisierungen zu den Räumungen von Liebig 34 und Köpi-Wagenplatz. Die “politischen Aktivisten” sind, unabhängig ihrer subjektiven Klassenherkunft, eben in erster Linie nicht Teil dieser Revolten, sondern in erster Linie eben politische “Militante”, die sich primär selbst in ideengeschichtlicher Herkunft definieren. Aber beide teilen das Schicksal der Begrenzung ihrer Horizonte. Das Surplus Proletariat ist ohne ein grundlegendes Bewusstsein, tieferes Verständnis seiner selbst, ohne eine revolutionäre Theorie, nicht in der Lage, den “revolutionären Horizont” und damit den Weg zur Abschaffung seiner selbst, aufzureissen. Die “politischen Militanten” sind ohne eine reale Verankerung im sozialen Körper geradezu zwangsläufig in einer identitären Dauerschleife gefangen, so bewusst sie sich dieser Begrenzung auch sind. 

Um an dieser Stelle von und für uns zu sprechen. Es führt kein Weg daran vorbei, in erster Linie das zu tun, für das wir mit geeigneten Werkzeugen ausgestattet sind. Das zu tun, was früher einmal ‚militante Untersuchung’ hieß, d.h. eine Theorie darüber auszuarbeiten, in welcher Weise, an welchen Orten und Nicht-Orten, in welcher Gestalt, sich der gegenwärtige Klassenantagonismus ausdrückt. Ausgehend von den realen Kämpfen und Revolten, auch und gerade in diesem Land. Wenn wir das bewerkstelligen könnten, hätten wir den rebellischen Segmenten etwas anzubieten. Nicht um sich einzukaufen oder anzubiedern, um die Führung an uns zu reißen, sondern als ehrliche theoretische Unterfütterung dieses rebellischen Prozesses. Was unsere Überlegungen und Analysen taugen, wird sich dann ganz praktisch zeigen. Wie immer. Dabei kann es nicht schaden, auch ganz praktisch an den Orten der Konfliktualität präsent und vielleicht auch handelnd unterwegs zu sein. Um sich ein eigenes Bild zu machen, aber auch um vielleicht auch erste Bekanntschaften zu knüpfen, aus denen später eine echte soziale und politische Komplizenschaft werden könnte. 

Jenseits dieses, zugegeben mühevollen Weges, bleibt uns nur das politische Dahinvegetieren in unseren selbstreferentiellen Blasen. Bleibt uns nur das Schicksal zu teilen mit der historisch sich überlebten Linken, der nur noch Defätismus (Katastrophe, Baby!) und Schulterschluss mit der “aufgeklärten” Fraktionen der Bourgeoisie zur Verteidigung des Status Quo geblieben ist. 

See you in the streets!

Sebastian Lotzer, 13.11.2025