Räumungsblues in Berlin

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben

Hermann Hesse

Der erste Abend im August in Berlin. Dies sind die Abende wo das Licht gelbgülden in die Nacht fällt. Auf einem kleinen Platz im Berliner Bezirk Neukölln haben sich rund um eine Kirche gut tausend Menschen eingefunden. Viele sind ganz in schwarz gekleidet, vielleicht gibt es auch etwas zu betrauern, von etwas Abschied zu nehmen, vielleicht gibt es aber auch noch ganz andere Gründe. Doch bevor wie auf die Motive der Anwesenden zu sprechen kommen, ist es vielleicht an der Zeit, ein wenig über die Vergangenheit des Ortes zu berichten, an dem die folgende Erzählung spielt.

Der Platz und die Kirche liegen im sogenannten Schillerkiez, eigentlich ein Arme-Leute Viertel, in dem bis vor wenigen Jahren die Wohnungen relativ bezahlbar waren, was zum einen daran lag, dass mit der Gegend nicht viel Staat zu machen war und zum anderen die Häuser in der Einflugschneise des mittlerweile stillgelegten Flughafen Tempelhof standen. Doch wenn ein Übel geht, in diesem Fall der Fluglärm, kommt häufig ein anderes. So ist es jedenfalls häufig im Leben der armen Leute.

Doch greifen wir nicht vor. Früher, also richtig früher, war es nämlich nicht so ein Arme-Leute Viertel. Im Gegenteil. Neukölln, dass damals noch Rixdorf hieß, sollte seinen Ruf als bloßer Proletenbezirk loswerden und so baute man entlang der Schillerpromenade schmucke Mehrfamilienhäuser für das Bürgertum und verlegte auf der Promenade sogar echten englischen Rasen. Das nahe Vergnügungsviertel rund um die Hermannstraße, wo jeden Abend, aber vor allem am Wochenende der Bär steppte, lockte zusätzlich besser Betuchte in das Viertel und so entstand ein Stadtquartier in dem für damalige Verhältnisse sensationelle 90% der Wohnungen über Bad und Toilette in der Wohnung verfügten. Den Malochern durfte dann noch der Bauhaus Architekt Bruno Taut in der Oderstraße eine sonnige und luftige Wohnanlage errichten und fertig war das Schmuckkästchen Schillerkiez.

Dann kam der Faschismus und der zweite Weltkrieg, der aber das Viertel weitgehend unzerstört hinterließ. Aber die Besserbetuchten zogen weiter und weg und der Zerfallsprozess der Baustruktur nahm seinen Lauf, was sich erst Anfang der 90iger änderte, als das Viertel zum Sanierungsgebiet erklärt wurde.

Die neuen Linken und die, die man früher die Alternativen nannten, waren schon seit Ende der 60iger im Viertel heimisch geworden, wenn auch die Gegend sowohl für die 68iger als auch für die Hausbesetzer Bewegung Anfang der 80iger keine große Rolle spielte, obwohl ein Stadtteilladen und ein Urgestein der linken Kneipenszene im Kiez schon lange heimisch geworden waren. Doch auf letzteres kommen wir erst später zu sprechen. Noch vor gut zehn Jahren konnte man im Viertel noch jene typische Ansammlung von 4 Proleteneckkneipen an mancher Straßenkreuzung bewundern, wenn auch die Stammkundschaft so langsam ausdünnte. Man lebte im allgemeinen in friedlicher Koexistenz, wenn auch die demonstrativ zu jeder Fußball Weltmeisterschaft heraus gehängten Deutschlandfahnen das gute Verhältnis etwas trübten.

Doch dann verschwanden die Flugzeuge und die Aufwertungspioniere hielten Einzug. Galerien und hippe Lokalitäten entstanden, das obligatorische Quartiersmanagement eröffnete ein Büro, die Mieten fingen an zu steigen und konnten eher von Wohngemeinschaften als von Arbeiterfamilien aufgebracht werden. Farbflaschen und der eine oder andere Pflasterstein fanden ihren Weg an die Fassaden und in die Schaufenster der Akteure der Aufwertung, allerdings hielt sich diese Form des Widerstandes in Grenzen. Stattdessen fanden sogenannte Kiezspaziergänge statt, eine Stadtteilzeitung entstand, in der Intellektuelle für sich selber schrieben, die eine oder andere kurzfristige Besetzungsaktion schufen Öffentlichkeit, mehr aber auch nicht. Das vielleicht vielversprechendste Projekt im Versuch, den Verdrängungsprozess aufzuhalten, waren Mieterberatungen, die von linken Aktivisten organisiert und die regelmäßig gut besucht wurden von den Bewohner*innen des Viertels, die sich nun zunehmend mit Mieterhöhungen und Modernisierungen konfrontiert fanden. (1)

In einem wahren Moment von Weitsicht und Mut wurden nun doch tatsächlich die Mieterberatungen und Informationsveranstaltungen zum Thema Wohnen in einige der Eckkneipen verlegt wo sie durchschlagenden Erfolg hatten, vollgefüllte Säle erwarteten die Referenten und Mietberater, in Gesprächen mit den Alteingesessenen stellte sich heraus, dass diese teilweise unter sich schon Solidarstrukturen geschaffen hatten, von denen die Linken nur träumen konnten. Doch da das Leben kein Märchen ist und den Linken die realen Subjekte des Klassenkampfes schon immer suspekt waren (Haupt-und Nebenwidersprüche und sowieso die ganzen nicht so korrekten Verhaltens-und Redensweisen) zog man sich dann doch schleunigst wieder in seine identitäre Höhle zur Beratung unter und für sich zurück und der Moment, wo ein gemeinsamer Kampf am Horizont erschien, ward Geschichte.

Einige Jahre später, und nun kehren wir ins hier und jetzt und zur oben schon erwähnten linken Szenekneipe zurück, ist der Prozess der Gentrifizierung im Schillerkiez weit fortgeschritten und irreversibel. Und nun, wo schon so viele der alten Nachbarn gezwungen waren zu gehen, ereilt dieses Schicksal nun auch jenes Urgestein der linken Kneipenszene, das Syndikat. Und wenn man sonst die Anzahl der Teilnehmer*innen an Aktionen gegen Verdrängung im Viertel mit viel Glück im niedrigsten dreistelligen Bereich verorten konnte, sind nun hier und heute, an jenem ersten Abend im August sogar aus dem ganzen Bundesgebiet Menschen angereist um “Aus der Defensive zu kommen”.

Wobei dieses Anliegen eher taktisch-pragmatischer Natur zu sein scheint, haben doch die dazu veröffentlichten Texte nichts Neues zu der Erzählung von Aufwertung und Verdrängung beizutragen, bzw. weisen sie auch nicht wirklich einen Bezug auf jene wegweisende Texte auf, die vor einigen Jahren entstanden sind, die einiges an Resonanz, wenn auch leider nichts an Konsequenz zur Folge hatten. (2) (3) (4) Im Gegenteil, die aktuelle Erzählung von der Verteidigung von Freiräumen fällt hinter jegliche Diskussion der letzten 10 Jahre zurück.

Doch lassen wir uns nun dennoch zunächst auf das vorgegebene taktisch-pragmatische Vorgehen ein und erzählen aus dieser simplifizierenden Perspektive. Auch weil der Erzähler ein Herz für alles hat, was qualmt und knirscht und spittert.

Wenige Minuten nach der festgelegten Zeit nun, und das ist für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich pünktlich, weil hier jede unbedeutende Latschdemo mit wenigen hundert Leuten grundsätzlich erst nach einer Stunde nerviger Warterei losläuft ( Der 1. Mai in manchen Jahren sogar erst nach 2 h, soviel hatte die selbsternannte Avantgarde dem rebellischen Pöbel zu verklickern, dem die Gunst zuteil wurde, dem Riesenbummbumm Truck des Revolutionären 1. Mai Bündnis hinterher laufen zu dürfen), setzen sich nun die gut tausend Leute vom Herrfurthplatz aus in Bewegung.

Schnellen Schrittes und scheinbar frohen Mutes. Vorneweg ein black bloc, der auch auf dem zweiten Blick dem Anspruch des kritischen Betrachters gerecht zu werden scheint und nicht nur, wie leider so oft in Berlin, eine Mogelpackung oder ein Haufen von ein paar dutzend Leuten war, die im Ernstfall, vom Rest der Demo im Stich gelassen, von den Bullen verprügelt und/oder eingesackt wird. In Windeseile erreicht man die Herrmannstraße, so schnell können die Bullen gar nicht ihr Spalier aufziehen. Das JobCenter in der Mainzer bekommt was ab, die Bullen davor auch, die Demo immer noch geschlossen, vor der Demo werden hektisch Bulleneinheiten umgruppiert. Nach einem Schlenker geht die Demo zurück auf die Herrmannstraße. Nun wird ein Luxus Neubau ins Visier genommen, Farbe findet den Weg an die Fassade und die Berliner Bullen machen das was sie am besten können. Laut schreien und losrennen. Der Frontblock wankt, aber er fällt nicht, zerfällt in zwei Teile, aber die bleiben zusammen, passen untereinander auf. Der Rest der Berliner Schwarzgekleideten macht, was er am besten kann. Laut schreien und wegrennen. Der ehemalige Frontblock sich muss jetzt auch in Richtung Schillerkiez zurückziehen, sonst ist mensch nur noch mit den Bullen alleine. Ab und zu fliegen Steine und Flaschen, etwas Gerümpel landet auf den engen Straßen des Schillerkiezes, schön auch zu sehen, wie Berliner Greiftrupps von einer Handvoll Genoss*innen mit entsprechender Entschlossenheit in Schach gehalten werden kann. Ein kurzer Ausfall erneut auf die Hermannstraße, wieder gehen Scheiben zu Bruch, noch ein bisschen Krempel auf den Asphalt, dann ist sie vorbei, die Offensive. Das Raus aus der Defensive. Am Abend dann noch eine kleinere Aktion im Prenzlauer Berg. Dann Warten. (5)

Oh wie schön ist Panama

Die Bullen halten sich nicht an die Regeln. Empörung macht sich breit. Als wenn eine Räumung durch die Bullen eine Angelegenheit des Fair Plays darstellt. Natürlich besetzen die Bullen die Straßen rund um das Syndikat schon am Vorabend des angesagten Räumungstages. Womit das eigentlich der Friedensbewegung zugeschriebene Konzept der Sitzblockade im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist. Trotzdem finden sich in der Nacht vor der Räumung noch in der Spitze bis zu 2000 Menschen in den Straßen rund um das Syndikat ein. Stehen an den Absperrungen, stehen im Flutlicht der Bullen, stehen und holen sich irgendwann das erste Bier. Später noch ein bisschen Gerangel an der Herrmannstraße, ein paar Bierflaschen fliegen, die Bullen kassieren locker Leute ein. Am frühen Morgen eine symbolische brennende Barrikade, dann ist das Syndikat Geschichte. Am Nachmittag eine kurzfristige Demo die eigentlich eine Demo der Nachbar*innen sein soll und mit ein paar hundert Leute durch Neukölln zieht.

Dann ist Tag X 21:00. Seit Wochen angekündigt, bundesweit beworben. Fünf Stunden vorher wird der Treffpunkt bekannt gegeben. Am Abend dann vielleicht um die 800 Leute am Richardplatz in Neukölln. Es wird dunkel, der Frontblock läuft los, dreht nach 30 m an der ersten Bullensperren um, kommt 50 m in die nächste Querstraße, trifft auf die nächste Bullenkette. 20 Bullen. Reicht für Berlin. Die Demo steht. Durch die Demo durch stoßen die nächsten Bullen Richtung Frontblock, keiner versucht sie aufzuhalten, jetzt sind 200 Leute von beiden Seiten gekesselt. Es folgen zwei Durchbruchsversuche, beide erfolgreich, über die Hälfte des Frontblocks entkommt dem Kessel. Steht aber im nächsten Kessel. Denn mittlerweile ist praktisch die gesamte Demo in den enge Gassen rund um den Richardplatz gekesselt. Das bleibt auch solange so, bis die Bullen einen auf generös machen, und den Abzug in kleinen Gruppen gestatten. Nach zwei Stunden ist alles vorbei. Die Nacht bleibt ruhig in Berlin. Wahrscheinlich alle am Bier holen. (6)

Nach der Niederlage ist vor der Niederlage – Oder in Berlin: In der Offensive bleiben

Die Berliner Szene gilt jeher als großmäulig und unbeirrbar. Das war schon in den 80igern so. Unvergessen zum Beispiel der unabgesprochene Angriff auf die Bullen in Kleve, der dazu führten, dass der gesamte Konvoi nach Brokdorf (1986) aufgeraucht wurde. (7) Nun konnte mensch den Berliner*innen in früheren Jahren zugute halten, dass hier nicht nur das Herz auf der Zunge getragen wird, sondern hinter den markigen Sprüchen auch eine gewisse Substanz steckte. Diesen Standortvorteil muß mensch nun aber der Berliner Szene aberkennen. Zeugnis davon wurde in den letzten Jahren wirklich zur Genüge abgelegt, unvergessen die aberdutzenden von Aufzügen von Faschisten, die ungehindert durch die Berliner Innenstadt marschieren konnten, schon lange, bevor sie wie die Fische im Wasser in der Corona Querfront mitschwimmen durften.

Das Syndikat also nun Geschichte, das alte Drugstore sowieso, jetzt also das Räumungsurteil für die Liebig 34. Am letzten Samstag, also noch vor diesem Urteil war erneut zu einer “kämpferischen Demo für die bedrohten Projekte” nach Kreuzberg mobilisiert worden. Standesgemäß mit einem Video mit Ausschnitten aus den dreitägigen Straßenschlachten rund um die besetzten Häuser in der Mainzerstraße. Darunter macht es mensch nicht in Berlin. Und da wir Corona Zeiten haben, kann mensch auch auf jeder Demo komplett vermummt herumlaufen, sich dabei großartig fühlen und bekommt nicht, wie sonst üblich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dafür von den Bullen was auf die Fresse.

Es sollte also “pünktlich und geschlossen” losgehen, mensch sollte “vorbereitet und in Gruppen” am Samstagabend am Wassertorplatz in Kreuzberg erscheinen. Dort erwarteten dann einem aber erstmal jede Menge Bullen, zu meiner Überraschung ein Lautsprecherwagen und dann doch fast eine halbe Stunde Wartezeit. Irgendwann ging es dann los, wie in Berlin üblich mit Pyroshoweinlagen, bevorzugt von Hausdächern und aus Hausprojekten, die Bullen schauten sich das alles an und zogen nach und nach ihr Spalier auf, bis die gesamte Demo als Gefangenentransport ihre Runde durch Kreuzberg drehte, sich dabei brandgefährlich vorkam um am Ende im Kessel von Bullen Gnaden in der Köpenicker sich selber auflöste. Die Bullen hatten ein Einsehen und gewährten freien Abzug in kleinen Gruppen und die Szene feierte sich anschließend in den sozialen Netzwerken selber als wäre Connewitz jetzt ein Stadtteil von Berlin.

Freedom just another world for nothing left to lose

Verlassen nun wir nun aber langsam das vorgegebene Terrain der taktisch-pragmatischen Ausrichtung, denn hier ist einfach kein Blumentopf zu gewinnen. Wer immer noch nicht begriffen hat, welche Machtverhältnisse auf den Berliner Straßen seit Jahren herrschen, oder dies einfach nicht wahrhaben will, dem ist einfach nicht mehr in seiner oder ihrer Borniertheit beizukommen. Die vorsichtig selbstkritische Bilanzierung der Demo am 1.8 und der Tag X 21:00 Geschichte wird tagtäglich übertönt, so lässt sich nicht wirklich neu aufbauen, so wird man keine auswärtigen Genoss*innen nach Berlin mobilisiert bekommen. Wenn alles, was mensch einzubringen hat, Verbalradikalismus à la “In der Offensive bleiben” und der Mythos vergangener Kämpfe in dieser Stadt ist, besteht wenig Hoffnung.

Wenden wir uns deshalb den wirklichen Notwendigkeiten zu. Der realen Situation in dieser Stadt, die aus allen Wunden blutet, dem ganzen Abgefuckten, dem allgegenwärtigen Schmerz, der in der Hybris des Pandemie Ausnahmezustandes aufscheint, den trostlosen Gesichtern hinter den Masken in den Bahnen und Bussen. Begreifen wir, das #staythefhome eine Falle war, dass es dem System nie um die Schwachen und Kranken gegangen ist, dass das Narrativ des Unvermeidlichkeit des Ausnahmezustand auf der einen Seite von der Unfähigkeit der politische Klasse zeugt, mit dieser Situation umgehen zu können und auf der anderen Seite ein Generalmanöver ist in dem sich die Macht für die kommenden sozialen Verwerfungen angesichts der weltweiten Krisen wappnet. Es wird keine Stadt von unten geben, keine solidarischen Nachbarschaften und wenn, dann braucht es dafür als letztes die selbstbezogene Berliner Szene. Es gilt zu bilanzieren, sich schmerzhaft den eigenen historischen Niederlagen zu stellen und zu versuchen, sich ein reales Bild von den Gegenwärtigkeiten zu verschaffen. Die Zeit der Halbherzigkeiten ist vorbei. Es nutzt nichts, darauf hinzuweisen, dass mensch es nicht geschafft habe, ein eigenes Narrativ in der Pandemie zu erarbeiten, um dann zu Geschichten wie “Wer hat der gibt” zu mobilisieren. (8)

Die Räumung der Liebig 14 vor neun Jahren war tagelang DAS Stadtgespräch. Das hatte nicht nur mit dem Level der damaligen Militanz zu tun, die Übrigens überwiegend eine dezentrale war, sondern auch damit, dass sich viele auch außerhalb der Szene in diesem Konflikt wiedergefunden haben, ihn als eine Auseinandersetzung in der “Umkämpften Stadt”, als eine im Kern soziale Auseinandersetzung und nicht als eine identitäre begriffen haben. Das dieser Kampf um die Liebig 14 eingebettet schien in die damaligen Auseinandersetzungen um Miete und Wohnraum. Dies ist heute nicht mehr der Fall, davon zeugt auch die zahlenmäßig überschaubare Beteiligung an den zahlreichen demonstrativen Aktionen zur Verteidigung der bedrohten Szeneprojekte. In einer Stadt wie Berlin, in der innerhalb weniger Stunden 10.000 Menschen zu spontanen Demos zu mobilisieren sind, sind die Größenordnungen der letzten Monate bei den “Interkiezionalen” Demos ein bedenkliches Zeichen. Die Frage ist, ob und wann denn endlich über all das diskutiert werden soll und darf. Oder ob mensch weiter sich in der Szeneblase selbst über die eigene gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit hinweg leugnen will.

Fußnoten:

  1. Eine sehr umfangreiche Sammlung zu Umstrukturierung und Widerstand im Schillerkiez bei NK 44 http://nk44.blogsport.de/informationen/
  2. “Sozialrevolutionäres Stadtentwicklungsprogramm” Berlin 2010 http://urbanconflicts.blogsport.de/texte/stadtentwicklungsprogramm/
  3. “Rauschen”- Beiträge zur ”Umkämpften Stadt” Berlin 2011 http://lesci.blogsport.eu/files/2012/08/LesCI_Circular_No1_Web.pdf
  4. “Die Eigentumsfrage stellen – Stadt Übernehmen” – Strategiepapier aus anarchistischer Sicht Berlin 2013 http://urbanconflicts.blogsport.de/texte/die-eigentumsfrage-stellen-stadt-uebernehmen/
  5. Auswertungspapier zum 1.8.20 https://interkiezionale.noblogs.org/post/2020/08/17/01-08-2020-raus-aus-der-defensive-demo-taktische-auswertung/
  6. Auswertungstext zur 21:00 Mobilisierung Tag X https://interkiezionale.noblogs.org/post/2020/09/01/auswertung-der-syndikat-tag-x-sponti/
  7. Eine sehr ausführliche Dokumentation zu Brokdorf, Kleve 1986 https://www.nadir.org/nadir/initiativ/sanis/archiv/brokdorf/kap_00.htm
  8. “Die fetten Jahre sind vorbei” Positionspapier aus Berlin https://de.indymedia.org/node/102413

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 21. September 2020 auf Sunzi Bingfa

stuttgart zwanzigsiebenundsiebzig – fragmente

grüß ihn von uns. aber verdeckt. und sage ihm noch etwas: die mystifizierung des kollektivs hat zu ihrer voraussetzung die resignation gegenüber der klasse.

christian geissler – kamalatta

über stuttgart gibt es im allgemeinen nicht viel zu berichten. die größte gesellschaftliche aufregung der letzten jahrzehnte waren die pläne zur errichtung eines neuen bahnhofes was zehntausende von braven oder weniger braven schwaben in der stadt, aber auch überall in der diaspora auf die straße trieb und dann in einem finalen showdown im schlosspark endete, wo sich wasserwerfer und kastanien werfende wutbürger eine surreale schlacht lieferten.

nun erscheint es aber, als wenn sich ausgerechnet in diesem talkessel zwei historische linien auf eine ganz merkwürdige art und weise begegnen würden. für eine ganze generation von militanten in europa, ja vielleicht sogar für mehr als nur eine generation, war stuttgart nur in einer doppelnennung bekannt und kenntlich. stuttgart stammheim. der ort an dem den historischen gründern der raf der prozeß gemacht wurde, wo sie eingesperrt und isoliert wurden, wo sie siebenundsiebzig “zu tode kamen”. „stuttgart zwanzigsiebenundsiebzig – fragmente“ weiterlesen

Pandemie Kriegstagebücher – First of May Edition (1.Mai 2020 Berlin)

 „Das Desaster ist ja, dass es wirklich absolut keine Linke gibt….Da ist nur Leere… Da ist nichts, überhaupt nichts mehr.“ 

Nanni Balestrini

Fangen wir damit an, was als einziges überhaupt noch Sinn macht, weil alles jenseits davon, all die verpufften Affekte, all die ohnmächtige Wut, Trauer, all die überbordende Angst sich wie in einer Versuchsanordnung in der völligen Agonie der Isolation und Vereinzelung auflösen, als hätte es sie nicht gegeben. Fangen wir also mit der Hoffnung an, von der es an anderer Stelle heißt, ein Mensch könne einen Monat ohne Essen, eine Woche ohne Trinken, aber keine vier Sekunden ohne sie überleben. Reden wir also von der Hoffnung. 

Reden wir davon, wie sich die trostlosen Straßen Kreuzbergs wieder gefüllt haben, reden wir davon in all die Gesichter zu schauen, in die das Leben zurückgekehrt schien. Reden wir davon, wir wir unser Lächeln wiederfanden, wenn wir alten Genossinnen und Genossen wieder begegneten, reden wir von unserem Zögern, uns wirklich zu umarmen, reden wir von dem Schmerz, den wir verspürten, wenn wir unsere instinktiven Bewegungen aufeinander zu unter Kontrolle brachten und verlegen halbherzig, ja geradezu tollpatschig ungelenke Bewegungen vollzogen. Reden wir von unserer Scham, den Menschen, mit dem wir so viele Gefahren geteilt haben, der uns in vielen Momenten Bruder, Schwester geworden war, nicht von vollem Herzen zu umarmen.  „Pandemie Kriegstagebücher – First of May Edition (1.Mai 2020 Berlin)“ weiterlesen

Birth, School, Work, Covid, Death

Lotzer/ Agamben

Part 1 (Lotzer) 

Been turned around till I’m upside down

Been all at sea until I’ve drowned

And I’ve felt torture, I’ve felt pain

Just like that film with Michael Caine

The Godfathers 

Die Grippe ist gefährlicher, Robert-Koch-Institut relativiert Gefahr durch Coronavirus. (27.01.2020). Niemand hat vor eine Ausgangssperre zu verhängen, es handelt sich um fake news, das Bundesministerium für Gesundheit (14.03.2020). Deutschland plant derzeit keine Maskenpflicht, Bundesgesundheitsminister Spahn (31.03.2020). 

Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!

Es spielt gar keine Rolle mehr, wie dick die Lügen sind, die aufgetischt werden, wie unverhohlen manipuliert wird. Die Massen im Panikmodus, die Linke vorneweg. Tote, Tote, überall Tote. 

“Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.“ … „Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“ (Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen – Strategiepapier des Bundesinnenministeriums)

Das Robert Koch Institut stellte heute eine App vor, die den Schlaf in Bezug auf Unruhe und Körpertemperatur messen und direkt an die staatlichen Gesundheitsbehörden übermitteln soll. Es geht kein Aufschrei durch das Land, alle Medien (von wenigen Ausnahme abgesehen, und die heissen nicht taz oder ND) sind in einer Art und Weise gleichgeschaltet, die dieses Land seit der Entführung eines Arbeitgeberpräsidenten und früheren SS Hauptsturmführers nicht mehr erlebt hatte.  „Birth, School, Work, Covid, Death“ weiterlesen

Ein überfälliger Ausbruchsversuch 

Lotzer/ Anonym

Part 1 (Sebastian Lotzer)

Der Wahnsinn hat die Welt in Besitz genommen. Nun könnte man einwenden, dies sei keine Angelegenheit der Postmoderne, vielleicht erlebe man auch nur die Wiederkehr des Lykurgos, der für seine Untaten wahlweise dem Wahn verfiel und seinen eigenen Sohn und all seine Familie, ja seine ganzen Freundeskreis umbrachte, um sich dann selber zu richten, oder, da gehen die Überlieferungen auseinander, anschließend von den empörten Menschen gefangen genommen und dann gevierteilt worden sei. So oder der so, der Wahn greift um sich, greift nach den dir Nächsten, nach denen, an denen noch gestern dein Herz hing oder in die du Hoffnung gesetzt hast. 

Neu und evident an dem Wahn, der nun durch die Welt eilt, ist die Geschwindigkeit, mit der er durch die Welt eilt, dabei alle Grenzen überwindend und dabei das Virus, dass ihn in die Welt gesetzt (oder das ihn wieder an die Oberfläche gebracht hat, die Meinungen gehen da auseinander) überflügelnd. Man könnte, nein muss sagen, dass die wirkliche Pandemie der Wahn ist, der von den Menschen Besitz ergriffen hat. Die dünne Tünche der Zivilisation bricht innerhalb weniger Tage zusammen, Direktive und Narrative, die scheinbar Diktatoren und Despoten vorbehalten waren, machen sich in den sogenannten westlichen Demokratien breit. Selektion von Kranken, Überwachung aller Bewegungen unter freiem Himmel, Drohnen stehen über den großen Städten, Lautsprecherwagen fahren durch die menschenleeren Straßen, fordern die Bewohner auf in den Häusern zu bleiben. Wer sich an die frische Luft wagt, soweit das überhaupt noch gestattet ist, blickt in panische Augenpartien, notdürftig verhüllte Gesichter, alle gehen gebückt und gehetzt. Wer jetzt noch aufrecht steht, dem werden sie das auch noch austreiben. 

An die frische Luft soll der Mensch ja aber auch noch zum Beispiel in Berlin, in die Arbeit natürlich, aber auch um sich ein wenig zu ertüchtigen oder ein paar Runden im Kreis zu drehen. Genau die Privilegien, die einem in den Knast Geworfenen auch noch verbleiben. Und so dreht man zu zweit seine Runden durch den Knasthof und vergeht vor Rührung, wenn der Senat verkündet, er wolle nicht so sein, man könne sich ruhig in Zukunft ein bisschen auf die Banke setzen. Und alles klatscht und applaudiert dem Großmut der Lenker des Staates und wenn der demnächst sagt, alle sollen jetzt mit einer Maske vor dem Gesicht zum Knastgang erscheinen, die wissenschaftlichen Hypothesen über die Wirksamkeit solcher Maßnahmen hätten sich über Nacht um 180 Grad gedreht (man kennt das ja in der Wissenschaft, eben war die Welt noch eine Scheibe und man hat alle geviertelt, die was anders behauptet haben, aber schwups, sieht die Sache ganz anders aus), dann wird da auch gemacht. Punkt. Und wenn der Staat zu blöde ist, genug von diesen Pfennig Artikeln zu beschaffen oder sich die von den Amis wegschnappen lässt, dann wird halt Zuhause gebastelt was das Zeug hält, vorneweg die Linken, die natürlich ganz vorne dabei waren mit ihren DIY Anleitungen. Kommt ja so oder so aufs selbe raus. Ob man die Dinger nun im Hausarrest selber macht oder eben von den Knackis in den echten, alten Knästen produzieren lässt. „Ein überfälliger Ausbruchsversuch “ weiterlesen

Covid 19 – Aufstand oder Barbarei

Lotzer / Wu Ming

Part 1 (Lotzer) 

Nein sie sind nicht einfach Zuhause geblieben. Haben die Hände in den Schoss gelegt und ängstlich in sich hinein gehorcht. Weil sie sich das einfach nicht leisten konnten. Weil ihre Kinder was zu essen brauchen. Also haben sie sich an die gute alte Zeit erinnern, als sie dem Staat und den Fabrikherren, den Gutsherren ganz schön zugesetzt haben. Die wilden Jahren, “als wir alle Kommunisten waren”, wie der Nanni Balestrini geschrieben hat. Also ab in den Supermarkt und den Einkaufswagen vollgepackt und an der Kasse ein Schulterzucken “Bezahlt wird nicht”. Die Proleten aus dem Süden, auf die man immer ein bisschen hochnäsig herunter geschaut hat. Schon damals. 

Am nächsten Tag standen in Palermo Bullenwagen vor den Supermärkten. Aber das ist ja auch keine Lösung, es gibt einfach zuviele Supermärkte. Und wer weiß, was denen noch einfällt, diesen halben Bauern, auch wenn sie schon seit Generationen in den Städten leben. Also hat Conte mal eben fast 5 Milliarden locker gemacht für den Süden, die sollen über die Gemeinden an die prekär Beschäftigten ausgezahlt werden, weil die sind von dem einen zum anderen Tag nur noch prekär und nicht mehr beschäftigt. Wahrscheinlich wäre er nie selber auf die Idee gekommen, wenn ihm seine Geheimdienste nicht gesteckt hätten, sie würden mit schweren Unruhen im Süden rechnen. Und das mit dem proletarisch einkaufen hat denn ja auch gleich auf andere Städte des Südens übergriffen, in Bari und Napoli haben sie das Zeug auch einfach so raus geschleppt. Übrigens ganz ohne linke Agitatoren. 

Während hierzulande die radikale Linke wahlweise in Schockstarre gefallen ist oder sich auf appellative oder symbolische Handlungen reduziert, entfaltet sich im Windschatten der Corona Pandemie ein sozialer Taifun, dessen Auswirkungen die eigentlichen Folgen der Pandemie noch in den Schatten stellen könnten. Während Teile des weltweiten Staatsapparates des Empires Schritt für Schritt den Übergang in einen faschistischen Krisenmodus vollziehen, wobei nicht ausgemacht ist, ob dieser temporärer oder grundsätzlicher Art sein wird, werden innerhalb kürzester Zeit hunderten von Millionen Menschen jegliche Grundlagen entzogen die Mittel zur Existenzsicherung durch eigene Arbeit zu bestreiten.  „Covid 19 – Aufstand oder Barbarei“ weiterlesen

Der aufkommende Pandemie Faschismus – Splitter der Dissonanz

“Liewer düd aß Slaawe”

Pandemie Magie

In jedem Berliner Park eine Wanne. Die Besatzungen beäugen misstrauisch jede Aktivität Derjenigen, die sich in die Frühlingssonne gewagt haben. Drei Fußball spielende Kinder sind ein Grund einzuschreiten. Wir haben schon vor Jahren gelernt, ab Drei ist man eine terroristische Vereinigung. Nun also auch die Kinder. Völlig willkürliche Größenordnungen werden verkündet und durchgesetzt. Wir erinnern uns, noch vor ein paar Wochen versammelten sich Zehntausende in den Fußballstadien, da waren schon Tausende in China an dem Virus gestorben, der jetzt als Begründung für jegliche Absurdität des Pandemie Ausnahmezustandes herhalten muss. Drei Kinder sind eine Gefahr, fünfzig Menschen in einen S Bahn Waggon auf dem Weg zu gesellschaftlich unsinniger Arbeit sind kein Problem.  

Überhaupt, diese Magie der Zahlen, wie von Zauberhand verändern sich fast täglich die Bezugsgrößen. Zuerst wurden alle Versammlungen über 1000 Menschen verboten, dann alle über 100. Und natürlich betraf dies auch alle Demonstrationen. Dabei hätte man sich die Mühe sparen könne, eine in Ohnmacht und Unterwerfung geübte deutsche Linke sagte schon von sich alle Zusammenkünfte, selbst die der harmlosesten Natur ab. Und der kleine Rest, der abweichend davon sich nicht unterwerfen will, dem schickt man dann in Berlin eben die neue Präsenzeinheit in den ‘Nordkiez’ auf den Hals. Aber kommen wir zu der Magie der Zahlen zurück. Kommen wir überhaupt zu der gesamten Magie zurück, die die politische Klasse tagtäglich zu unserer Unterhaltung aus dem Hut zaubert. So als habe sie jahrelang nur für diese Momente der Magie geübt und gelebt. (Spoiler: Sie hat es. Seit Jahrzehnten finden Notstandsübungen unter wechselnden Szenarien statt.) „Der aufkommende Pandemie Faschismus – Splitter der Dissonanz“ weiterlesen

Die Waffe der Kritik kann nicht die Kritik der Waffen ersetzen

“das in dem milieu, in dem wir kämpfen – postfaschistischer staat, kosumentenkultur. metropolenchauvinismus, massenmanipulation durch die medien, psychologische kriegsführung, sozialdemokratie – dass gegen die repression, mit der wir es hier zu tun haben, empörung keine waffe ist. sie ist stumpf und hohl. wer wirklich empört, also betroffen und mobilisiert ist, schreit nicht, sondern überlegt sich, was man machen kann”

kassiber von ulrike meinhof, märz 1976

Warum schreibt der Mensch, wenn er sich ohnmächtig fühlt? Schreibt Briefe an ferne Freunde oder betrunken Liebesgedichte an verlorene Lieben, schreibt nächtelang Pamphlete gegen die allgegenwärtige Barbarei. Vielleicht weil die Ohnmacht der schlimmste aller schmerzhaften Zustände ist. Weil sich das Bewusstsein nicht damit abfinden kann, das es keine Handlungsoptionen gibt.

Einige Zeit, nachdem ich “Begrabt mein Herz am Heinrichplatz” veröffentlicht hatte, merkte ich, das etwas fehlte. Das da ein alter Schmerz, eine vertraute Melancholie in mir war, dass es noch etwas zu erzählen, zu erinnern gab.

Es war ein Bild, eine Erinnerung, die mich nicht losließ. Ein junger Mann auf den Gleisen eines Bahnhofes irgendwo in der ehemaligen DDR. Der Lockenkopf merkwürdig verrenkt auf den kahlen, nackten Schienen. Liquidiert von den Sondereinheiten des Bundesgrenzschutzes. Eine unendlich scheinende Fahrt ins hessische Wiesbaden, schweigend, wütend. traurig. Eine samstägliche Demonstration in einer völlig ausgestorbenen Innenstadt.

Es ist verrückt, dass man sich in manchen Stunden den Toten umso vieles näher fühlt als all den Lebenden um sich herum. Vielleicht weil sie etwas von einem selber mit sich genommen haben, weil es da ganz tief drin in einem eine Sehnsucht gibt, nicht nur Zuschauer oder Randfigur der Geschichte zu sein, sondern wieder mit ganzen Herzen selber, in aller Bescheidenheit und Demut, ein bisschen Geschichte schreiben zu können.

Wenn man mit den Menschen redet, also mit den Menschen, mit denen man sich nicht ständig aus Gewohnheit umgibt, sondern z.B. mit jenen, die man in einer beliebigen Kneipe bei einem Bier kennen lernt, wird man feststellen, dass es immer noch, nach all den Jahrzehnten, eine unglaubliche Faszination und liebevolle Bewunderung für jene gibt, die hier vor nun mittlerweile über 50 Jahren die revolutionäre Frage, die im Kern immer die Frage nach der Macht, also auch, wenn man ehrlich ist, die Frage nach der bewaffneten Macht, oder besser Gegenmacht, auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Man wird auf soviel Neugier treffen und auf die stille Hoffnung, dass sich eines Tages wieder Menschen finden werden, die bereit sein werden, alles, auch ihr eigenes Leben, in die Waagschale zu werfen. Und wenn wir alle ganz ehrlich mit uns selber sind, werden wir etwas davon auch in uns selber wiederfinden.

Wie auch immer, vor einem knappen Jahr ist nun “Die schönste Jugend ist gefangen” erschienen. Der Versuch einer Annäherung, einer Hommage an die “Bewaffneten Freunde”, wie sie Raul Zelik in einem anderen Zusammenhang genannt hat. Vielleicht ist daraus mehr geworden, vielleicht auch weniger. Das mögen andere entscheiden. Nachdem mich einige Leute darum gebeten haben, dem besseren Verständnis wegen eine Sammlung von Quellen zu erstellen, bin ich dieser Bitte nachgekommen. Aus verschiedensten Gründen hat sich das ganze etwas in die Länge gezogen, aber nun ist die Website zum Buch online gegangen.

Über 100 Texte, Erklärungen, Zeitungsartikeln, Büchern und Filme zur Geschichte des Bewaffneten Kampfes, der antiimperialistischen Front, aber auch zum Aufstand in Syrien und dem Elend in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Den Kapiteln des Buches entsprechend und der Natur nach unvollständig, obwohl ich erstaunt war, wie viel doch den Weg in die digitale Welt gefunden hat. Ich möchte betonen, dass mir jegliches kommerzielles Interesse fern ist, wenn ich in der investierten Zeit Toiletten geputzt hätte, was ich eine sehr ehrenhafte und ehrliche Art finde, sein Geld zu verdienen, wäre ich heute wohl fast das, was man einen gemachten Mann nennt.

Die website zum Buch “Die schönste Jugend ist gefangen” findet Ihr unter bahoebooks.net/jugend

Sebastian Lotzer

Erstveröffentlichung am 25. März 2020 auf Autonomie Magazin 

 

Danach

Part 1 Lotzer / Part 2 Anonym

Part 1 (Lotzer) 

Wir werden das schaffen. Wir bleiben Zuhause. Wir alle müssen Verantwortung übernehmen. Das Wir hat dieser Tage, in den Zeiten eines grassierenden Pandemie Totalitarismus Konjunktion. Ein Großteil der Linken sublimiert sich unter diesem Wir. 

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Man erinnert sich, die Zustimmung der SPD 1914 zu den Kriegskrediten bei nur 2 (!) Enthaltungen in erster Lesung im Reichstag. Die Zeit des “Burgfrieden” in Deutschland im ersten imperialistischen Weltkrieg. Alle Gewerkschaften, auch die sozialdemokratischen, setzten jegliche Form der Unterstützung der Kämpfe der werktätigen Klasse aus. In Frankreich nannte sich der Burgfrieden “Union sacrée”. Jetzt also soll wieder Burgfrieden herrschen. Jetzt geht es nicht mehr um die Rettung der Natur, gibt es keinen friday for future mehr, sondern nur noch ein diffuses Wir. Das es zu retten gilt. Koste es, was es wolle. Und sei es ein Leben auf dem Todesstern. 

Wir befinden uns im Krieg. Tönt es von Frankreich bis in die USA. Im Krieg gibt es unschuldige Opfer, Kollateralschäden werden sie neudeutsch genannt. Die Depressiven, die jetzt isoliert, auf dem Balkon stehen und nicht wissen, ob sie noch eine rauchen oder springen sollen. Die Obdachlosen, die man zu hunderten in Unterkünften zusammenpfercht, bei Verdachtsfällen gegen ihren Willen. Auf unbestimmte Zeit.  „Danach“ weiterlesen

Bologna in Zeiten des Corona Virus – Das Wu Ming-Tagebuch

Part 1 Lotzer / Part 2 Wu Ming 

Part 1 (Lotzer)

Schon länger spüre ich in mir das Bedürfnis nach einem gesunden Abstand (was für ein Euphemismus dieser Tage) zu dem Großteil dessen, was sich in diesem Lande die radikale Linke nennt. Und überfiel mich nach Chemnitz, nach Halle, nach Hanau tiefe Scham, wenn ich jene Pflichtübungen besuchte, die sich frei von Hass und ehrlicher Trauer durch die “Szenebezirke” hindurchschlängelten, nichts hinterlassend als eine kurze Meldung in den Regionalnachrichten, so stellte ich am Abend des 19. Februar das erste Mal fest, dass die ganze Angelegenheit mich zu ekeln begann. 

Zehn Menschen waren nur wenige Stunden zuvor von einem Faschisten niedergemetzelt worden und ich war nach der Arbeit nach Neukölln geeilt. So stand ich da am Rande und ließ die Demonstration an mir vorbeiziehen, auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Ich sah in diese Gesichter, unter den es auch ehrliche gab, dies gilt es zu benennen, der Gerechtigkeit wegen, und um nicht endgültig dem Wahnsinn zu verfallen, aber ich sah auch so viele mit einem Lächeln im Gesicht Freunde und politische Gefährten grüssen, umarmen, in einen spontanen smalltalk verfallend, dass mir geradezu körperlich übel wurde. Kurz darauf traf ich einen alten Genossen, der eigentlich um einiges jünger ist als ich, aber in meinem Alter hat man schnell alte Genossen. Wir schauten uns nur kurz an und wechselten wenige Worte. Wozu auch. Es war alles so offensichtlich.  „Bologna in Zeiten des Corona Virus – Das Wu Ming-Tagebuch“ weiterlesen